Paritätisch coram publico

Was heutzutage via Chat, Elite-Partner et cetera pp. das Leben abenteuerlich gestaltet, waren früher Bekanntschaftanzeigen in den sogenannten seriösen Zeitungen. Auch ich beteiligte mich hin und wieder an diesem schönen Gesellschaftsspiel, in dem es meistens in der letzten Zeile der Selbstanpreisung hieß: Aus paritätischen Gründen Akademiker bevorzugt. Das war wohl der Anlaß, sich auf dem Markt der lateinischen Sprache, zumindest jedoch sprachlicher Mittel der philosophischen Antike zu bemühen. Da ich mich des öfteren nicht des Eindrucks erwehren konnte, die Paritätikerinnen kämen sprachlich bisweilen etwas orientierungslos von der Ziellinie ab, gab ich einen kleinen Nachilfe-Leidfaden heraus, den ich von Zeit zu Zeit verschickte; schließlich konnte man seinerzeit noch nicht eben mal bei Wikipedia nachschlagen. Heute kam er, nach weit über zehn Jahren, quasi als verspäteter Boomerang zurück, aus dem Archiv einer Dame, die beim Surfen auf den globalen Highways auf mich gestoßen war. Auch wenn eine Weiterführung nicht notwendig sein dürfte angesichts der voll informierten Gesellschaft, so will ich doch selbst belustigt über meine früheren abseitigen Beschäftigungen das Publico (auszugsweise) partizipieren lassen.

Werte Holly Golightly1,
ich habe, als Student der Bekanntschaftsanzeigen im 111. Semester, mein gerüttelt Maß an Leid und Mit-Leid gebündelt — für den Fall, daß Sie Ihren Fred nicht umgehend finden und nochmals coram publico Ihre Zugehörigkeit zu den sportlich-gebildeten Ständen demonstrieren müssen: ein paar Beispiele weiterer Entrées:

Ab Iove principium
Bei Jupiter ist der Anfang. Jupiter (Zeus) ist der römische Göttervater, «von ihm hat alles seinen Ursprung». Die Redewendung geht zurück auf Vergil bzw. auf den Anfang der Phänomena des Aratus in der Übersetzung des Germanicus, wo es heißt: «Von Jupiter anfangend, singet ihr Musen ...» (Vers 1)
Abusus non tollit usum
Mißbrauch hebt den Brauch nicht auf.
Ad arma
Zu den Waffen – gebräuchlich im Sinne von: ans Werk oder: Gehen wir (an eine Sache heran). Ad arma wurde schließlich zu ‹Alarm›.
Aequalis aequalem delectat
Der Gleiche macht dem Gleichen Freude. «Ähnlichkeit», schreibt Erasmus von Rotterdam, «ist die Mutter des Wohlwollens und die Stifterin von Beziehung und Freundschaft.» — Es kommen Junge zu Jungen, Alte zu Alten, Bayern zu Opel, Gebildete zu Lateinern et vice versa, Reiche zu Huren zu Luden, zeitgenössische Künstler oder Schriftsteller zu feingezwirnten Damen mit kleinem Latinum und großem Herzen. Aristoteles hat dies in seiner Nikomachischen Ethik so gesehen Semper similem ... Semper graculus ... Doch ebenso weist er, wie andere seiner antiken Kollegen, darauf hin: «Es ist klar, wen man beneidet; jedenfalls nicht diejenigen, die vor zehntausend Jahren gelebt haben oder in zehntausend Jahren leben werden [...]; nein, wir beneiden diejenigen, die uns von der Zeit, vom Ort, vom Alter, vom Ansehen und von der Abstammung her nahestehen.» Das Ergebnis ist unter Künstlern, herausragend in Köln, bisweilen theatralisch zu erfahren.
Aut Caesar aut nihil
Entweder Caesar oder nichts — im Sinne von: alles oder nichts. Wahlspruch des Cesare Borgia.
Canis a non canendo
Der Hund (wird Hund genannt), weil er nicht singt (vom Nicht-Singen). Ein spöttischer Ausdruck, der bei Varro in einem Werk über die lateinische Sprache aufscheint: Lucus a non lucendo.
Captatio benevolentiae
Haschen nach Gunst. Trachten nach Wohlwollen Höhergestellter; Gunstwerbung. Der Ausdruck wird Boethius zugeschrieben. Er war Minister Theoderichs des Großen, sein Hauptwerk führt den Titel Tröstung der Philosophie.
Cucullus non facit monachum
Die Kutte macht nicht den Mönch — Äußerlichkeiten haben mit dem Wesen nichts zu tun; in gewissem Sinne das Gegenteil des Sprichworts: Kleider machen Leute
De gustibus non est disputandum
Über Dinge des Geschmacks läßt sich nicht streiten.
Difficile est satiram non scribereEs ist schwer, eine Satire (darüber) nicht zu schreiben — bezieht sich auf Situationen oder Begebenheiten so grotesker Art, daß der Spott des Beobachters herausgefordert wird. Der Ausspruch geht zurück auf Juvenal.
Est modus in rebus, sunt certi denique fines
Es ist ein Maß in den Dingen, es gibt schließlich bestimmte Grenzen. Zitat aus den Satiren des Horaz.
Evitata Charybdi in Scyllam incidi
Ich bin der Charybdis ausgewichen und dafür in die Fänge der Skylla geraten — in (bekannter) Kurzform: Zwischen Skylla und Charybdis. Der Sinn des Wortes: Während man dem größeren Übel zu entgehen trachtete, geriet man ins andere. Homer ist es, der in seiner Odyssee erzählt, wie Odysseus aus Angst vor der Charybdis näher bei der Skylla vorüberfuhr und dabei sechs seiner Gefährten einbüßte. In seiner Aeneis schildert Vergil: «Diese Gegend soll einst, als beide Länder noch zusammenhingen, durch einen gewaltigen, verheerenden Einsturz auseinandergebrochen sein [...], riß mit seinen Wassermassen die italienische Seite von der sizilischen und durchspülte in brandender Enge die nun getrennten Fluren und Siedlungen. Das rechte Ufer hält die Skylla besetzt. Das linke die unbarmherzige Charybdis.» Skylla: «[...] die schrecklich bellende [...]. Zwölf Füße hat sie [...] und sechs Hälse [...] und auf jedem ein greuliches Haupt, und darinnen eine Reihe Zähne [...]» Charybdis: «[...] schlürft die göttliche Charybdis das schwarze Wasser ein. Denn dreimal sendet sie es empor am Tage, und dreimal schlürft sie es ein, gewaltig: mögest du nicht gerade dort sein, wenn sie einschlürft!» Also, sagt uns vergilsche Moral: Lieber Hab und Gut, jedoch nicht den Kopf verlieren; aber auch: äußerste Vorsicht walten lassen — sich also nicht so herumtreiben wie dieser Odysseus und sich demnach besser nicht zwischen beiden begeben. Doch ein weiteres führt Erasmus von Rotterdam an (womit wir beim Thema Errata wären): «Du hattest Angst, deine Bildung könnte zu wenig zur Geltung kommen, und hast dir dafür den Ruf eingehandelt, ein eingebildeter Protz zu sein. Das stimmt genau mit der verkehrten Fassung unseres Sprichwortes überein: Du bist der Skylla ausgewichen und dafür in die Charybdis geraten.»
Ex ungue leonem
An der Klaue (erkennt man) den Löwen — etwa gleichbedeutend mit dem ins Heitere übertragenen deutschen Sprichwort: Am Ringelschwanz erkennt man doch das Schwein. Der Gedanke, nämlich vom Teil aufs Ganze zu schließen, findet sich bei Plutarch.
Fide, sed, cui, vide!
Traue, aber achte darauf, wem! — analog dem deutschen: Trau, schau, wem!
Gutta cavat lapidem
Der Tropfen höhlt den Stein — eine Sentenz nach Ovid, aus dem Steter Tropfen höhlt den Stein wurde.
Hora ruit
Die Stunde eilt — ein Sinnspruch über die Flüchtigkeit der Zeit, der auf den niederländischen Rechtsgelehrten und Staatsmann Hugo Grotius de Groot, 1583 – 1645) zurückgeht.
Horror vacui
Grauen vor dem Leeren. Einer uralten Vorstellung nach besteht eine natürliche Abneigung, ein Grauen vor dem luftleeren Raum. Das Wort wird auch verwendet in der Bedeutung: Angst vor dem Nichts.
In acie novaculae
Auf des Messers Schneide — Nestor sagt im 10. Buch von Homers Ilias: «Denn jetzt steht es fürwahr auf der Schärfe des Messers, ob alle Danaer schmählich verderben sollen oder noch leben.» In Sophokles Antigone liest es sich so: «Bedenke, daß du wieder auf der Schneide des Schicksals stehst!» Und im Epigramm eines unbekannten Dichters läßt dieser Helena zu Menelaos und Paris sagen: «Speergewaltige Fürsten von Europa und Asien, für euch beide steht es auf der Schneide des Messers, wer mich Unglückliche zur Gattin gewinne.»
Mens sana in corpore sano
In einem gesunden Körper (wohnt) ein gesunder Geist, eine gesunde Seele. In der sogenannten Neuzeit, verstärkt seit Einführung der sportiven Autofolter interpretiert man diese Anrufung dahingehend, daß einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist entsprechen müsse (wobei letzterer infrage zu stellen ist). In der Antike wurde darunter jedoch eine Anrufung der Götter verstanden, sie mögen einem Kind sowohl einen gesunden Körper als auch eine gesunde, das heißt tapfere Gesinnung schenken; Sentenz nach Juvenal.

