Wachstationen jugendlichen Lebens

Eine mir näher bekannte Dame namens Braggelmann erhielt vor ein paar Tagen oder Wochen eine Einladung zu einer Prügelei. Nein, nicht so direkt. Zuschauen sollte sie dabei. Man kennt das ja, Gladiatoren und so. So, wie in diesem Lebenslänglichenknast im ländlich-gemütlichen US-Louisiana, wo sich während eines regelmäßig stattfindenden Rodeos vor tausenden eigens freiwillig im Gefängnis platznehmenden Zuschauern die Insassen für eine Handvoll Dollar von recht wilden Bullen auf die Longhörner nehmen lassen und sich bei einem Sieg als Überlebender wenigstens ein bißchen wie in Freiheit fühlen dürfen. Und dann auch demütig dem lieben Gott dafür danken, denn ohne den geht nunmal nichts in diesem rechtschaffenen, gesetzestreuen Land, diesem Synonym der Go-West-Freiheit. Die Arena, in die besagte Dame von einem moralische Unterstützung erbittenden Sportberichterstatter gebeten wurde, liegt im kühleren Norden der Mitte der Alten Welt, gerne auch als deren Tor bezeichnet. Dort wird normalerweise dezenter massakriert, haben Pfeffersäcke doch feinere Methoden, jemanden zu erschlagen. Lediglich dann, wenn die einheimischen Fußballvereine aufeinander losgehen, kann es schonmal handgreiflicher werden, dann kehrt die von der prosperierenden Wirtschaft gänzlich verdrängte alte Bezeichnung Volksparkstadion wieder in die Assoziation massenhafter Freiheit zurück. Dort aufeinander einschlagen sollten ein Engländer und ein mittlerweile in deutsche Herzen eingemeindeter Herr aus der Ukraine. Mich zu dieser Veranstaltung hinzuzubitten, das unterblieb bereits im gedanklichen Vorfeld. Es war bekannt, mit welcher Hingabe ich zu bespötteln pflegte, daß es offenbar zunehmend mehr Menschen zu diesem Kampfsport dieser halbseidenen Welt drängt, vermutlich weil es zu einer gewissen Befreiung führt, wenn wenigstens andere aufeinander eindreschen. Nicht unbedingt nur sogenannte immigrationshintergründige junge Männer fallen mir dabei ein, sondern durchaus auch Herren und zunehmend mehr Damen vom gesellschaftlichen Mittelbau an aufwärts. Die etwas geschulteren unter ihnen gehen dabei zurück bis in die Antike, ersteigen gar den Musengipfel. Womit wir neben den Gladiatoren auch die Ritterinnen des edlen Faustkampfes erreicht hätten.

