Zwischen Rummelplatz und Aufzuhebendem

Mein vorgestriger Verweis auf, meine Selbstgemahnung daran, nicht nur die Beine in den Bach zu hängen, sondern auch ein wenig im Im Irrgarten der Kunstkritik von Marie Louise Syring beziehungsweise in den Considérations sur l'état des beaux-arts. Critique de la modernité von Jean Clair zu flanieren, treibt mich dazu, diesen völlig in Vergessenheit geratenen, in einen Aufsatz umgewandelten einstigen Vortrag hier einzustellen, da ich als Sprecher der wackligen Tieffluglinie moutard air weiterhin beabsichtige, meinen Senf zu dem Bändchen 22 der seit 1993 bestehenden Schriften zur Kunstkritik beizugeben. Diejenigen, die heutzutage der neuen Kunst huldigen, die sie umtanzen wie das hier zuletzt mehrfach erwähnte goldene Kalb, wird es weniger interessieren. Wer hingegen der Meinung ist, Geschichte sei kein Urknall oder auch nicht, wie die Beharrlicheren des eigentlich bewahrenden, also von vielen, wenn nicht gar von den meisten schlichtweg falsch verstandenen konservativen Denkens meinen oder vielleicht besser glauben, die Erde sei in wenigen tausend Jahren aus der kreativen Hand Gottes hervorgegangen, dem könnte es bei seiner Sehnsucht nach Differenz in der Sparte Kunst und Markt behilflich sein. Ein ziemlich alter Hut ist es dem sich ausschließlich aus dem Höchstaktuellen Nährenden zwar, aber ich bügele nunmal ganz gerne geknickte Zylinder auf, um sie in den Salons der aktuellen Plauderei als das Neueste umschmeichelnd auszustellen. Nach den ersten Einblicken in Marie Louise Syrings Rückblick in die französischen Neunziger, vor allem aber hineinschauend in die Backfabriken heutiger Kunstproduktion scheint mir dieses Selbstgedachte gar nicht mehr so altbacken. Ich lüfte damit zudem auch langsam ein kleines Geheimnis, aber die Karenz- oder auch Schonzeit, für wen auch immer, geht ohnehin ihrem Ende entgegen.

Die Kunst zwischen Markt und Museum

Drei Begriffe seien hier angesprochen, genauer: einer, der zwar nie unumstritten, aber immer doch in irgendeiner Form ge-, zumindest beachtet war und der zusehends droht, aufgerieben zu werden zwischen den beiden anderen: Kunstkritik zwischen Markt und Museum. Angesichts der Hilflosigkeit, die sich allenthalben in unserem Medienpluralismus (oder auch: innerhalb unseres populistischen Geraunes) breit macht, ließe sich auch sagen: Die Kunstkritik läuft immer mehr Gefahr, sich von sich selbst zu entfernen, sich mit ‹dem Bauch zu äußern›; anders gesagt, sich seiner ureigenen etymologischen Bedeutung zu entledigen: der Beurteilung. Die Kunstkritik beurteilt immer weniger und ergeht sich immer häufiger in mehr oder minder wohlmeinender Beschreibung unter Zuhilfenahme von sprachlichen Allgemeinplätzen, oft in — für Leser oder Hörer — qualvollen quasiphilosophischen Umschreibungen. Allzu häufig scheint ein ‹Ariadne-Faden› aus Gummi zu sein, zieht er sich doch schier endlos durch das ‹Labyrinthische› eines Kunstwerkes, dessen Urheber darob die Luft auszugehen droht; und leider allzu oft kreist die Journalistenpoesie und gebiert ein Lüftlein.

Positionen werden in der Kunstkritik nur noch selten bezogen, Stellungnahmen (und seien sie persönlicher, extrem subjektiver Natur) kaum mehr geäußert. Die Aufgabe der Kunstkritik, nämlich die, das Kunstwerk in dessen Kontext zu erfassen, zu beurteilen und gegebenenfalls vermittelnd erläuternde Informationen zu einer Hörer- oder Leserschaft zu transportieren, scheint einem Phänomen geopfert zu werden.

