An den Leser

Assoziativ von mir senilem Bettflüchter in noch tiefschwarzer, dunkler Nacht nachgedacht und nun vorgelesen beim Gedanken an
Vom Fensterbankerl zur Schlachtbank, ein wenig auch Verbindung herstellend zum nicht stinkenden Geld.


In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer
Versinken wir mit Seele und mit Leib,
Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib,
Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.

Dummheit und Knauserei, Irrtum und Sünde setzen
In unserem Geist sich fest, bringen dem Leib Gefahr,
Und die Gewissenbisse, diese liebe Schar,
Ernähren wir, wie Bettler ihre Läuse letzen.
La sottise, l'erreur, le péché, la lésine,
Occupent nos esprits et travaillent remords,
Et nous ailimentons nos amaibles remords,
Comme les mendiants nourrisent leur vermine.
Halb sind die Sünden, matt ist unsre Reue,
Und unsre Beichte macht sich fett bezahlt,
Nach ein paar Tränen rein die Seele strahlt
Und wandert froh den schmutzigen Pfad aufs neue.

Die Sünde ist sehr zäh, die Reue zaudert gerne.
Wir fordern fetten Lohn für ein zerknirschtes Wort
Und wandern dann vergnügt im Schlamm des Weges fort,
Gewiß, daß Tränenwasser jeden Fleck entferne.
Nos péchés sont tétus, nos repentirs sont lâcges;
Nous nous faisonspayer grassement nos aveux,
Et non retronts gaiement dans le chemin bourbeux
Croyant par de vils pleurs laver toutes nos taches.

Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal
Die normal gesetzten Strophen entstammen der Übersetzung von Therese Robinson aus dem Jahr 1925; sie ist komplett nachzulesen unter Gutenberg.Spiegel. Wobei für diejenigen, die's nicht wissen, angemerkt sein möchte, daß das Project Gutenberg 1971 von Michael Hart, einem Freund der Literatur, privat, also meines Wissens ohne jede kommerzielle Absicht, auf den Weg gebracht wurde.

Die fett gesetzten in der Übersetzung von Siegmar Löffler sowie das kursiv dargestellte Original — nach Œuvre complètes de Baudelaire, Bibliothèque de la Pléiade, Edition Gallimard, Paris 1961 — ist zitiert nach: Poetische Werke/Schriften zur Literatur, zwei Bände, französisch und deutsch, © 1973 Insel-Verlag Anton Kippenberg, Leipzig. In der Auflage von 1992 ist die in Band 2 zweisprachige Ausgabe nach wie vor erhältlich.
Für Menschen, die beim Lesen nicht mehr fühlen können oder keine Zeit dafür haben, gibt's das auf die Ohren.

 
Di, 11.09.2012 |  link | (3582) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


edition csc   (11.09.12, 21:06)   (link)  
Sehr Kluges dazu:
Nur in der Metamorphose und damit im Tod gelingt die Überschreitung des in sich selbst befangenen Ich.

–cabü


jagothello   (12.09.12, 09:57)   (link)  
Kompensationstechnik
Doch wollen wir das? Können wir es wollen? Heraustreten aus dem Ich! Wohin? Mit welchem Ziel?
Über das Lesen an sich denke ich sehr viel nach. Angeblich wird ja allerorten viel zuwenig gelesen. Die Wahrheit ist: Es wird viel zuviel gelesen. Vielleicht jedenfalls. Ich bin mir nicht ganz sicher. Sie als Romantiker müssten ja froh über jede Tätigkeit sein, die der Mystifizierung unserer decodierten Existenz Vorschub leistet. Andererseits ist mir jegliche Form der Weltflucht verdächtig. Wahrscheinlich entscheidet nicht nur die Dosis über Gift oder Arzenei, sondern auch der Wirkstoff selbst. Belletristik interessiert mich jedenfalls mit jedem neuen Monat weniger.


jean stubenzweig   (12.09.12, 10:58)   (link)  
Zuviel oder zuwenig,
das scheint mir hier oder anderswo nicht die Frage. Die mit Intellekt kopulierende Intensität, um in diesem Bild zu bleiben, dürfte Granat, nein, ich wollte eigentlich Garant geschrieben haben, Granat ist ein andere intensive Köstlichkeit, für das sein, was so gerne inflationär als Qualität in die weite Medienwelt verschleudert wird.