Als ich noch journalistisch tätig war, was vom Zeitraum her fast ans alte Rom hinreicht, geriet ich immer wieder mal in Gespräche geradezu philosophischer Dimension. Eine Bar gibt es in München, in der es mal recht friedlich zuging von siebzehn bis neunzehn Uhr, als man das Besserverdienen und Dazugehören noch nicht ganz so früh am Tag ausstellen mußte. Der Ruhe wegen, vielleicht auch fasziniert von den dort servierten antialkoholischen Cocktails, die meist besser schmeckten als die hochprozentige Realität, traf ich mich auf Wunsch durchaus gerne an diesem Ort mit einem Hamburger, dessen erstes Buch zu lektorieren ich die Ehre hatte. Gastronomie, Musik, kuhle Männer und leidenschaftliche Balztänze spielten darin eine nicht unerhebliche Rolle, ihr Autor schien diese Spektakel vor allem Brasiliens außerordentlich gut zu kennen, was mich damals, als ich es noch nicht persönlich kennengelernt hatte, brennend interessierte. So lag es nahe, daß dieses Erzählbändchen, in dem der immer noch endlos lange und olivgrüne Cadillac allerdings nur einmal kurz vorfuhr, auch in einer Weltläufigkeit vermittelnden Bar bearbeitet werden mußte und nicht an einem drögen deutschen Schreibtisch. Nicht außeracht gelassen werden darf der Barbesitzer, der vor Eröffnung seines Etablissements an der Maximilianstraße bereits europaweit einige Harrys die Shaker hat vorfahren lassen, der dem mit ihm befreundeten, in der Welt herumirrenden Hamburger ein Namensschild in den Tresen einlassen ließ, auf daß auch er endlich eine Heimat finde. Zur Arbeit am Buch kamen wir allerdings eher selten, denn immer wenn du denkst, es geht noch mehr, kam von irgendwo ein andrer her, der von irgendwelchen Boxkämpfen zu berichten wußte, in denen Fäuste teilweise eingesetzt worden waren wie anderswo Damen und andere Pferdchen gegen Könige. Häufig gesellten sich sozusagen schlagartig weitere hochaktive Sportler hinzu. Fast ausnahmslos waren das Journalisten, die für heutzutage Magazine genannte illustrierte bunte Blätter tätig waren, aber auch später konsequenterweise als Boxtheoretiker berühmt werdende ehemalige Lyriker. Verbaler Ringrichter war meistens der Eigner des in der Folge, wie er selbst auch, extrem illuster werdenden Barbetriebes. Das hatte wohl seine Ursache darin, daß der tatsächlich gekonnt die Fäuste schwingen konnte, wenn er das auch weniger im abendlichen Kneipenrummel tat, sondern tagsüber in einem Hinterhof, wo früher die Fitneßstudios nunmal ein bescheideneres Dasein fristeten als heutzutage. Was ich beim Zuhören dieser teilweise leidenschaftlich geführten Gedankenaustäusche zumindest lernte: Wer sich als Mann nichts fürs Boxen interessiert, ist kein Mann. Nun gut, ich spielte bereits als kleiner Junge lieber mit Puppen.

Aber wie das eben so ist beim Erinnern — mit einem Mal landet man in vorchristlicher Zeitrechnung, quasi in der Steinzeit. In noch jüngeren Jahren, ich hatte gerade meine in der Kindheit verordnete sportliche Karriere und auch die als Ehegatte beendet, geriet ich in eine andere Gesellschaft, die, je nach Auffassung von ihr, auch schonmal schlechte genannt wird. Ein Kommilitone erweckte meine besondere Aufmerksamkeit. Ich war mir seinerzeit nicht sicher, ob die Ursache dessen zurückhaltende, nachgerade feine Lebensart war, die seine Belesenheit zu krönen schien, oder die Massen an Barschaft, über die er verfügte und die er, so ohne weiteres läßt sich Heimito von Doderer dann doch nicht abstreifen, gerne gerollt in den Taschen seiner Flanellhosen trug. Der Arbeitersohn aus Wien protzte zwar nicht damit, wie das aus ihren Katakomben gekrochene Kapitalisierer der ehemaligen Sowjetunion mit ihren dubiosen Erträgen gerne tun. Aber ein gewisses Vermögen schien auch außerhalb der Hosentaschen unübersehbar, ob das die dezent rassige Automobilisierung oder die feinen Tücher und Leder waren, die er am liebsten in Florenz einkaufte, wo er auch am liebsten aß. Begleitet wurde er dabei ausnahmslos von seiner Gefährtin, je nach Perspektive haupt- oder nebenberuflich Studentin der Geisteswissenschaften wie er, die in heimatlichen Gefilden stunden- oder tageweise für monetären Nachschub sorgte. Man würde das, vertraute er mir in einer stillen Stunde an, solange betreiben, bis man genug habe und sich in einer nicht übermäßig prahlerischen Renaissancekate auf das dann autarke wissenschaftliche Gewerbe in aller Ruhe aus dem anderen zurückziehen und auf das Er- und Verfassen historischer Werke konzentrieren könne.