Es ist ein Phänomen, in dem — es ist mir wichtig, gerade in der Zeit der Versuche, jedweden Ansatz marxistischer Theorie in den Orkus der Moderne stoßen zu wollen, diesen Namen (gegebenenfalls stellvertretend) zu nennen — Marcuses Bewertung der bürgerlichen Kultur in exorbitanter Weise verifiziert zu werden scheint: nämlich als eine affirmative, die Lebenswelt ästhetisierende. Die Rezeption der Kunst schlägt quer durch weite Teile der gesellschaftlichen Mittelschicht bisweilen abenteuerliche Kapriolen in ihren ästhetizistischen Äußerungen, die das Kunstwerk aus seinem Umfeld, aus seiner Ursache herauslösen und daraus eine anbetungswürdige Reliquie machen, obwohl sie, die Bewunderer — vor dem zuständigen Beamten oder am Hummer-Stammtisch — der Religion längst abgeschworen haben. — Es sei denn, man stimmt dem zu, was die, vielleicht gar nicht so böswilligen, Auguren als antiaufklärerisches Schreckensbild gemalt hatten: daß die Künste, insbesondere die bildende Kunst in ihrer partiellen Eigenschaft als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben werden.

Natürlich haben Der Makler und der Bohemien, um eine der bekannt ironischen Formulierungen von Hans Platschek zu gebrauchen, ein gerüttelt' Maß dazu beigetragen. (Wer hier mit Makler und wer mit Bohémien gemeint ist, brauche ich wohl kaum näher zu erläutern; auch nicht das geflügelte Wort von der Ausnahme, die die Regel bestätigt.) Und bei der Zuteilung der Rollen Huhn oder Ei oder Ei oder Huhn beziehungsweise wer oder was denn nun zuerst da gewesen sei, erübrigt sich im Zusammenhang mit den Folgen für die Kunst möglicherweise gar die Frage danach.

Zurück zur Kunstkritik, zurück zu meiner Kritik — durchaus Selbstkritik — an ihr. Um die Problematik ‹Kunstkritik zwischen Markt und Museum›, die mit der Verengung sachlicher und fachlicher Auseinandersetzung einhergeht, deutlicher machen zu können, will ich Beispiele nennen. Es sollen Beispiele primär aus der sogenannten alten Kunst sein, da die Lager der Vermittlungssysteme hierbei nicht minder ausgeschlagen sind und die Kunst ja immer nur in ihrem historischen Kontext zu sehen und zu erfassen ist. Denn immerfort ist der ‹zeitgenössische› Bürger mit seiner, lassen sie mich's mal flapsig sagen: Halb- oder Viertelbildung (vielleicht gerade deshalb?!) aufgefordert, ‹ästhetisch› zu genießen — wie überhaupt der Begriff Ästhetik ständig falsch, nämlich in bezug auf das Äußere, auf das Formale verwandt wird.

Ich erinnere mich an Äußerungen aus dem Jahr 1982, die sich auf die Ausstellung Von Greco bis Goya bezogen und die stellvertretend für andere stehen, eben auch die zeitgenössische Kunst. Sie ward angepriesen als «das Schönste und Erlesenste an höfischer Porträtmalerei», als «höfische Bildnisse mit moralischer Dimension», die «durchgeistigten Gesichter einer alten Rasse, die Großes verursacht, Schweres getragen und nun müde geworden war». Auch Genre-Gemälde gab es damals im Münchner Haus der Kunst zu sehen, verzückt beschrieben als «ördinäre Trink- und Freßgelage». Wo war 1982 und wo ist heute, angesichts der künstlerischen Aufgüsse gerade mal zwanzig oder dreißig Jahre alter Vorstellungen und Visionen — die Kunstkritik, deren Aufgabe es ist, solch', mit Verlaub, geistige Tieffliegerei zu unterbinden?!