Nec aspera terrent
Auch Widerwärtigkeiten schrecken nicht.
Nosce te ipsum
Erkenne dich selbst.


Sollten Sie weitere Hilfe benötigen — meine Datei ist schier unerschöpflich. Denn: Homo sum, humani nihil a me alienum puto.

Viel Glück bei der Suche.


Nachtrag am 19. Februar 2012:
Auslöser für das oben angedeutete Vademecum (vielen wohl allenfalls als Mundwasser bekannt), das hat weiteres Stöbern in den digitalisierten Altakten ergeben, war folgende Anzeige in einer der «großen deutschen» Zeitungen.

Spielgefährtin gesucht, deren Geist nicht kreist, ein Mäuslein zu gebären, die den Steinbock lieber im Gebirge, die Natur nicht (nur) grünäugig und den Krebs bisweilen gerne im Topf sieht, Golf geographisch, Romantik historisch buchstabiert, zwischen 20 ist und 50, 150 und unendlich und keine nationalen Grenzen kennt – von passablem Kopf, weniger Apoll als apollinisch, nie genau in der Waage zwischen Solo und Duo, Albern- und Ernsthaftigkeit.

Die daraufhin eintreffende Post war zwar nicht in Säcken verpackt, aber von der Quantität her auch nicht gerade ein Sparpaket. Die Qualität veranlaßte mich dann allerdings zu einer neuerlichen Annonce, die die mich erreichten Werteangaben in etwa zusammenfaßt:

Sie, absolut klischeefrei: Altlasten (ohne), attraktiv (wie man sagt), Beine (im Leben), Blond (nicht blöd), Buch (das gute), Carpe diem, Dinner (bei Kerzenlicht), Entheiratet, Figur (top + EQ), first (class music), Herz (und Wärme), Investition (und Liebe), Jeans (und kleines Schwarzes), Gespräche (und Kamin), Golf (und Tennis), Gott (und Welt), Herz (und Bildung), Kunst (und Kultur), Gespräche (lang), Lebenstil (gehobener), Lesen (und Musik), Natur (frei), Neu(-anfang), Niveau, Outfit, Power(-frau), Reisen (ferne Länder), Rotwein (Kamin), Single (mal gerne gewesen, jetzt nicht mehr), Ski (und aprés), schlank (mit Formen), Unternehmen (und trotzdem), Vollblut (-frau; akademisch), weiblich (geblieben).
 
Do, 16.02.2012 |  link | (2074) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Niveau: auf gleicher Ebene

«wenn wir die ‹getrüffelte rauchschwalbenwangen an natternzungensorbet-region› betreten, wie ich die hoch(preis)gastronomie gerne nenne, spätestens. dass natternzungen nicht das lispel-werkzeug der kriechlinge sind, sondern auch in europa heimische farne, ändert daran nichts. gutes essen muss nicht teuer und schon gar nicht ‹exotisch› sein.»Q
Der Freund selig unterlag meines Erachtens dem Fehler, den die meisten sich als links Bezeichnenden fortsetzen. Er setzte, bis ans Ende seiner Tage, auf die bleibende Vermassung. Er berücksichtigte nie die Individualität, die in jedem einzelnen Wesen ihre Entfaltung sucht, beim einen mehr, bei der anderen weniger ausgeprägt; et vice versa. Fragte man mich, wie ich politisch einzuordnen sei, käme dabei eine zögernde Antwort heraus: links. Das Zögern aber nur deshalb, da ich mich in dieser Schublade ebenso nicht wohlfühle wie in der des (verkommenen) Liberalen, ich grundsätzlich nicht vor und gar nicht hinter all dem, sondern auf Seiten oder auch, je nach Anlaß, inmitten derer stehe, die sich für Gemeinsamkeit, für Gemeinwohl aussprechen. Also nicht das uninformierte oder desinformierende Nach- oder überhaupt Geplappere sogar sogenannter seriöser, aus der Wissenschaft kommenden Journalisten und Frankreich-Korrespondenten wie Gero von Randow von einer Gleichheit, die es selbst in der, nenne ich sie mal so, als Gesetzgebung aus der französischen Revolution hervorgegangenen Égalité nicht gegeben hatte. Sie bedeutet nichts anderes als Gleichheit vor dem Gesetz. Doch nicht einmal die hat man hingekriegt. So liegt es nahe, daß der Mensch sie sich wenigstens im oberflächlich betrachteten gesellschaftlichen Status herbeizuträumen versucht, vor allem dort, wo man es mit den sprachlichen feinen Unterscheidungen nicht sonderlich genau nimmt, genau nehmen kann, da die Bildungsbereitschaft auf einem Niveau verharrt oder bewußt gehalten oder gezielt dorthin abgesenkt wird, das mich bisweilen an die des Revolutions-jahrhunderts erinnert.

Das Halten oder Absenken fand überwiegend seit den achtziger Jahren statt, als die Nachdenklichkeiten vollends aufgegeben worden waren, nicht zuletzt, weil es versäumt wurde, auf das Individuum einzugehen, auch weil die neu entstandene Klasse der sich intellektuell höher Wähnenden intern aufgerieben oder auch kein wirkliches Interesse an Aufklärung hatte, wie es etwa zu Zeiten der Diderot und d'Alembert et coll. geschah. Beispielsweise über Kosmetik oder die Empfindung eines Akkords und sonstige Banalitäten wie Bibliomanie aufzuklären überließ man mehr oder minder ungerührt und auch weil man vielleicht selber aus der Klassenlosigkeit heraus im Niveau eine Stufe emporgestiegen war. Den Klassenkampf hatte man aufgegeben und es dem kohlschen Verständnis von Aufklärung überlassen, eine Gemeinschaft zu bilden. Das Privatfernsehen schuf sie. Das schuf eine (Wirtschafts-)Macht, die das Bildungsniveau gezielt absenkte. Das deutsche (das französische oder italienische und so weiter nicht minder) Volk begann vollends zu verblöden, nicht zuletzt deshalb, da die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten sich in Ihrer Programmgestaltung zunehmend an die Privaten anzupassen gezwungen sahen und Bedürfnisse befriedigten, die ich nur als niedere bezeichnen kann. Die Märkte sollten fortan alles bereinigen, eine mehr als fragwürdige Gleichheit herstellen.1983 hieß es fragend: «Wieviel Arbeit, wieviel Freizeit also wieviel Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte benötigen wir denn? Wieviele Sonderangebote, also leichtfertig gekauften und nach (meist baldigem) Nichtgefallen schwierig zu (wie sich ein euphemistisches, von Politikern geprägtes Modewort abzeichnet) entsorgenden Sperr-Müll, also Überflüssigem aus dem Baumarkt, der sich, bezeichnend für unser Geschichts- und Geschmacksverständnis und mit seinem kleinteiligen, um nicht zu sagen kleingeistigen Ornamentsangebot völlig gegenläufig zur klaren Struktur dieses Mutterhauses der Vernunft-Form verhält, vielerorts Bauhaus nennt?! Wieviel hat denn die Industrie, der Handel seinerzeit bei den überall propagierten Zweitbremsleuchten innerhalb einer kürzesten Zeitspanne umgesetzt — 15 Millionen Mark. Da hat man den ewig Sicherheitsbedürftigen gewaltig auffahren lassen.»