Ich bin auch lediglich dort, aus Lehre und Erfahrung heraus, Romantiker, wo die Kind der Aufklärung ist beziehungsweise zu ihr beiträgt. Es ist richtig, daß das Kryptische, das Geheimnisvolle mir gemäß ist, aber in erster Linie deshalb, da ich gerne spielerisch enträtsele. Das poetische Hineingeheimissen und durchaus auch des Rätsels Lösung entspricht meinem Seelen- und damit Kopfhaushalt gleichermaßen. Baudelaire hat eben keine, das wurde mr bereits in den jungen Jahren meiner Studien zur französischen Aufklärung und der deutschen Romantik klar, wirkliche, nenne ich sie mal reale journalistische Zustandsbeschreibung dieser Welt geliefert, er hat sie, wenn auch «blumig», dennoch scharfblickend analysiert. Ich halte dieses Werk auch bei weitem nicht für Flucht, für einen Versuch des Heraustretens aus dem Ich. Das ist ein Ich, ein vergiftetes, meinetwegen.

Die Erwähnung der Bellestristik in diesem Zusammenhang verstehe ich allerdings ohnehin nicht.


jagothello   (13.09.12, 14:29)   (link)  
Am falschen Ort
keine Ahnung mehr, wie und warum mich meine Assoziationen gedrängt haben, mich hier und nirgend anders über mein sich wandelndes Verhältnis zur Belletristik auszulassen. Vielleicht, weil Sie dem fühllosen Leser eine Hörbuchfassung ans Herz legen. Und richtig: Lyrik darf/kann/soll man sich vorsingen lassen, am besten zur Leier. Es ist noch nicht so lange her, da ging das gar nicht anders. Das neue Medium verhilft Zweck und Anspruch der literarischen Gattung zur Geltung, das ist doch schön!?
Also: Bin ich fühllos! Ich hoffe nicht zu sehr aber tatsächlich erreichen mich Romane emotional selten in einer Intensität, wie ich sie aus früheren Erfahrungen kenne. Dennoch lese ich und zwar v.a. aus den Gründen, die Sie und enzoo benennen. Mittlerweile aber kaum noch experimentierfreudig, eher rückwärts gewandt auf Bewährtes zurückgreifend. Sicherlich wird es aber einen neuen Kosmos geben, den es zu entdecken gilt- früher oder später. Die Reisen kommen, werden aber doch seltener. Manchmal strande ich am falschen Ort. Sorry.


jean stubenzweig   (12.09.12, 10:25)   (link)  
Tatsächlich erstaunlich
Catincchen, für eine so junge Frau scheint mir das. Da sabbelt die halbe bis hin zur Halbwelt im Namen der Blumen des Bösen, mißbraucht diese philosophisch-poetischen Vorausschau im Rückblick auf das Werden, angefangen beim miserablen Absinth-Surrogat und beendet im, gleichwohl geschlossenen, Sadaomaso-Online-Verein, und Sie dringt tief ein in diesen wahrlich köstlichen Weltekel bezie-hungsweise analysiert ihn präzise und uneitel, ohne eben in ein oftmals zusammenhangloses nachnachmodernes postromantisches Lamento zu verfallen, wie das gerade unter jüngeren Menschen allzu häufig geschieht. Sie scheint Seelen mit intellektueller Kraft zu beobachten. Ich habe etwas weiter gelesen und daraufhin beschlossen, Klappentexte weiterzuempfehlen. Das ist das mindeste, was alte Säcke tun können, als nur endbrabbelnd herumzuliegen. Wenigstens im literaturwissenschaftlichen Bereich scheint noch ein Fünkchen Hoffnung zu glimmen — wenn es von der Lust am Lesen genährt wird.