Das Ornamentale und die Starrheit der Herrscherbildnisse des spanischen 16. und 17. Jahrhunderts waren nicht nur, wie uns der Kunsthistoriker und, in der fatalen, weil verdummenden, Folge der Kunstkritiker übermittelt hatte, individuelle künstlerische Sehweisen, sondern spiegelten vielmehr die ornamentale Ordnung, die im damaligen Hofzeremoniell Konflikte und jede praktische Dynamik (ästhetisch!) aufhoben. Die durch Caravaggio angeregte Hell-Dunkel-Malerei war Mittel der innerkirchlichen Opposition, traditionelle Werte umzudeuten. Standen zuvor Nacht und Finsternis für negative Werte und sozial niedrige Schichten, so ward das Dunkel dann zum Symbol der Negation sinnlicher Begierden und Erkenntnisformen. Wo war die Kunstkritik mit ihrem (fachlichen) Hinweis, daß das spanische Stilleben dieser Zeit, das Bodégon, wahrlich etwas anderes bedeutete als ein «lustiges Kabinett mit allerlei Eßbarem, das im spanischen Klima wächst»?! Ich kann mich nicht erinnern, irgendwo den kritisierenden Hinweis gehört oder gelesen zu haben, daß die spanische Malerei von Greco bis Goya Spiegelbild war des Selbstverständnisses der Herrscher und des Volkes — letzteres verinnerlicht als Maya oder Mayo, nach Schopenhauer der «Nichtwissende», landläufig auch bekannt als der Idiot, der sogenannte Privatmensch der Antike, ein Typus, der im entscheidenden Moment an der Teilnahme politischer Entwicklungen gehindert war (und mehr denn je ist?).

Die Kunstkritik ist immer oder sollte sein: Kulturkritik! Diese ‹Kunst›, die Künste so herauszulösen aus dem historischen Zusammenhang, sie darzustellen als mehr oder minder geschmäcklerischen Solitär innerhalb einer geschichtlichen Entwicklung, wie das in den eben genannten Beispielen geschehen ist, stellt eine eklatante, nicht zu verantwortende Vereinfachung künstlerischer Projektion — vorausgesetzt, diese ist seriös — dar.

Ein Beispiel aus der — bereits Geschichte gewordenen — künstlerischen Zeitgenossenschaft: Joseph Beuys. Wer aus der Fakultät Kunstkritik hat nicht alles diese Halb-Sätze dieses Erneuerers immerfort zitiert: «Jeder Mensch ist ein Künstler»; «Wer nicht denken will, fliegt raus»?! Man konnte sagen und schreiben, schreiben und sagen, was man wollte: diese sinnentstellende plakative Zitierei (bevorzugt auf Postkarten, für die Freundin oder die Pinnwand zuhause) war nicht auszumerzen.

Beuys hatte nie gemeint, jeder Mensch sei Maler oder Bidhauer et cetera, sondern immer: jeder Mensch habe kreative Fähigkeiten, die er innerhalb der Gesamtheit des Lebens einbringen könne beziehungsweise solle. Und dieses «Wer nicht denken will, fliegt raus», das von manch einem immerhin noch, wissend oder ahnend, vor allem auf seinerzeit den Verkaufserfolg versprechenden ‹Kunst›-Postkarten, mit diesen Auslassungspünktchen [...] versehen wurde, bezog sich schlicht auf Studenten, die nicht begriffen hatten, was Beuys, der sich einfach in Rage geredet hatte, meinte.