Der Club of Rome hatte einige Zeit zuvor bereits darauf hingewiesen, daß es mit dem Wirtschaftswachstum seine Grenzen habe. Nun merken es wieder ein paar wenige, wieder die Jüngeren, daß da irgendwie was schiefgelaufen sein muß. Aber über die Jahrzehnte hin war es diesen Gewinnmaximierern längst gelungen, jedwede kritische Sichtweise in den Hintergrund zu drängen. Sie war in der Masse versunken, die man angeblich (?) zu erreichen versuchte. Die Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte haben lediglich andere Namen. Die Masse plappert längst den Sprach(re)formern aus Indusrie und Handel nach, anstatt selber mal wieder in die Wirtschaft zu gehen und sich mit anderen zusammenzusetzen. Aber selbst wenn Sie's täten, erzeugten sie Transparenz, indem sie nebeneinander am runden Tisch hockend sich gegenseitig Kurzmitteilungen unverständlicher Art zusendeten, die via Gefühlsglyphen erklärt werden müssen.

À propos Sprache. Erst vorgestern hörte ich es wieder, noch erschüttert es mich: Zur sogenannten besten Sendezeit sprach so ein öffentlich-rechtliches Reporterinnen-Lieschen davon, die Mütze für das Hartz-Vier-Kind in der privat betriebenen Kleiderkammer sowie die Lebensmittel der örtlichen Tafel seien von den Händlern Soundso «gesponsert» worden. Weiß eine vermutlich gut ausgebildete Journalistin nicht einmal mehr, daß Sponsoring nichts anderes ist als der ökonomische Einsatz von Finanzmitteln mit dem Ziel der Gewinnmaximierung, also zur Förderung des Absatzes? Wenn sie wenigstens noch gesagt hätte, es sei mäzent worden. Diese ganzen Medicis wollten zwar auch nicht anderes als Kohle machen wie die Fugger in Augsburg, aber sie haben wenigstens, ohne das an die große Glocke zu hängen, ein paar Künstler am Leben erhalten oder auch reich gemacht oder ein paar Wohnhäuser gebaut, weil sie so etwas wie gesellschaftliche Verantwortung empfanden oder zumindest so taten.

Das ist versäumt worden. Die Masse hat sich im Materiellen aufgelöst und bekommt Individualität vorgegaukelt, die käuflich zu erwerben sei. Ich bleibe in Deutschland. Lieschen und Fritzchen Müller schauen und fahren massenweise in die Ferne. Man spielt ihnen via Fernsehen und Internet virtuell die Möglichkeit der Identitätsfindung zu. Man hätte sie nicht unbedingt an die Region der «getrüffelte(n) rauchschwalbenwangen an natternzungensorbet» heranführen müssen. Man hätte ihnen unter anderem vermitteln sollen, daß gutes Essen und Trinken zum normalen Lebensstandard gehört, den man gegebenfalls nur dann erreichen kann, indem man auf anderes verzichtet, das eben mehr Wert bedeutet als den neuesten Drittflachbildschirm in Söhnchens Zimmer. Man hätte Lieschen und Fritzchen klarmachen müssen, daß sie im Zweifelsfall auch ein Recht auf das haben, was ihnen als Spitzengastronomie vorgeführt wird und oftmals nichts anderes zeigt als ein durchschnittliches französisches Abendessen. Nein, die beiden regen sich lieber darüber auf, daß so ein Linker einen Porsche fährt und gerne gut ißt. Anstatt sich mit ihm zu freuen. Ich habe im Lauf meines Lebens sehr viel Geld in der Gastronomie gelassen. Es hat mir Freude bereitet. Ich möchte es, nicht zu vergessen, die dazugehörende Geselligkeit, die Gemeinsamkeit nicht missen.

Gute Nacht. Deutschland.


Vielleicht wache ich irgendwann wieder auf. Dann motze ich noch ein bißchen weiter so ins Unreine. Als ob ich mal was Anständiges gerlernt hätte.
 
Di, 07.02.2012 |  link | (2132) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Jugendsünde '68. Anderssprachig.

Denn wenn man auch auf den ersten Blick in die Versuchung geraten konnte, anzunehmen, daß die Vielfältigkeit der Sprachen dem Menschen zum Unglück gereicht und eine Trennwand zwischen den Völkern aufgerichtet habe, so bemerkt man doch bei näherer Betrachtung, daß dem nicht so ist. Ja, im Gegenteil, die Verschiedenheit der Sprachen gibt dem Menschen die Gelegenheit, die Vielfalt des menschlichen Geistes in sich aufzunehmen. So wird die Kenntnis der Sprachen zu einem unvergleichlichen Vorteil und einer fast unumgänglichen Notwendigkeit in der Ordnung der Dinge. Hier scheint es mir, daß gerade meine Landsleute, die Franzosen, sich etwas mehr anstrengen müßten, da sie lange Zeit glaubten, es nicht nötig zu haben, aus dieser Quelle der Menschenkenntnis zu schöpfen. Wie eingebildet sind doch diejenigen, die annehmen, daß wir keiner fremden Sprache bedürften, weil überall die unsrige geläufig ist. Abgesehen davon, daß in England zum Beispiel die Kenntnis des Französischen nur sehr ungenügend gepflegt wird, finden sich auch in Deutschland, wo nahezu alle gebildeten Leute französisch sprechen, aufs ganze gesehen nur wenige, die es wirklich beherrschen.» (Mirabeau)1
Ich hatte gestern auf eine interessante (Pflicht-)Lektüre beim hinkenden Boten verwiesen, in der es um Götz Aly und, mal wieder, um die schlimmen Achtundsechziger geht: ein Esel schimpft den anderen ein Langohr. Dort hatte ich auch kommentiert. G. hat mir darauf geantwortet beziehungsweise neue, andere Aspekte eingebracht und über ein anderes Blog auf solche verwiesen. Ich war dabei, zu entgegnen, als mir einfiel, daß mich bei dieser Thematik vielleicht doch nicht so die historische Dimension als mehr eine persönliche Sichtweise bewegt, die somit also auch weniger eine Entgegnung darstellt als einen das Thema erweiternder Eintrag. Deshalb äußere ich mich, auch der Länge wegen, in meinem Poesiealbum. Zur allfälligen '68er-Aly-Diskussion gehe man bitte wieder hinüber zum hinkenden Boten.

Ich sehe das vielleicht aus einem anderen Blickwinkel. Als ich, Sohn zweier Freigeister, von denen einer einer wurde, da er sich aus dem gelöst hatte, was man heute landläufig als konservativ2 bezeichnet, auch wenn es gar nichts bewahrt, sondern vielfach zerstört, aus einem traditionellen, tiefreligiösen Umfeld seiner Familie, als ich also um 1964 nach Berlin kam und sofort unter anderem die BRD bereiste, begegnete ich überall alten Nazi. Daran hat sich lange nichts geändert, und bei diesen Strukturen ist es aus meiner Perspektive bis heute geblieben, oder anders: sie scheinen wieder aufzuleben. Nein, ich meine nicht das, was so urmordsplötzlich in den Medien aufgetaucht ist. Ich kann es auch das altverbreitet Urkonservative nennen. Es ist möglicherweise das, was in den meisten, in uns allen steckt, vor dem sich manch einer sich richtiggehend fürchtet. Zähle ich mal Aly dazu. Zum Urwüchsigen. Ich darf munter daherplappern. Ich bin kein Historiker. Ich blogge, ich ramme einen Pflock in dieses leichige Gespenst.