enzoo   (12.09.12, 10:27)   (link)  
die metamorphose
durch den tod hat nach meinem verständnis einen schwer wiegenden nachteil: man ist nachher tot und das "ich" dann vielleicht nicht mehr in sich selbst be- oder gefangen, sondern weg. aber das ist wohl ansichtssache.

schade finde ich, wenn jagothello belletristik immer weiter von sich weist, weil ich die romantische vorstellung habe, dass der "konsum" von guter belletristik die menschen besser macht. ausserdem erspart die lektüre von 2000 guten romanen ein psychologiestudium. man bekommt danach zwar keinen hierzulande noch immer so begehrten titel verliehen, aber man kann sich insgeheim ja herr oder frau buchrat nennen.


jean stubenzweig   (12.09.12, 15:11)   (link)  
Zustimmung,
was die «Lektüre von 2000 guten Romanen» betrifft. Wir hatten es hier ja mal mit Max von der Grün. Unvergessen hat er mir seinerzeit weitergeholfen mit und in meinem Ich. Er hat mich sogar viele, viele Jahre danach zur erzählerischen Erinnerung inspiriert. Meine Fähigkeiten gelangen dabei auch nicht im geringsten an die großer Narratoren heran, nicht einmal an die, die unverrätselt eine sogenannte Wirklichkeit erzählend beschreiben. Es ist ohnehin immer nur eine von vielen. Ich sehe mich trotz eines Versuchs auch nicht als Romanschriftsteller, allenfalls als Autor, als einer von vielen, sehr vielen, die über alles mögliche schreiben. Was seine Berechtigung hat, denn es vermag zur Selbstfindung verhelfen. Bei mir war es tatsächlich so, dadurch bin ich zur Autostrukturierung gelangt. Das Lesen, auch die «Lektüre von 2000 guten Romanen» hat dazu beigetragen, denn es ist unabdinglich, zu lesen, zu lesen und immer wieder zu lesen und weiterzulesen, will man einigermaßen schreiben lernen.

Und Romantik, das nebenbei, hat einen unmittelbaren Bezug dazu: Roman, phantastisch, durchaus auch die Poetisierung des (eigenen) Lebens oder wie etwa bei Baudelaire, der Gesellschaft. Man kann diesen Blumen des Bösen durchaus auch als Roman lesen oder Zettels Traum als langes kryptisches Gedicht. Die Abkehr von der «rationalen» Welt feiert heute zudem, wenn auch bei weitem nicht so intellektuell erheiternd wie etwa bei E.T.A Hoffmann oder Jean Paul, schließlich fröhliche Urständ'. Doch auf die zurückliegenden, längst gedachten, möglicherweise gar ursächlichen Gedanken beziehen, das mögen nur wenige. Das ist so gestrig, so unmodern. Lese ich beispielsweise, was ich gerne tue, in Briefe aus meiner Mühle von Alphonse Daudet lese, noch so ein spätromantischer Bohèmien, bin ich nur dann blendend unterhalten, wenn ich die Zeit nicht mitlese. Es gibt kaum einen bekannteren Roman, Frédéric Mistral dürfte in rechtsrheinisch kaum bekannt sein, der die sich bis heute erhaltene Mentalität der Provençalen besser vermittelt. Dasselbe gilt für Marcel Pagnol. Dessen vier Romane Eine Kindheit in der Provence, Marcel, Marcel und Isabelle sowie Die Wasser der Hügel haben mich nach Übersiedlung dorthin den Marseillais nähergebracht als jedes von Psychologen begleitete Gespräch. Pagnol breitet sich durchaus auch in meinem Gedächtnis aus, denke ich an diesen wunderbaren Film Marius et Jeannette, der in l'Estaque spielt. Diese beiden entstammen seinem Vokabular, sie sind in etwa vergleichbar mit den deutschen Fritzchen und Lieschen Müller, nur geistig etwas tiefer der Geschichte, der Revolution verhaftet, französisch eben. Womit wir einmal mehr bei Schiller und der Wahrheit und so weiter angelangt wären, wenn wir das Gelesene mit der eigenen Erfahrung kopulieren lassen, auf daß eigene Gedanken dem Leib entschlüpfen.