Was nicht unterbleiben konnte, waren Begegnungen mit anderen Gewerbetreibenden, die sich des öfteren auch außerhalb von Boxringen blaue Augen oder geknickte Nasen zufügten. Ein Mindestmaß an Anpassung war erforderlich, wollte man sich nicht allzusehr als Außenseiter zu erkennen geben, was die Stimmung hätte verschlechtern und Geschäftsnachteile wie die oben genannten bewirken können. Und ich durfte hin und wieder dabei sein. Für solche Ereignisse wurde auch ich demgemäß ausstaffiert, ich trug quasi uniformartig gleich ihm Tuch und Leder, deren Schlichtheit man das Hochpreisige ansah. Da er gerne auf meine Anwesenheit wert legte, war ihm das entsprechend etwas wert. Ich hatte mich seinerzeit längst von den Kostümierungen meiner späten Jugend gelöst und nach dem Ausbleiben elterlicher Zuwendung ohnehin nicht mehr das erforderliche Geld. So befand ich mich vorübergehend mitten drinnen in der Prostitution. Ich tauschte geldwerte Naturalien gegen die Dienstleistung eines unterhaltenden verbalen Wachschutzes.

Es war die Zeit, von der ich bis heute nicht weiß, wie ich sie überstanden habe. Fast jede Nacht bis früh um fünf direkt neben Otto Schilys Kanzlei Rock'n'Roll tanzen auf Beethovens Freude an den Götterfunken unter der Energiezufuhr von mit englischer Limonade schluckbar gemachtem Wodka, das sind Leistungen, wie ich sie mir heute kaum mehr vorstellen kann. Aber es wirkte recht gut. Da mußte ich mich auch nicht so anstrengen beim Weghören, wenn die feine halbseidene Gesellschaft über die hehre Kunst des gegenseitigen Verprügelns schwadronierte. Und es gab ja noch ein paar weitere Hilfsmittelchen. Von der wissensvermehrenden Langzeitwirkung hatte ich Abstand genommen, da meine Iche und deren Körper eher abweisend auf den Stoff Lysergsäurediethylamid reagierten. Doch von anderen Anschubpräparaten machte ich durchaus Gebrauch. Dabei hatte ich einmal das Glück, daß ein recht großvolumig Geratener davon Abstand nahm, mich auf mein Maß zurückzustutzen, als ich der Illusion unterlegen war, ihn zu tiefnächtlicher Stunde anspringen zu müssen und ihn erlegen zu wollen wie Winnetou einen Grizzly. Dazu beigetragen hatten ein paar mit Alkoholika hinuntergespülte Tablettchen mit dem Namen Dicodit oder so ähnlich, die mir einer der halbseidenen Freunde verabreicht hatte. Das hätte durchaus heftiger ausgehen können als die Prise Schnee, die man mich eines Nachts nach dem soundsovielten Wodka einzuatmen verführte. Aber der Verführer war auch niemand aus der Halbwelt, der mich als Boxer erleben wollte, sondern ein Kreativer mit seinerzeit etwas anders anmutenden Bildvorstellungen, der mich im anschließenden Tischtennisspiel vernichtend schlagen und sich aus meinem Dilemma vermutlich Anregungen holen wollte.

Nun ist mir meine Anmoderation mal wieder etwas lang geraten. Alleine beim Gedanken an Sport scheint sich bei mir eine gewisse Disziplinlosigkeit einzuschleichen. Denn eigentlich wollte ich lediglich auf einen Begriff hinweisen, der mir in nächtlicher Stunde aus dem Fernseher entgegenschallte und von dem mir ein fortgeschrittener Konsument berichtet hatte und der mit einem Mal aus der Erinnerung aufgetaucht war: Pervitin. Wahrscheinlich bin ich mal wieder der letzte, der davon erfährt:

Schlaflos im Krieg — Die pharmazeutische Waffe
1937 entdeckt der Berliner Chemiker Fritz Hauschild ein besonders effektives Amphetamin: das Methylamphetamin, das noch im selben Jahr unter dem Namen Pervitin auf den Markt kam. Das Mittel führte zum einen zur Beseitigung des Schlafbedürfnisses und zum anderen zu einer Steigerung des Selbstbewußtseins sowie der Risikobereitschaft. Schnell wurden Militärärzte auf das neue Mittel aufmerksam. Die Dokumentation deckt eines der größten Tabus der deutschen Militärgeschichte auf: die Rolle leistungsfördernder Arzneimittel von der NS-Zeit bis in die Gegenwart. «Auch die USA», lese ich in der Nebelmaschine, «verwenden Drogen im Afghanistan und Irakkrieg.» Pervitin sei heute bekannt als Crystal Meth.

Dieser Grabstein scheint im gegen mich selbst geführten Krieg gerade noch über mich hinweggeflogen zu sein. Über die Gnade früher oder später Geburt oder eventuelle andere Ursachen sinniere ich noch.
 
Do, 14.07.2011 |  link | (3832) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ertuechtigungen



 

Ballett in freiem Stil

Photographie: Stefan Oost (CC)


Auf einem Felsen in mehr als dreitausend Metern Höhe auf dem Dach Europas ruhen drei natürlich gebräunte Skifahrer und deren Schwester. Da taucht auf einem anderen Felsen eine Art Stewardess auf, um ihren von den vielen Höhenflügen der nebenberuflichen Tätigkeiten an der Universität leicht ermattet wirkenden Teint etwas aufzufrischen. Doch bevor die Drei in die Skibindungen springen können, um die noch Unbekannte in den weichen Schnee tief zu betten, hat die Schwester die Bretter zusammengerafft und rauscht damit ab ins Tal. Nur ein paar Ski hat sie zurückgelassen, und auf diesen fahren die drei Brüder. Richtig: zu dritt.

Die geschilderte Szene stellt einen Ausschnitt aus dem Film Familientrophäe annähernd dar. Die Akrobaten des Films: Der eine war schon einmal Weltmeister, der andere ist Europameister, und auch der dritte wird bald einen größeren Pokal ins heimelige Regal aus Zirbelholz stellen. Es sind die Gebrüder Ernst, Franz und, allen voran, Fuzzy Garhammer, und der Backfisch, hinter dem sie den Tiefschnee herfegen, ist deren Schwester Hedy. Sie sind allesamt Weltklasse im Freestyle, dem Skifahren unter erschwerten Bedingungen.

Was die Geschwister Garhammer im Film aufführen, läß dem Sonntagsfahrer das Blut auf Gletschertemperatur sinken. Geschwindigkeiten bis zu sechzig Stundenkilometer auf der Buckelpiste, der Lufttanz auf den Brettern mit Vorwärts- und Rückwärtsüberkreuzungen in Fahrtrichtung (Outrigger) oder das Drehen der Fußdauben um hundertachtzig oder gar dreihundertsechzig Grad (Twisting Manœvres) beim Ballett. Flattert dem wochenendlich den Idiotenhügel bewältigenden Freizeitpiloten schon bei einem Hüpfer über eine Weite von einem Meter das kleine Angstherz, müssen es bei den Freestylern schon Vorwärts-, Rückwärts- und Zweifachsalti sein. Für diese Hochleistungen üben die Skiartisten aus Europa und den USA bereits im Sommer auf dem Trampolin oder springen in voller Montur von der Mattenschanze ins Wasser, das bekanntlich ebenfalls keine Balken hat. Wer als quasi fortgeschrittener Schneetänzer den Umsteigeschwung schon beherrscht, der kann Skiballett und Buckelpistenjagd leicht erlernen, zum Beispiel für vierhundert Mark pro Woche bei den Garhammers, die sommers ihr Lager auf dem Kitzsteinhorn aufschlagen.