Ich muß dabei beispielhaft an meine Mutter denken. Sie hat sich, nachdem mein Vater gestorben und eine gewisse, Anstand und Sitte gebührende, also rituelle Trauerzeit vorüber war, rasch einem Mann zugewandt, der sein Leben lang ein von Anstand, Ordnung und Sitte, quasi von den Preußen, letzten Endes von den Nazi geprägter Modellpolizist war, sie hat sich dann auch noch auf eine für mich unerträgliche Weise in ein geradezu seltsames Gefüge eingebracht: Sie hat, nachdem ich zuvor jegliches Erbe abgelehnt hatte, ihr passables Hab und Gut der Kirche vermacht, und zwar, ich fasse es bis heute nicht, der evangelischen. Mir wurde der mögliche Hintergrund erst sehr viel später klar, als ich von einem elsässischen Généalogiste erfuhr, daß der deutschhassenden, wohl weil zur Zwangsdeutschen ernannten Juive Familie ursprünglich, im 18. Jahrhundert hugenottisch war (ich gehöre demnach sogar historisch betrachtet Andersdenkenden, besser vielleicht Andersgläubigen an). Wer da wen und aus welchem Grund wohin konvertiert hatte, das entzieht sich meiner Kenntnis, da ich die (Werde-)Gänge meiner mütterlicherseits französisch-deutschen Verwandtschaft des Blutes nicht weiter verfolgt habe, da es mich lange genug verfolgt und ich konsequent alle angiologischen (dieser Terminus technicus muß jetzt sein, da er mich in letzter Zeit akut allzu sehr beschäftigt) Verbindungen abgebrochen hatte. Aber mir wurden mögliche Mechanismen, Automatismen klar, die da eingesetzt haben könnten: zu einem ordentlichen Leben und damit zur «Geborgenheit» zurückkehren zu wollen, die es einst in ihr gegeben haben mag. Von ihr kamen, in unserer freigeistigen Familie, Begriffe wie Zucht und Ordnung, nicht nur in der heutzutage im Prinzip fälschlicherweise nach einem alten Adeligen benannten und dem Ritual verpflichten Tischbenimmlehre, aber um so häufiger vor.

Ich werde das Gefühl oder auch die anwachsende Sicherheit nicht los, daß viele Menschen '68 als begangene «Jugendsünde» verstanden und sich deshalb wohl später davon nicht nur abwandten, sondern eine Gegenposition bezogen, die sie in Altbewährtes zurückbrachten, auf den «besseren Weg». Ich tendiere dazu, es den bequemeren zu nennen. Gestern sah und hörte ich von mich seltsam anmutenden, weil nicht wissenschaftlich abgesicherten Umfragen, aus denen hervorging, ein Großteil der deutschen Bevölkerung sehne sich («wieder») nach mehr Moral und dergleichen. Irgendwie lande dabei assoziativ bei dem erwähnten Philosemitismus, den ich sehr wohl, nämlich als unendlich verlogen miterlebt habe, der für mich meinungstechnisch immer springergelenkt war und woran sich bis heute nichts geändert hat wie bei den paar wenigen ebenso, die nicht diesem Meinungskonzern angehören, der allerdings mittlerweile allein dem goldenen Götzen Mammon huldigt — ein Konvertit hatte die Geldverleiher aus dem Tempel gejagt — und nicht einem möglichweise schlechten Gewissen wie bei seinem Gründer-Cäsar.

Nehmen wir den bei G. erwähnten Broder. Erinnern wir uns: Er war kurz in Israel, tätig für den Spiegel, meine ich mich zu erinnern, kehrte dann aber rasch reu- oder wehmütig (?) zurück. Ich nehme an, nenne ich's mal so, er meinte, von der BRD aus mehr für Israel tun, zum Beispiel später den Islam von dort aus besser an die Kandare nehmen zu können. Er schwang sich vor allem auf zum Redenschwinger für die Freiheit. Und die war nunmal, da sind wir wieder beim Meinungs-Cäsar, uramerikanisch, ur-US-amerikanisch. (Kurz-Exkurs: Mich ärgert spätestens seit Kohls mit Einführung des endgültigen Kommerzes vehement betriebener Abschaffung auch von '68, daß das andere Amerika, das lateinische, südlich gelegene, aus sehr vielen Ländern beziehungsweise Völkern und unterschiedlichen (Ur-)Mentalitäten bestehende immer durch das Rost fällt.) «Die Deutschen», (ich zitiere, auch fast zehn Jahre danach, die immer noch lesenswerten und äußerst amüsanten Briefe von Daniel Rapoport) gab er qua Religions-, also Gesinnungsamtes zu Protokoll, «würden ‹mit dem Holocaust im Gepäck› eine überlegene Moral beanspruchen, die sie zur Kritik an Amerika geradezu verpflichte.»

Ich sehe mich nachgerade verpflichtet, die nachfolgende Rapoport-Passage zu zitieren, um aufzuzeigen, daß es auch ein anderes (allerdings säkulares) jüdisches Verständnis gibt, das, ich getraue mich es zu sagen, von jemandem kommt, der '68 vielleicht gerade mal geboren wurde, aber dennoch aus einer Perspektive argumentiert, die '68 geboren worden sein könnte.
«Mit knirschender Feder setzt H.M Broder nun gegen jene an, die ‹alles relativieren› und den 11. September womöglich mit anderen Verbrechen vergleichen. Jedes Opfer hat zugleich mit seiner Opferrolle auch die Unvergleichlichkeit seines Leidens gepachtet. Vergleiche nivellieren das Leid, ja leugnen es geradezu. Also sind Historiker, die nur durch vergleichende Untersuchungen zu allgemeinen Aussagen gelangen können, unhistorisch. Aber weiter: Nun spritzt seine Feder Hohn, weil die Anti-Amerikaner plötzlich etdeckten, daß die USA kein Wohlfahrtsverein seien, sondern Weltmacht-orientierte Interessenpolitik betrieben. Setzt dagegen, daß auch deutsche Konzerne im eigenen Interesse handelten. (Radiumhaltig.) H.M. Broder kontert Little Bighorn, Dresden und Hiroshima mit einem schulterzuckenden ‹Na und?› Nun ist nicht jeder mit der Gefühlstaubheit des H.M. Broder geschlagen, allein das gehört beiläufig nicht hierher. Hierher jedoch gehört die Frage, wer denn nun ‹alles relativiert›? H.M. Broder relativiert ganz offenbar das Unrecht aneinander, seine Botschaft lautet: ‹Der Mensch ist schlecht, so what?› Wenn also dereinst (zB. Merz 2003) wieder einmal amerikanische Bomben auf den Irak fallen, dann sollen wir ‹Westeuropäer› aufgeklärt schweigen. Schliesslich hatten wir unsere zwei Weltkriege, unser Bosnien und unseren Kosovo, sollen die USA also ihr Hiroshima, ihr Vietnam und ihren Irak haben. — Dass es jemandem einfallen könnte, all diese Entgleisungen der Menschen, Amerikaner oder Deutsche, in Krieg und Jahrzehnte währendes Leid zu verdammen und vehement dagegen einzutreten, fällt H.M. Broder nicht ein. Dass ein Deutscher aus rationalen Gründen zur Kriegsgegnerschaft gelangen könnte scheint ihm absurd. Wahrscheinlich sogar, dass man überhaupt zur Kriegsgegnerschaft gelangt. (Dabei kann man durchaus beweisen, daß die Kulturlosigkeit auch ohne Krieg Bestand hat).»
Das ist, so meine ich zu wissen, eine Minderheitenmeinung. Wenn man die ungefähr 40,1 Prozent, die dem weiterhin seines Amtes waltenden bundesdeutschen Präsidenten keine zweite Chance geben würden, als Minderheit bezeichnen kann. Es bleiben gestern und vorgestern besagte 59,9 Prozent. Darunter dürften sich viele befinden, die '68 lediglich insofern noch in Erinnerung haben oder aus mehr oder minder dubiosen Büchern kennen, daß damit Anstand und Sitte, vor allem aber Zucht und Ordnung zusammengebrochen sein sollen. Zucht und Ordnung mag man das heutzutage zwar nicht mehr nennen, das wäre dann doch zu wenig zeitgenössisch oder zeitgeistig zu inkorrekt, aber Anstand und Sitte darf schon noch oder wieder sein. Mir klingt dabei jedoch die vielbeschworene Moral in den Ohren. Das wiederum ist eine, bei der etwas mitschwingt, das gut in die heutige Zeit paßt: moralinsauer. Ein ehemaliger Bundeswehrsoldat hat mir mal erzählt, man hätte ihnen früher etwas ins Essen getan, das die unmoralischen Triebe in Sitte und Anstand umwandeln solle: Hängolin habe man's genannt. Mir hat '68 Antrieb zu einer Freiheit des Denkens und durchaus auch des Handelns gegeben, die offenbar und mit der Verkrampfung der Zeit davor in die Schranken zurückverwiesen werden soll. Da dürften ziemlich viele Fehler auch oder gerade des Denkens unterlaufen sein, wie das nunmal ist innerhalb einer Ausbruchs-, Aufbruchs und Probephase. Aber einer der größten Denkfehler scheint mir in den, wie der hinkende Bote schreibt, «leichtfertigen Parallelen zwischen 33 und 68» von Götz Aly zu liegen. Das läge mir schon näher: «Gerade schießt mir Herzogs ‚Ruck’-Rede in den Kopf und ob sie auch — auf der persönlichen Ebene — unter dem Aspekt späte Rache interpretierbar wäre?» Mir schwebt trotz allem Perönlichen wie da oben bei der Rede Herzogs doch eher «die geistig-moralische Wende, [...] die Propagierung liberaler Wirtschaftspolitik» vor. Mich «freigeistig» Erzogenen, mich bald auf die Siebzig Zugehenden hat Achtundsechzig befreit, hat mich in fortgeschrittenem Alter mehr denn je zu klaren Gedanken gebracht. Wenn andere sie auch für wirr, für die Verwirrtheit eines sich nicht aus seinen Jugendsünden lösen Könnenden halten mögen.