Um noch einmal auf die gegenüber Jagothello heute und vor einigen Tagen aus anderem Anlaß bereits erwähnte Romantik zu kommen. Zum einen unterscheidet sich die deutsche von der französischen. Während die deutsche sich irreführend bis heute — das liegt zweifelsohne an der Unkenntnis, die sich auch in der Ästhetikdefinition niederschlägt, die um Mitte des 19. Jahrhunderts mit Baumgarten eine wesentliche Änderung erfahren hat, was offensichtlich partout keinen Niederschlag finden will oder soll —, über Dämlichkeiten wie Abendmahl zu zweit bei Kerzenschein am Elektrokamin zu klammern versucht, weil damit offenbar der unverbrüchlichen Schönheit der deutschen Seele gehuldigt werden soll, bimmelte Baudelaire um 1860, rund zehn Jahre nach der aus Baumgarten hervorgegangenen Aufforderung, auch mal darüber nachzudenken, ob auch die sogenannte Häßlichkeit zur Ästhetik gehören könnte, die Moderne ein, da mag er sich in seinen Blumen noch so rückwärts gewandt lesen, vielleicht wenn man's unter dem Aspekt von zeitgenössisch vermarktetem Absinth oder postmodernem Sadomaso betrachtet. Selbst in ihrem Tod begehre die Romantik noch auf, moderne Dichtung, meinte er, sei die Entromantisierung der Romantik, aber eben unter ihrer Zuhilfenahme. Nenne ich's die Revolution in ihr, aus ihr heraus. Das ist französisch. Die meisten Franzosen mögen sozusagen bis heute keine Reichen, während die Deutschen gerne so reich sein möchten wie die da oben und sie vermutlich deshalb nachzueifern versuchen in ihrem Celebritätenwahn, der mich immer wieder an den bejammerten Verlust der Herrschaftlichkeit, des Adels gemahnt. Erinnern wir uns an das hier angeführte Hauptthema der letzten Tage. In der nachnapoleonischen Zeit beklagt man die seelenlose Zeit der Technik, die Depassionata (unter Passionata werden heuzutage Stringtangas für die Braut angepriesen, auf daß sie ihren Zukünftigen romantisch becirce) des Geldmachens. Aber es soll auch nicht verschwiegen werden, daß die französischen Romantiker Anleihen bei den deutschen, bei deren seherischen Fähigkeiten nahmen. Das scheint lange vor der Montan-Union wie ein Anfang der deutsch-französischen Freundschaft. Man besinnt sich gar auf die Revolution, gegen die sie sich einst wandte. Man richtete sich gemeinsam gegen die geltenden Regeln der Gesellschaft, der bürgerlichen.

Aus dieser Perspektive betrachtet ließen sich die aktuellen Geschehnisse des Aufrührerischen im Deutschen auch als romantisch motiviert auslegen. Mit dem Unterschied, daß man in Frankreich tatsächlich auf die Straße geht und in Deutschland weiteste Teile der Gesellschaft die Ereignisse Events gleich vom Fernseher aus beobachten. Linksrheinisch hat man vor einigen Monaten jemanden abgewählt, einer aus dem Lager der Geldmächtigen meint nun, er müßte die Staatsangehörigkeit jener annehmen, über die ansonsten gerne gelacht wird. Ein Großaktionär des Luxusgüterkonzerns LVMH hat in Belgien quasi Asyl beantragt. Rechts des Rheins wird man vermutlich wieder dieselbe Frau direkt wählen, obwohl eine Direktwahl gesetzlich gar nicht vorgesehen ist.















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