Romantische Totenköpfe der Moderne

Heute hatte ich Besuch von meinem Nachbarn, zum ersten Mal war er bei mir im dachspitzigen Nebenkathedrälchen, er ist erst kürzlich zugezogen. Bei mir zu Gast war er, um sich zu verabschieden. Er ist bereits wieder ausgezogen. Das Landleben hat ihn zu sehr belastet. Wahrscheinlich war ihm meine ständige Depressionsmusik (© Frau Braggelmann) aus Radio Classique, das ich seit einiger Zeit immer eingeschaltet habe, weil mir France musique neuerdings zu oft deutsche Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern spielt, zu wanddurchdringend. Das Alter vermag die Hörigkeit oftmals nicht zu mildern. Ich schätzte ihn nicht unbedingt zu den Kunstsinnigen gehörig ein, wie das eben so ist mit den Vorurteilen, von denen ich mich trotz aller Benühungen nicht lösen kann, obwohl ich mehrfach eines besseren belehrt wurde. Was die einen mit Medien machen, macht er mit Immobilien: irgendwas. Das reichte.

Er sah bei mir an der Wand die recht große Photoarbeit von Stefan Hunstein, die ich vor etwa zwölf Jahren gekauft habe. Spontan rief der von mir gehende Mitbewohner von nebenan aus: Das gefiele ihm aber gut, aber sowas von gut.

© Stefan Hunstein, schlechte Photographie, trotzdem © Jean Stubenzweig

Ich war leicht verblüfft. Häufig höre ich dazu negative Meinungen. Der kunstsammelnde Arzt, der das in jeder Hinsicht nicht ganz unschwergewichtige Bild seinerzeit mit dem befreundeten Galeristen in den fünften Stock meiner Münchner Wohnung geschleppt hat, weil es nicht in den Fahrstuhl paßte, meinte damals, das wäre nichts für ihn, ständig den doppelköpfigen Tod über dem Kopf hängen zu haben. Er hätte Angst, der Tod könne ihn erschlagen.

Es handelt sich um ein romantisches Sujet. Tagelang bin ich um die Jahrtausendwende auf dem kölnischen Kunstmarkt an ihm hin- und hergeschlichen. Normalerweise hätte ich es sofort mitgenommen, so gut gefiel es mir. Aber es kostete viel Geld. Am vierten oder fünften Tag hatte es mich endgültig in seinen Fängen. Lieber lange nur Nudeln mit irgendwas als auf diese mich ergreifende Arbeit verzichten. Die definitive Kunsthematik Tod hatte mich schließlich gefangen. Den Totenkopf von Malewitsch hatte ich darin erblickt, eine Verbindung von der Romantik zur Moderne hergestellt.

An einem Kunstmarktabend spielte wie alle Jahre wieder eine Kapelle zum Tanz auf, mit anschließender, manch einer vielleicht dann doch nicht so romantisch endenden Paarung in einem Hotelbett. Aber zunächst gab es (kostenlos) Gutes zu essen und durchaus gut trink- oder auch schüttbaren roten Wein aus der Bourgogne. Mit einem überaus geschätzten Kollegen vom bioökodynamischen Minderheitensender Arte, auch er ausgeprägten linksrheinischen Denkens und Fühlens, sprach ich lange und ausgiebig über das Judentum. Einer Frau wegen, die er vor einiger Zeit während seiner vielen Kunstreisen um die halbe Welt kennengelernt hatte, befand er sich im tiefsten Stadium des Konvertitendenkens. Zuvor hatte der Katholik es mal mit den Gnostikern versucht. Ich versuchte ihn von seinen trivialromantischen Vorstellungen abzubringen, die ein Religionswechsel mit sich bringen könnte. Auf die Kritik gegen den Glauben verwies ich, die denkerisch bereits während der Epoche der Romantik aufgekommen sei. Nach der fünften Flasche gab ich auf und wandte mich dem Leben zu. Auf der Tanzfläche versuchten einige Galeristen mit ihren Mitarbeiterinnen, der Begriff Praktikantin war zu dieser Zeit noch nicht so quasi in aller Munde, Rock'n'Roll zu tanzen. Auch der wirklich nicht schlechte Wein konnte dabei nicht weiterhelfen. Ich sah trotz reichlich genommenem Ethanol nur eingegipste Hüften. Da ging ich eben an den Tresen.

Mit einem Mal stand neben mir Stefan Hunstein, der bereits vor zwölf Jahren nicht ganz so unbekannte Kammerspieler. Ich wollte mich vorstellen, doch mittendrin in meiner Höflichkeitsrede unterbrach er mich, er wisse, wer ich sei, ich hätte mich letztendlich für die Kunst entschieden, sein Bild gekauft und so. Nein, er wollte nicht von mir wissen, weshalb, warum und wieso und so, und das, obwohl er ein durchaus direkter Mensch war (und ist?), wie sich herausstellen sollte. Er ließ meiner bourgognegeschwängerten Zunge freien Lauf. Dabei stellte sich bei ihm eine gewisse Verwunderung darüber heraus, daß ich sein Werk eindeutig als sozusagen spätromantisch einordnete. Der erste sei ich, der dies quasi analytisch interpretiere, aber es sei genau richtig. Unter diesen Gesichtspunkten sei diese Arbeit enstanden. Er sei tatsächlich ein Romantiker, der sie zwar kritisch, aber gleichsam in die Zukunft ausgerichtet betrachte, wenn auch nicht unbedingt im Sinne von ex oriente lux, schließlich sei die Moderne noch nicht zuende gedacht. Nun seien wir schon zu zweit. Das könne der Beginn sein zu einer fröhlich-aufrührerischen Gemeinschaft, die triviali-sierende Vor- oder fehlgeleitete Urteile zurechtzurücken versuche.


Man möge mir die miserable Qualität der Photographie vergeben. Ich kann's nicht besser. Dieses permanent Hineinleuchten verdirbt mir jede klare Ab- und Ansicht. Nehme man's romantisch.
 
Fr, 21.09.2012 |  link | (1496) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5811 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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