Zur '68er-Aly-Diskussen übergebe ich gerne wieder zurück an den hinkenden Boten.


Um eine Fußnote lesbar zu machen, fahre man mit dem Cursor mitten hinein in die jeweilige Ziffer.1
 
Di, 17.01.2012 |  link | (2972) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Die schmuddeligen böhmischen Kinder von der Rue de Turquie

Peur de la saleté. Rupophobie. Qui nait poule aime à gratter. Wer als Huhn geboren wird, liebt das Scharren.
«Wer die Verteidigung der Architektur des Nationalsozialismus [...] aus Unwissenheit mit seinem Augenlicht bezahlt und dafür den Georg-Elser-Preis erbeutet (ohne ihn jemals bei Lichte betrachten zu können), dem blüht mehr als nur dieser Verlust.

Wer waren nur diese Schmuddelkinder, mit denen wir nicht spielen sollten? Noch zeigen sie Schuhe, bald werden es Stiefel sein!»
Das lese ich bei meiner Vorleserin und freue mich dabei über Einemarias «angedeuteten Kuss auf Ihre Wange». Ich stutze bei «Stuttgart erwache» und dem, der «den Georg-Elser-Preis erbeutet (ohne ihn jemals bei Lichte betrachten zu können)». Ich schlage nach, erfahre, daß der Betroffene Dietrich Wagner heißt, und beschließe, die Angelegenheit, meine Gedanken dazu hierher auf meine Seite rüberzuheben, da das thematisch den abgrenzenden Jägerzaun unseres vielleicht nicht minder kleingärtnerisch parzellierten Gedankenaustauschs bei der Kopfschüttlerin umlegen oder dort gar eine winzige Brisanz ihr zur Last hineinwehen könnte, die ich besser bei mir auf den Kompost lege. Nein, kein Skandal. Nicht noch einen Skandal. Sonst wird angesichts dieser Inflationiererei demnächst aus einem auf seinem Weg zum Adel unglücklich verunglückten Politiker noch ein König oder gar ein mit Pantoffeln winkender Führer.

Mir war der Name Dietrich Wagner unbekannt, vermutlich weil ich ein Nichtsehender bin. Aber als Einemaria mit ihm im Zusammenhang den Georg-Elser-Preis erwähnte, wurde ich stutzig und guckelte mit der (vermutlich wegen der auch Monopol genannten, von der Masse im Rahmen des sozialen Marktes freiwillig zugestandenen Übermacht immer dürftiger werdenden) Suchmaschine der Retter des Regenwalds ein bißchen herum. So gelangte ich zur Preisverleihung des vergangenen Jahres und zum Gefühl, es handelte sich um ein Familientreffen samt Freunden von Hella Schlumberger.

Ohne jeden Zweifel ist dieser Preis der ihre, letztendlich hat sie für ihn gesorgt und auch dafür, daß der Ort ihrer Wohnung gegenüber, den enorm viele aufgeklärte Münchner kennen, etwa der damals ab und an schauspielernde Modellvater (ach, Wikipedia, du brave Hofberichterstatterin) samt Kollegen und Hofstaat et cetera, der sich wie andere dort auf dem Laufsteg der Türkenstraße vom adriatischen Eisessen oder künstlerisch etwas bedeutenderen Filmen im (ehemaligen) Kino Türkendolch erhol(t)en, zum Georg-Elser-Platz umbenannt wurde. Ich kenne die Historie, nicht nur, weil ich quasi über zwanzig Jahre im Viertel wohnte, denn auch nach meinem Umzug kurz vor Tschernobyl aus einer Seitenstraße an den Rand des Olympiageländes lobte ich weiterhin in diesem Dorf den Tag weit über den Abend hinaus. Hinzu kam meine professionelle Tätigkeit als öffentlich-rechtlicher Kulturvermittler, der vielen dieser mehr oder minder bei sonstwas engagierten, genauso wichtigen Menschen wie ich zugeführt wurde. Man kennt sich also, es war, wie das eben so ist auf dem Dorf und unter mehr oder minder Gleichgesinnten oder von einer Mischpoche, wie in einer großen Familie, man wußte, was die anderen trieben, was und wieviel ein jeder trank oder eine jede sich an sonstigen Drogen zur Erhaltung der Lebensfreuden reinzog. Man zählte (sich) gerne zu den wohl immer schon von den mindestens 59,9 Prozent der Gesellschaft so gesehenen Schmuddelkindern der Siebziger bis weit in die Achtziger und auch noch in die Neunziger, bis der Kommerz die Schlacht endgültig gewonnen und der amtskettenliebende Meister aller guten Münchner Bürger sich angeschickt hatte, nicht nur denen mit dem guten alten sozialdemokratischen Gewissen ozapft is zuzurufen, gleichwohl zu den priviligierten im Elfenbeinturm, denen Volkes Meinung zwar nicht egal war, weil man sich doch immer wieder bemühte, am Erzeugen von Stimmen und Stimmungen beteiligt zu werden, sich aber im tiefen Inneren nicht wirklich ernsthaft dafür interessierte, solange man friedlich von seinem Glashaus aus das Geschehen beobachten konnte. Die Gefahr, daß man mit Steinen beschmissen würde, war gering in dieser Randlage von Schwabing. Es war eher ein Teil des ins Operettenhafte hineinlappenden La Bohème, wie wir naheliegend das Lokal in der Rue de Turquie der Maxvorstadt auch nannten: La Böhme.

So ist es nur logisch, daß ich auch sie kenne; kannte, muß es richtig heißen, es ist mir schließlich vor zwölf Jahren gelungen, dem größten Dorf der Welt zu entfliehen. Nichts gegen sie, weil ihr politisches Engagement und entsprechende Aktivitäten wirklich nicht abzusprechen ist, zum Beispiel in den Siebzigern das für die Kurden und anderen mehr. Aber wenn ich mir die Liste der Redner des letztjährigen Georg-Elser-Preis so anschaue, dann kommen in mir neuerlich die Zweifel auf, die mir bei ihr ohnehin nie fremd waren, beispielsweise, daß sie immer schon gerne geliebt worden wäre. Die Liste hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, deren mögliche, über die Geistesverwandtschaft hinausgehenden Hintergründe mir nicht bekannt sind, die Charakteristik einer Kleinfamilie. Der von mir überaus geschätzte Claus Biegert, ja, immer ein politischer Kopf gewesen, der aber irgendwie bei den Indianern verschwunden ist. Klaus Hahnzog, der ehemalige SPD-Unteroberbürgermeister und jetzige bayerische Verfassungsrichter. Der Söllner Hans und der Raith Sepp, die Anderskulturellen. Dann die zwischen der Ludwig-Leopoldstraße und der Amalienstraße, einer Parallelstraße der Türkenstraße gelegene Akademie der Bildenden Künste. Dieter Rehm, von dem ich noch nie ein politisches Wort gehört, überhaupt einer der Stillsten, die ich je gerade noch so vernommen habe; nun gut, ein jeder hat das Recht, sich nicht nur über ein hohes Amt weiterzubilden, zu entwickeln, hier das des Akademie-Präsidenten, dessen Vorgänger vis-à-vis der Platzgestalterin wohnt. Gudrun Köhl, nicht einmal vom Volkslexikon Wikipedia berücksichtige ehemalige Chefin des in Stadtmitte, also nicht mehr zur längst bis bald nach Nymphenburg ausgeweiteten Maxvorstadt zählenden Valentin-Karlstadt-Musäums, der 2003 vom jetzigen bayerischen Beinahe-Ministerpräsidenten Christian Ude ein Blumenstrauß und die Medaille München leuchtet überreicht wurde. Allesamt großartige Menschen. Aber zu Georg Elser?