Flohmarkt: Savoir-vivre, 1978
 
Di, 28.12.2010 |  link | (2420) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ertuechtigungen



 

Das Spiel reißt Lücken

in die Literatur, verzerrt die Perspektiven und nimmt alle Farbe aus dem Leben.


Seit der 1975 vom seinerzeit schon jenseitigen Walter Jens voller Würde, allerdings nicht minder emphatisch vorgetragenen, also unvergessenen Republikanischen Rede, mit der er den geladenen Gästen des Deutschen Fußballbunds zugleich die Leviten gelesen hat, die der akademischen Welt den Fußball, der etwa seit 1968 und bis zu diesem Vortrag nur heimlich betrachtet und gehört werden durfte wie die Gesangsdarbietungen auf dem frängischen Grünen Hügel, wieder zurückbrachte, ist es schließlich statthaft, sagen zu dürfen: «Wenn ich den letzten Goethe-Vers vergessen habe, werde ich den Eimsbütteler Sturm noch aufzählen können.» Für mich eher schlichteren Zeitgenossen, der früher fürs Mannschaftsspiel zudem einen Stock benötigte, gilt das zwar nicht unbedingt, da ich mir dieses erbarmungswürdige Geldgekicke schon lange nicht mehr anschaue. Aber zu einer Weltmeisterschaft, das sei eingestanden, schiebe auch ich meinen Widerwillen zur Seite und setze mich vor dieses Fenster zur Welt.

Und so kommt denn auch mal wieder die Erinnerung hoch:

«Der Lorbeer krönt den glücklichen Erwählten, der den Nihilismus überwindet, ohne je diesen hartnäckigen Gegner gering zu achten oder zu unterschätzen. Er ist ein Sieger, der den Preis des größten, weitreichendsten und radikalsten Zweifels zählt.»

Ja, jetzt verbiege ich André Glucksmann. Aber es geht schließlich um Weltbewegendes. Und mir ist auch nicht bekannt, ob sich der vor ein paar Jahren wegen der Tatsache Gescholtene, Nietzsche über den Klappentext hinaus gelesen zu haben, für Fußball erwärmen kann. Aber er, der die Gefühle der Grande Nation kennt wie Ex-Adidas et Olympique Marseille-Präsident Bernard Tapie en taule, dürfte das ja — seit dem Sturm auf das Stade-de-France von 1998 (der überdies die Front National von Le Pen, dieser französischen Version eines österreichischen Rassenfanatikers, einige Verluste gebracht hat).

Also weiter in der Ver-Biegung: Nietzsche meinte: «Was bedeutet Nihilismus? Daß die oberen Werte sich entwerten.» Und Glucksmann fragt: «Was sind diese so hoch plazierten Werte? Es sind die, die dem menschlichen Wesen in der Welt einen Platz zuweisen.»