Hier tut sich das Dilemma der Kunstkritik auf, die ganz offensichtlich im zunehmenden Spezialisiertwerden durch die curricularen Systeme beziehungsweise den enormen Zeitdruck, der durch den Aktualitätswahn der Medien entsteht (das meint auch den Konkurrenz- und Zeitdruck der sogenannten Freiberufler), daß die Kunstkritik als Korrektorin an Bedeutung verliert und sich vor den Karren der eigenen Hilflosigkeit spannt. Die Kunstkritik als solche hat keine Vorlieben zu haben (die dem Individuum unbenommen sind), sie hat sich, will sie ernst genommen werden, als erfahrene Erkunderin vor die vorderste Reihe zu begeben und dort, wenn's nicht anders geht, die Feder, die vorher gewetzt zu sein hat, zu schwingen; das will heißen: aus der Gesamtsumme der Informationen Herausgefiltertes, in die Wesentlichkeit der Aussage Gebrachtes in die hinteren Reihen zu transportieren. Die Kritik hat also integrierter Bestand-Teil der künstlerischen Avantgarde zu sein und nicht — die Zeiten haben sich nun mal geändert — wie weiland im 19. Jahrhundert Katalysator einer sich gebildet gerierenden Gesellschaftsschicht, die damit rechnet, daß sich auf Dauer die Seele als Organ des Kunstverstandes in einem geheimnisvollen Prozeß und trotz aller Irrungen durchsetzt.

Irrungen oder das Gegenteil von Avantgarde: So lange liegt sie noch nicht zurück, die Debatte um den Ankauf der Beuysschen Arbeit ‹zeige deine Wunde› durch die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus — womit ich mich den Begriffen Museum und Markt nähere. «Nicht das Gebastelte», schrieb der nicht nur in München angesehene Theater- und (ergo) Kulturkritiker Armin Eichholz, «ist das Ärgernis ..., sondern der schmuddelig investierte Intellekt.» Eichholz hätte es damals, 1980, lieber gesehen, «der Beuys-Rummel wäre eine grandios aufgezogene Satire von «Pardon›, und das ganze endete nicht, wie freilich zu erwarten, in einem neuen Kapitel vom Wesen der deutschen Kunst, sondern einem Weltgelächter für den bisher erfolgreichsten Narren des Kunstjahrmarktes».

Einmal davon abgesehen, daß Armin Eichholz als führwahr gebildeter Kunst- oder auch Kulturkritiker die Rolle des Narren bei Hofe — möglicherweise rhetorisch-manipulativ — nicht näher erläutern wollte: Zu einem Weltgelächter wurde Beuys nie, erfolgreich indessen sehr wohl, jedoch nicht als Narr eines Jahrmarktes, sondern, zu Lebzeiten, als Künstler — als Künstler, das muß ich eigentlich nicht hinzufügen, der, ebenfalls zu Lebzeiten, auf dem Markt erfolgreich war, obwohl er in seinen Intentionen damit alles andere als etwas an seinem Hut hatte.

Beuys hat persönlich immer versucht, die Preise für seine Arbeiten so niedrig zu halten, daß sie, im Kontext seines «anderen Kunstbegriffes», für jeden erschwinglich waren. Es dürfte bekannt sein, daß Beuys eine immense Flut an Zeichnungen produziert, diese Zeichnungen allerdings nachgerade inflationär unter die Leute gebracht hat. (Genaue Beobachter des Marktes haben, als Eigentümer oder auch als Besitzer Beuysscher Arbeiten diese wohlweislich markttypisch verknappend zurückgehalten.) Heute erfährt das Multiple als teilweise verklärender Träger des ursprünglich demokratischen Gedankens vom vielfach zu verbreitenden Kunstwerks eine — allerdings im Monetären wurzelnde — Renaissance. 45 Mark und nicht teurer wollte Beuys eine im Remscheider VICE-Verlag multiplizierte Arbeit verkaufen, was auch geschah. Kurz nach seinem Tod ging diese kleine Box auf einer Auktion für über 70.000 Mark über den Tresen. Der Markt hatte den Avantgardisten gefressen.

Mit Beuys hatte sich auch eine Entwicklung abgezeichnet, die die Ausstellungspolitik der Museen verändern sollte. Waren die Museen zuvor darauf konzentriert, was in der Natur ihrer Konstruktion liegt, konservativ (im Sinne von conservare, also: bewahren) zu agieren, hielt zusehends die zeitgenössische Kunst Einzug in den Musentempel. Die Ankäufe durch die Museen im Bereich der Gegenwartskunst irritieren kaum mehr. Das mag auch an den immer kürzer werdenden Intervallen liegen, innerhalb denen die Be-, manchmal auch Aufarbeitung der Moderne, genannt Postmoderne (analog dieser Entwicklung vielleicht auch: Post-Postmoderne) geschieht.