Einen Mann mit diesem Preis zu versehen — «wobei erneut die laut Statut zuständigen Institutionen übergangen wurden» —, nur weil er nichts mehr sehen kann, der, wie ich ebenfalls Wikipedia entnehme, «davor mit Ausnahme seiner Studentenzeit in Tübingen kaum politisch aktiv» war, das mutet mich ein wenig seltsam an, ich tendiere dazu, es komisch zu nennen. Am gegenwärtigen Prozeß des zu- oder abnehmendem Demokratieverständnissses unter den 59,9 Prozent, also derjenigen, die sich vermutlich auch das fränkische Burgherrlein als Nachfolger für das Schaf im Wulffspelz vorstellen können, dürfte es nicht allzu weit entfernt sein.

Bei Georg Elser fallen mir schließlich dann doch andere Fachleute ein, die dazu etwas zu sagen gehabt hätten, etwa Hellmut G. Haasis, der nicht nur Die Verwurstung des fähigsten Hitlergegners geschrieben hat. Aber wer weiß, möglicherweise wäre er mit dabei gewesen, hätte man ihn eingeladen. Dann hätte er möglicherweise seine Sätze näher erläutert, die da lauten:
«Seitdem Elser in der Berliner Gedenkstätte deutscher Widerstand 1995 eine Sonderausstellung bekam und Helmut Kohl im Fernsehen ein paar Sätze dazu abließ, geriet Elser kurz in den Sog der Heiligsprechung. Schließlich ist [er] in der Geld- und Mediengesellschaft sankrosankt und als Sinngeber anerkannt, wer im Fernsehen abgefeiert ist. Für den Heiligsprechungsakt genügen 20 Sekunden.

Man darf sich nicht wundern, dass bei einer solchen verordneten Anerkennung Elsers Persönlichkeit und Motive auf der Strecke bleiben. Das geschieht mit Absicht. Weggehobelt wird, was sich nicht zur Befriedung und Einschläferung und Verdummung, zur Unterhaltung und zum Aufbau eines unkritischen Stolzes verwenden lässt.

Bei der Rezeption von Elsers Beweggründen wurden seine Antriebskräfte verkürzt. Eine gesellschaftliche Zensur, durchaus nicht selten, aber wenig reflektiert. Elser hatte trotz Folterungen, Schlafentzug und ständiger Bedrohung durch bewaffnete Gestapoleute im Verhör erklärt:

‹Ich stellte allein Betrachtungen an, wie man die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg vermeiden könnte.› (Haasis S. 173)

Das soziale Motiv steht an erster Stelle. Heute ist, auch nach meiner Biografie, mit Hängen und Würgen der Kriegsgegner Elser akzeptiert, der Kämpfer für soziale Verbesserungen der Arbeiter bleibt unter den Teppich gekehrt.»
Aber wahrscheinlich bin ich nur neidisch, auch nicht eingeladen worden zu sein. Vielleicht wüßte ich es dann besser. Aber ich will immer nur motzen. Und das habe ich nun von meiner ständigen Schimpferei auf Isar-Athen.♣

1 À propos Motzen: Ende der Siebziger wollte ich eine Zeitschrift gründen mit dem Titel Motz. Enthalten sein sollten Rundfunkbeiträge, die von Hauptabteilungsleitern bis hin zum Intentanten abgelehnt worden waren mit der Begründung mangelnder Qualität, wobei aber eindeutig zuviel Kritik an Kirche und Gesellschaft ausschlaggebend war. Ausgangspunkt war die Sendung einer Kollegin über Otto Muehl, in der dieser wohl allzu ausschweifend den Begriff Ficken zu erläutern trachtete. Der damalige Redaktionsleiter setzte sich über das Sendeverbot hinweg, da er den Beitrag kulturell als für zu wichtig erachtete. Allerdings legte er über jedes inkriminierte Wörtchen einen Ton von ich weiß nicht mehr wievielen Hertz und sendete spätabends. Am nächsten Tag gab es im Sender nur ein Thema: die Piep-Show. Der Herr Redakteur machte im Haus keinen Stich mehr, leitete aber später, lange nach einer Karriere in einem großen Verlagshaus, die Hauptabteilung Kultur einer heute allüberall sehr geschätzten Rundfunkanstalt mit Sitz in Berlin. Aus Motz wurde nichts mangels Angebot. Die Schere im Kopf hatte damals bereits ihren Siegeszug angetreten. Anfang der Neunziger durfte ich mich dann wenigstens am Laubacher Feuilleton beteiligen, das via blogger.de unter weiterblättern zu erreichen ist.
 
Sa, 14.01.2012 |  link | (2030) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Nachhaltig einen an der Glocke

oder einen Sprung in der Form (auch Schüssel genannt) haben.

Meine Vorleserin hat mir wieder einmal etwas vorgelesen, das mich in, wie üblich, unsinnige oder alles andere als sinnliche Grübeleien versetzt hat.

Ich frage mich manchmal, ob die hohe Zustimmung, die aller Deutschen Bundespräsident (die anderen Lichtgestalten nicht zu vergessen) seitens der breiteren Bevölkerung zukommt, damit zu tun hat, daß sie genauso denkt, etwa nach dem Prinzip: Das würde doch jeder so tun, wenn er nur könnte. Tatsächlich halte ich das, spreche ich jetzt mal von langer, von nachhaltiger Berufserfahrung, für gängige Praxis, und sei es die im, mangels größerer Möglichkeiten, Kleinen.

Eine weitergehende Überlegung ist die, nach der der Untertanengeist, für den mir Kadavergehorsam passender erscheint, bei vielen (um den Begriff Masse politisch korrekt und einigermaßen elegant zu umschiffen) möglicherweise in der pädagogischen Erbmasse steckt. Anerzogenheiten (Karl Valentin: Kinder müssen nicht erzogen werden, die machen sowieso alles nach) sind — hier paßt der Begriff nachhaltig vortrefflich, der ein Klassiker ist, von dem allerdings manche meinen, er sei von den früher gegen alles seienden und nun um der, selbstverständlich demokratischen, Macht willen alles mitmachenden Grünen erfunden worden. Karl Friedrich Wilhelm Wanders Deutsches Sprichwörter-Lexikon, einem «Hausschatz für das deutsche Volk», hier die seinerzeitige Neuauflage von 1964, fällt mir dabei ein, das Niels Höpfner in den Neunzigern wieder ins Gespräch brachte, in dem es, wie auch hier bereits einmal als Motto gebannert, hieß:
Quemadmodum omnium rerum, sic literarum quoque intemparantia laboramus: non vitae, sed scholae discimus.
dessen Übersetzung lautet:
Wie in allem, so leiden wir auch in der Wissenschaft an Unmäßigkeit: nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.
Dem Aufklärungs- oder Korrekturversuch schenkte einmal mehr kaum jemand Geles'. Wieder mal der gute alte deutsche Dichter Schiller gerät mir dabei ins wirre Gedankenspiel, der geschrieben hat: Die Wahrheit ist nur mit List zu verbreiten. Damit hat er wohl die Unterhaltung gemeint, wenn ihm auch die heutige televisionäre noch nicht so ganz vorgeschwebt haben dürfte. Ich komme deshalb darauf, weil Johannes Mario Simmel mir gegenüber das schillersche dramaturgische Prinzip als das seine bezeichnet hat. Des Nationalheroen ziemlich langes Gedicht wäre ebenfalls als Vergleich für Nachbetung, meinetwegen auch die unchristliche Gebetsmühle, heranzuzuziehen, die wegen des schönen deutschen Klangs ebenfalls auf Dauer in den Windungen festgemachte Glocke, die noch jeder Schüler wie einst 333 — Issos Keilerei auswendig gelernt hat und bei dem häufig bis heute höchstenfalls die Metapher für deutsche Tugenden hängengeblieben ist:
Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden.
Frisch Gesellen, seid zur Hand.
Von der Stirne heiß
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben!
Doch der Segen kommt von oben.
Der vaterländischen Weltbürgerin Edith Pabst könnte das von ihrem metropolischen Dorfschullehrer auch auslegungsfrei eingebleut worden sein. Sogar mir, der ich in Auslanden zur Schulen ging, rann dabei der Schweiß. Jedenfalls habe ich solch unerquickliche Gedanken, wenn ich der Patriotin Äußerungen lese, die den Brief an den Mitbürgerpräsidenten, der eben auch der ihre ist, begleiten:

«Ranklotzen sollen sie da, wo es zunutzen des Staates ist, das würde uns viel mehr interessieren
Wir sind kein einig Vaterland, solange dieser Zwist wie Pest umher geschleust wird, und man bedenke wie man das im Ausland auch bewertet»

So hebt man das deutsche Ansehen im Ausland. Wenn man schon keinen König mehr haben darf, vor dem die adligen Eliten der Restwelt strammstehend zu paradieren haben.