Aber sicher doch: Unsere Individuen Super-Mario in der Bodega des madrilenischen Finanzathleten Gil y Gil oder Loddar aufm Soccerplatz in the middle of no-where, im Abseits das Töchterlein von Müller-Lüdenscheid, die, wäre sie eine mittelmeerliche Nymphe, gut für die Griechenland-Werbung im Leo-Fernsehen posieren könnte: »Menschen, die nach wahren Werten suchen.» Aber sie ist nunmal blond und blauäugig. Und Loddar kann nicht Griechisch. Deshalb geben wir die drei, Weißbier-Mario, sie und ihren intellektuellen Stuka-Piloten, weiter ins Fernsehstudio nach Berlin-Mitte und letzterem das Wort:
«Heude, zum zu Ende gehenden zwanzigsden Jahrhundert, inmidden der Legissladurperiode, haben wir doch endlich alles: Jeder kann sich ein auf ihn zugeschniddenes Dier zulegen (und leisden). Dafür haben wir in unseren hervorragend geschniddenen 30 Quadradmedern mit Balkonedde doch immer noch ein Blätzschen. Nadur? Schaun Sie sich um. Der ganze Spreewald hat Blatz für uns auf unsern Moundenbeigs, niemand bedrängt uns, wenn wir sonntags fulldrässd und auf unsern Inlinesgäids ins südbayrische Hinderland umsiedeln. Wer von diesen Malochern aus der sozialdemogradischen Steinzeid konnte denn, nach ein bißschen Ständ bei, mal eben zwischen zwei Schbielen — oder auch, als Studdi, zwei Semesdern — zum Sörfen auf die Bahamas düsen, zwischendrin sisch auf'm Dadenhaiwäi ne Hodlain Blaind Däids reinziehn und nebenher an der Börse nochn bißschen zoggen? Damals, diese Dauben- oder Kaninchenzüchder. Mit ihrn Barzellschen vorm Backschdeinhäuschen. Diese Malocher mit ihrm Ehrgefühl, mid ihrm ‹Glassenbewußdsein›. Wir sind die Glasse. Wir sind die wahren Werde. (Ganzler, sprischd man des mit oder ohne h?).» Mario: «Mit K, Du Bocksbeudel.»
Ach, so lange ist es noch nicht her, als Ralph Köhnen im Laubacher Feuilleton kreiselte: »Fußball ist kommentarbedürftig wie abstrakte Kunst», und er charakterisierte, melancholisch-retrospektiv, das kompositorische Phänomen vergangener Zeiten, quasi in einem Ehrenbezeugungs-Suffix gegenüber dem Intellektuellen unter den deutschen Ballzauberern (jenem Conférencier, dessen TV-Suaden mittlerweile nicht minder kommentarbedürftig sind): «blitzschneller Flirt des Auges mit der Tiefe des Raumes».

Ja, unsere Jungakademiker durften wieder, nachdem der 68er den Fußball ins Abseits gebolzt und Ober-Rhetor Walter Jens ihn mit seiner fahnenschwingenden Apologie zum Geburtsag des DFB («... Versöhnung mitten im Streit») von 1975 wieder aufs Geviert gepredigt hatte. Und solches hatte er bewirkt: «Eine Textkultur des interpretatorischen Risikos ist gefordert: nicht sparsam zum Ziel zu kommen, sondern die Verschwendung, die Lust und den Plural zu riskieren als einen Umweg: als ein Abenteuer, das Leser und Text gleichermaßen zustößt», so der Jung-Rhetor 1991 in seinem Leid-Artikel, Günter Netzer oder der Diagonalpaß auch als Textkultur. Der Anglist, Germanist und Kunsthistoriker war es auch, der sich mit Sport-Sprech oder: Der Wontorra in uns allen um Moderation bemühte (sowie die schwatten Perlen vorab würdigte).

Nein, dies hier läutet keinen Abgesang auf Doctor Köhnens Sportkritik ein (befaßt er sich doch im folgenden mit einer weiteren olympischen Disziplin: den Biographien unserer Literaten). Es kündigt ein Hosiannah an: Der selige Karl Ruhrberg (von dem sich hartnäckig die Mär hält, wegen eines Fußballspiels seines kölnischen FC auch schon mal eine Ausstellungseröffnungslaudatio in seinem Ludwig-Museum an die Gattin delegiert zu haben) belegt, was uns bewegt: die Sportler und deren Ausflüge auf den Gipfel der Musen.

Allerdings: Den Lorbeer des Geistigen kennen wir. Er liegt täglich in unserer Gen-Suppe des Negierens (nicht von Eliten!). Wem aber der Kranz des Physischen geflochten wird, nach dem sehnen wir uns. Diesen Erwählten himmeln wir an. Und mag er noch so schlecht gewonnen haben vergangenen Sonnabend.

1999
 
Mo, 14.06.2010 |  link | (2842) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ertuechtigungen



 







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