Der Museumsbedienstete namens Konservator heißt zwar immer noch so, doch seine Tätigkeit als Wissenschaftler gerät zusehends ins Hintertreffen angesichts des eben frisch von der Kunstakademie oder von sonsther Gekommenen, der endlich seine Museumsretrospektive haben möchte. War die Kunstkritik zuvor, im Hinblick dessen, was in Kunstvereinen, später in Kunsthallen ausgestellt wurde, Projektion zukünftiger Museums-‹Inhalte›, hat sie sich dann, jetzt als Bremser zu betätigen. Zu viele junge, besser: noch nicht bekannte Künstler versuchen, Stationen schlicht zu überspringen. Der Atemnot Tribut zollend geht die Kunstkritik — eine weitere Folge — nicht mehr ins Atelier (viele erwähnen, mit der eigenen Urteilskraft kokettierend, sie seien nie dort gewesen), sondern in die Galerie (wo sie das eine ums andere Mal die Konservatorin trifft).

Galerien, wir wissen es, gibt es seit den ausgehenden achtziger Jahren so viele wie Boutiquen in den siebziger Jahren. Der Preis für eine künstlerische Arbeit eines ‹jüngeren› Künstlers wird kaum noch von ihm selbst bestimmt; den übernimmt die Galerie.

Ein Beispiel, stellvertretend für die Sachlage: Eine junge Malerin, 28 Jahre jung, kommt unter die Fittiche eines renommierten Galeristen, durchläuft aufgrund dieser Reputation in Windeseile sechs angesehene Ausstellungsinstitutionen und erhöht zwei Tage vor Beginn eines Kunstmarktes des Jahres 1991 in einem telefonischen Rundspruchverfahren ihre Preise. Die Galerien-Satelliten klagen zwar, müssen jedoch akzeptieren — wie die Museen, das ist hinlänglich bekannt.

Die Zunft der Kunstkritik ist aufgesplittet. Der eine Teil, der die Arbeit dieser jungen Künstlerin kennt und schätzt, hätte gerne ihre Entwicklung noch eine Weile abgewartet, bevor er seine Empfehlung ausgesprochen hätte. Ein anderer nimmt's mit Schulterzucken zur Kenntnis, sorgt sich vielleicht, gerade noch, eher zu ersterem tendierend, um die Künstlerin ob dieses rasanten Satzes nach oben, wohl auch fürchtend, der Fall könnte ein tiefer sein, den diese Arbeit möglicherweise nicht verdient habe. Die nächste Abteilung des Fachbereiches Kunstkritik schreibt bei der anderen ab und sorgt für eine breite Streuung, die wiederum eine gewisse Popularisierung bewirkt.

Der Endpunkt, den dieser sich Kunstkritik nennende Banal-Journalismus mit formuliert, drückt sich in einer Mehrklassengesellschaft aus: Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, zu denen Ströme von Menschen hin-‹pilgern›, andere Betrachter, die auf Kunstmessen zunächst auf das Namensschild schauen und dann erst auf das Bild oder die Skulptur; Künstler, deren Arbeit, aller objektiven Qualität zum Trotz, so gut wie keine Resonanz findet; Museumsdirektoren, die — das ist ein, wenn auch unfreiwillig gewinnender ‹Rückschritt› — am Markt vorbei vielleicht wieder in die Ateliers gehen, wobei das eine ums andere Mal Entdeckungen gemacht werden, die nicht gemacht worden wären, gäbe es nicht diese fatale Konjunturüberhitzung des Kunstmarktes der letzten Jahre.