Wichtig ist, daß man dabei, auch wenn man vorm Fernseher sitzend nur eher passiv beteiligt sein darf, selber gut aussieht, also anständig angezogen und so. Man möchte als Mitbürger schließlich niemanden auf schlechte Gedanken bringen.
 
Mi, 28.12.2011 |  link | (3513) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Bis auf den FKK-Bereich keine Änderung

Keine Unhöflichkeit. Eher das Gegenteil: Ein der unsäglichen Länge wegen hierher verlagerter Kommentar auf Das Projekt der Dezivilisierung.
«Soweit ich Norbert Elias verstehe, beschreibt er den Prozess der Zivilisation als unilinear, wenngleich wellenförmig. Hin und her, aber vorwiegend hin. Hin zu feineren Sitten und besserem Verhalten — besser entspricht hier mächtigerem. Die Sitte als Machterhalt, Zivilisierung als Abgrenzung zum Pöbel. Zivilisierung als Kampftraining für den Mächtigen. Sein Handeln auch mal im Zaum halten zu können, um die Rache noch fieser zu gestalten. Wir sind sicher keine militaristischen Spartaner, aber was macht uns zu einer Zivilgesellschaft?»
Ich gestehe, das Buch damals zur Seite gelegt — wahrscheinlich, weil ich lieber hopsen gehen oder den Ku'damm rauf- und runterfahren wollte — und es seither auch nicht wieder in die Hand genommen zu haben. Meine dürftige Erinnerung mündet allerdings in das schmalen Wissen, daß er die Entwicklung vor allem am Beispiel des Hofs des Sonnenkönigs aufgezeigt und nicht als Gesellschaftsmodell für die Neuzeit propagiert hat. Aber ich weiß zuwenig, um Elias' Nähe oder gar seinen Einfluß auf heutige gesellschaftliche Verhaltensweisen sub- oder objektiv, auf keinen Fall seriös beurteilen zu können.

Die an der Oberfläche wieder auflebende Bürgerlichkeit als Ursache für heutige Strömungen heranzuziehen, ist das nicht ein wenig überzogen? Mir ist nicht bekannt, daß seine Schriften neuerdings wieder diskutiert würden. Oder bin ich zu schlecht informiert? Und ich frage mich, aus der Sicht Ihrer Argumentation, darüber hinaus, ob Elias auch nur ahnen konnte, wohin die Gesellschaft(en) sich entwickeln würde? Ich bezweifle, daß er diesen nun herrschenden weltumfassenden Frühkapitalismus dieser mit allem handelnden, alles zu Geld machenden Rabauken in neuhöfischen Gewändern im Blickfeld haben konnte. (Es wäre wohl besser, erstmal einen Ausflug auf den mit Kartons bücherner Vergangenheit — bei mir wird nichts weggeworfen, oder besser: keiner will's haben — beladenen Dachboden zu machen und nach dem Buch zu fahnden [es kann allerdings sein, daß die Mäuse das Gestern zerfressen haben]).

Ihrer Perspektive stimme ich in Ihrer Argumentation (und der von Noëlle Burgi sowie allen so Denkenden) absolut zu. Was Griechenland betrifft, war mir klar, daß es so kommen würde, daß diejenigen das würden ausbaden müssen, die am wenigstens dafür können; ich habe es auch immer wieder mal angedeutet, bin aber deutscherseits größtenteils auf Mißfallen gestoßen. Aber das mit Elias zusammenzuführen, das käme mir nicht in den Sinn — siehe oben.

So muß mein Kommentar mir zur Randbemerkung geraten: «Wieder mehr Verantwortung für den Einzelnen ...». Ja. Das heißt aber auch im Umgang miteinander. Wer nur aufeinander eindrischt, wer fortwährend pöbelt, weil ihm fortwährend über die Medien eingeredet wird, er habe Rechte, in der Arztpraxis, in der Bahn, beim Kramer, im Supermarkt, und es in Umlauf gerät wie eine Latrinenparole, bei der der eigentliche Inhalt des meinetwegen «gesitteten» oder auch moderaten Umgangs miteinander verloren geht, der darf nicht damit rechnen, daß es ihm freundlich aus dem Wald zurückschallt. Halten Sie den freundlichen, meinetwegen höflichen Umgang miteinander für einen Auswurf des Machtstrebens? Ich meine mit Höflichkeit nicht das angelernte US-amerikanische Verkaufsgeflöte und auch nicht die neu zu lernenden Rituale derer, die letztendlich doch so gerne den Anschein des Höfling trügen oder zumindest des späteren Bourgeois lange nach der Révolution — dieser Tage kam mir auf dem Bildschirm doch tatsächlich ein lebender, wenn auch nicht sonderlich lebendiger Freiherr von Knigge unter, also nicht der alte Echte, der für gutes Benehmen als Zeichen höheren Selbstwertgefühls wirbt —, sondern die von innen kommende, die zwar als Begriff seine eigentümologische Wurzel am Hof haben mag, aber meines Erachtens etwas wie Freundlichkeit und Respekt zeigt. Ich bringe das mir mittlerweile überall begegnende rüde oder rüpelhafte Benehmen nicht unbedingt mit freiheitlicher Gesinnung zusammen. Wahrscheinlich fehlt mir dazu die Kreativität, die der Jugend grundsätzlich innewohnt.

Zweifelsohne läßt sich die sogenannte Zivilisation kritisch betrachten. Gründe dafür haben Sie angeführt, in diesen Fällen stimme ich Ihnen, wie gesagt, zu. Aber wenn ich kritisch betrachte, dann muß ich vorher das Hirn einschalten. Das jedoch scheint mir bei allzu vielen im westlich konsumentaristischen Kulturkreis, die laut nach Freiheit rufen, nicht der Fall oder nicht möglich zu sein. Das mag mit dem Machtgefüge zusammenhängen, mit dem wieder herbeigewünschten Wir-da-oben-Ihr da-unten. Dann sollte man aber als ersten Versuch mal eine Änderung herbeiführen wollen, die nicht darauf hinausläuft, Karl-Theodor zum Traummann der Nation zu erklären. Das sind, wie Untersuchungen ergeben haben, in weiten Teilen SPD-Wähler (die auch Herrn Sarrazin liebhaben und gleichzeitig noch mehr in eine Mitte namens Clement oder Metzger oder Seeheimer oder sonstwie gerückt werden wollen), solche, die immer Angst um ihre Arbeitsplätze hatten und haben, weil man sie ihnen ständig einredet und sie deshalb daran glauben wie an den Teufel und das Gegenmittel Weihwasser und deshalb auch die Griechen und überhaupt alle Ausländer für faul halten und so weiter und so fort. Sie und noch ein paar andere haben sich nicht dagegen gewehrt, als es ihnen ans gemütliche Leben ging, sie haben immer dieselben wiedergewählt, haben sie schalten und walten lassen. Und sie werden sie wieder wählen. Das ist es, was ich an dieser Haltung hasse, diesen Untertanengeist, den ich lieber Kadavergehorsam nenne und der sich aus der schlimmsten aller Faulheiten rekrutiert, der des Denkens, deren Mangel über alles das wohlige Tuch der Bequemlichkeit, der Gemütlichkeit breitet.