Die Rolle der Kunstkritik in diesem Geschäft des letzten Jahrzehnts ist am bekanntesten geworden durch das ‹Ereignis› der sogenannten Jungen oder auch Neuen Wilden. Ein paar Branchenführer hatten aufgrund von Umsatzeinbußen nach neuen Bildern gerufen (wobei zugestandenermaßen durchaus auch ein Bedürfnis außerhalb des Merkantilen gewachsen war). Nun, eine Plattform fand sich schnell. Eine Handvoll Kunstkritiker hatte im italienischen arte ciffra Neues entdeckt. Da der Markt des Minimalen oder auch Minimalistischen überdrüssig geworden war beziehungsweise diese Gattung(en) sich selbst zu zelebrieren begann(en), setzte man auf diese zeichenhaft figurative neue Malerei. Die auf Vorsicht und Zurückhaltung bedachte Kunstkritik gemahnte zur Ruhe, doch deren Adepten hatten, angeregt durch den Handel, ein neues, zu bearbeitendes, zu beschreibendes Feld gefunden. Drei Jahre gaben die Mahner in diesem Wirrwarr dieser die ‹Tradition› aufarbeitende Malerei, andere — ich gehöre zu ihnen — gestanden ihr fünf Jahre zu. Drei, fünf, sieben, sage ich: zehn Künstler haben ihre schnell gemalten Bilder in den Museen, viele in deren Depots stehen. Und — fast — so schnell, wie sie gemalt waren, wurden sie abgelöst von einem neuen «Hunger nach Bildern»: vom Fast Food des De-Konstruktivismus, immerhin ein (künstlerischer) Versuch, sich mit dem «Unvollendeten Projekt Moderne», wie Jürgen Habermas es genannt hat und einige aus der Kunstkritik es durchaus so beurteilt haben, auseinanderzusetzen.

Und nun? Was schreiben? Die einen reden sich heiser in ihren Klagen über die Stille. Andere empfinden diese als wohltuend. Karlheinz Schmid, wahrlich ein genauer Beobachter des Geschehens, zitiert in einer Ausgabe seines Informationsdienst KUNST Albert Oehlen «...Ein Bild muß nicht aussehen, als ob es so einfach aus der Hand geflutscht ist, deswegen kann es ruhig mal eine Quälerei sein, das ist wie im Sport.»

Ich empfinde es auch als angenehm — vielleicht nicht im Sinne von Albert Ohlen, nicht nur, weil ich den Vergleich mit dem Sport nicht nachvollziehen kann. Meiner Meinung nach hat zur Zeit die Kunstkritik wieder eine Möglichkeit, gehört, gelesen zu werden, eine Kunstkritik, die möglicherweise im habermasschen Sinne einer unvollendeten Moderne denkt oder, meinethalben, greifende Argumente nicht gerade im Hinblick auf eine Baisse dahingehend popularisierend verwischt, man erwarte den nächsten — nun also doch Oehlen — Felgaufschwung in gespannter Haltung, er komme gewiß. Die Kunstkritik hat, weil es in der Stille sich so vortrefflich nachdenken läßt — und die Stille (der Nachdenklichkeit) ist der Kunst immanent —, jetzt die Chance, mal wieder den Nachweis zu führen, daß sie sich nicht unbedingt aufreiben (lassen) muß zwischen Markt und Museum. Denn gerade in dieser Verschnaufpause, die dem Markt zur Zeit oktroyiert ist, kristallisiert sich doch heraus, daß die bedächtige, kontinuierliche Beobachtung kultureller Geschehnisse aus der Geschichte heraus bleibend wirkt. Analog ihrer Herkunft und ihres Ziels wird sie dort hinkommen, wo sie eigentlich hingehört: zurück zu ihrer Wurzel, zur Kunst, und diese über Beobachtung, Begutachtung, gradlinig über verschiedene Stationen zu begleiten — ins Museum.


Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags am 27. April 1991 für die Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth zum Thema Kunst und Manipulation — Die Moderne zwischen Markt und Museum; Urfassung gedruckt in: Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung e. V., Band 68, Reihe Kulturpolitik, München 1994 (ISBN 3-88795-103-4); die hier vorliegende Version war nachgedruckt in Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 3; sie wurde nun, wenn auch gering, ergänzt.
 
Di, 14.08.2012 |  link | (1362) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Marktgeschrei















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