Ob sich das nun in «Deutschland den Deutschen» oder «Deutschland sucht den Superstar» oder sonstwie ausdrückt, das ist dabei unerheblich. Wer von denen geht denn auf die Straße, wenn es etwas zu protestieren gibt? Vor welcher deutschen Börse sind sie denn in Massen aufmarschiert, als es gegen die Hauptverursacher dieser Katastrophe ging (die ihren Anfang bereits in den Siebzigern nahm, als die Proteste bereits wieder abnahmen, als durch den besten aller US-Amerikaner, diesen Nixon, diese ehrenwerte Gestalt, das monetäre Gegengewicht zum Papier, das Gold, quasi in die Leere heutigen Finanzgebahrens aufgehoben wurde)? Sie gehen lieber zum noch lebenden oder renaissancierten Freiherrn Knigge Benimm lernen oder machen mit ein paar Tragerl Bier, das sie aus dem Volksfernseh kennen, zuhause Hitzparadenabend im stillgelegten Luftschutzbunker. Wer hat denn letztlich in Stuttgart demokratisch für die Tieferlegung eines Bahnhofs, zuvor in Hamburg für ein elchiges Einkaufsparadies gestimmt? Wer wird in München, wer in Frankfurt am Main für eine weitere Startbahn, stimmen? Das sind dieselben, die uns damals in Berlin und anderswo angebrüllt haben, wir sollten gefälligst rübermachen. Das sind dieselben, die gerade wieder wegen dieses friedlichsten aller Feste in den Kaufhäusern Schlachten schlagen, als ob es um Verdun ginge. Das sind dieselben, die sie wieder wählen werden. Ob sie nun Merkel oder Schäuble oder sonstwie heißen mögen. Das ist der Pöbel — den Sie vermutlich nicht meinen. Obwohl ich mir da nicht sicher bin, ob das nicht aufs gleiche hinausläuft. Die einen brauchen ihren globalisierten Volksglauben namens iApfel, die anderen ihren Flachbildschirm, der ihnen täglich aufs neue vermittelt, daß sie Rechte haben und sich dementsprechend aufführen in der Arztpraxis, im Supermarkt, beim Krämer, in der Bahn, die so selten fährt, weil sich wegen Nichtstuns nichts ändern wird außer beim FKK. Dabei ist es ihnen doch völlig wurscht, wo die Geräte und unter welchen Bedingungen und von wem sie montiert werden. Hauptsache sie sind billig. Wie das essen, das sie Essen nennen und deshalb kein Glücksempfinden kennen.

Weil sie eine Auffassung von Kultur haben, der meinem Verständnis von Zvilisation ganz gut täte.
 
Fr, 16.12.2011 |  link | (1723) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Diplomatie der unteren Stände

Höflichkeit ist eine Zier, doch besser geht's auch ohne ihr.

Mutter schmeißt Baby aus dem Fenster, so oder so ähnlich schlagzeilt das Blatt, bei dem ich immer daran denken muß, daß es sich zu nichts anderem eignet, als damit allen möglichen Menschen mal in diese vier Buchstaben zu treten. Es ist jedoch keineswegs nur dieses Blatt, von dem ich seit Jahrzehnten gerne sage, daß ich nicht einmal als seit Tagen toter Fisch darin eingewickelt sein möchte. Das geht bis zur Weigerung, Opa aus der Nachbarschaft dieses lediglich mit allerärgstem Analogkäse in Verbindung zu bringende Blatt mitzubringen. Die Millionen Fliegen, die nicht irren können, assoziiere ich, wenn ich seniler Bettflüchtling beim vermutlich einzigen Bäcker in ganz Norddeutschland, der ein sogar recht wohlschmeckendes Ciabatta produziert, Espresso (nun ja) trinkend auf den Lieferwagen warte, im Blickfeld den Verkaufsständer mit vier verschiedenen Zeitungen, aus dem Hereinkommende nahezu ausnahmslos zu diesem Osservatore pauperum greifen. Doch nicht nur das greift ständig zu diesem Kammerton des gesunden Volksverstandes, genügend andere, weitaus mehr als die drei darbenden seriösen Zeitungen in diesem Blätterwäldchen bedienen sich dieser immerwährenden Volksweise, die allerorten erklingt, auch in bewegenden TV-Bildermagazinen, mögen sie nun Brisant oder Leute heute heißen: Wie das nur geschehen konnte! Dabei war sie doch so höflich und zuvorkommend, die Mutter. Nie kam laute Musik aus der Wohnung, und ihren Müll hat sie immer sauber getrennt.

Wie ich darauf komme? Der gute alte, auch nach seinem zweihundertsten Todestag noch jünger daherkommend als die renaissancierten, ewig nach hinten Klagenden dieses Wider die Theaterverhunzer, das sind diejenigen, die so ahistorisch und werkungetreu Geschichte in die Aktualität (ver)zerren, dieser Claus Peymann hat es ausgelöst, er hat's endlich mal wieder zurechtgerückt, was anläßlich dieses ganzen andächtigen Todestagsgeschwurbels in den Medien völlig untergegangen oder auch von ihnen unterdrückt worden zu sein scheint: Heinrich von Kleist war von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden, die sich ohnehin alles mögliche angeeignet hatten, was ihnen in den Rahmen ihrer scheußlichen Ideologie paßte, nicht nur, weil dieser preußische Offizier gegen die Franzosen kämpfte. So einer darf sich sogar umgebracht haben, auch wenn das eigentlich streng verboten ist im Land der christlich-jüdischen Leidkultur. Er war schließlich deutscher Dichter, da spielt ein unstetes Leben quasi als Landfahrer ohne festen Wohnsitz, sozusagen als Zigeuner lediglich eine Nebenrolle. Auch wenn er den Geheimrath zu Weimar mal duellieren wollte: Er ist schließlich deutsche Volkskultur. Man kennt es: Michael Kohlhaas, den Ernst Bloch einen «Don Quijote rigoroser bürgerlicher Moralität» nannte. Und dann Der zerbroch'ne Krug, für den man gerne sein Tourneetheaterabonnement nutzt und sich dann überhaupt nicht darüber wundert, welch ein höflicher und zuvorkommender Mensch dieser Dorfrichter Adam doch eigentlich ist; als Musical täte der sich sicherlich auch gut eignen tun. Nicht schließlich dieses Über das Marionettentheater, für dessen Bewegung man ebenfalls abonniert hat im städtischen Marionettentheater für Kinder, weil die von der Einheit von Kunst und Leben eher eine Vorstellung haben, die in ihrer Anmut nachgerade romantisch daherkommt, wie im Mittelalter, in dem der Franzosenkaiser Charlemagne, der im anderen Nationalbewußten eigentlich ein deutscher Führer war, auch wenn diese Lande bis fast zu den Preußen noch als Kleinstaaten immer fröhlich und bunt wie beim heutzutagigen mittelalterlichen Handwerkermarkt vor sich hinträumten oder sich, je nach Geisteshaltung, gegenseitig massakrierten wie Karl der Große einst die Sachsen, die daraufhin endlich zu christlichem Kreuze krochen. Da darf man auch schonmal die Fäden aus der Hand verlieren und ihm andichten, er hätte schließlich aus Liebe erst seine Gefährtin und anschließend sich erschossen. Wie bei Petra Kelly und ihrem deutschen Offizier Gert Bastian, wenn die auch nicht unbedingt in diese Art der Märchenvermittlung paßten. Ein Weltverbesserer sei er gewesen, dieser Kleist, meinte Peymann, ein Revolutionär. Und er, Peymann, und noch ein paar andere wissen auch, daß dieser Kleist nicht unbedingt einer gewesen war, bei dem keine laute Musik aus der Wohnung gekommen wäre und Zweifel daran bestehen dürfen, daß er seinen Müll immer sauber getrennt hätte. Selbst in der ständig auf der Suche befindlichen Erinnerungsarbeit meines Dachstübchens hat er seine Spuren hinterlassen, seine Denkpraxis habe ich mir angeeignet, wenn auch nicht ganz so werkgetreu, bei der allmählichen Gedankenverfertigung.

Oder so: Feuriger Schutz ...
Französisches Exerzitium
«das man nachmachen sollte:

Ein französischer Artilleriekapitän, der, beim Beginn einer Schlacht, eine Batterie, bestimmt, das feindliche Geschütz in Respekt zu halten oder zugrund zu richten, placieren will, stellt sich zuvörderst in der Mitte des ausgewählten Platzes, es sei nun ein Kirchhof, ein sanfter Hügel oder die Spitze eines Gehölzes, auf: er drückt sich, während er den Degen zieht, den Hut in die Augen, und inzwischen die Karren, im Regen der feindlichen Kanonenkugeln, von allen Seiten rasselnd, um ihr Werk zu beginnen, abprotzen, faßt er mit der geballten Linken, die Führer der verschiedenen Geschütze (die Feuerwerker) bei der Brust, und mit der Spitze des Degens auf einen Punkt des Erdbodens hinzeigend, spricht er: «hier stirbst du!» wobei er ihn ansieht — und zu einem anderen: «hier du!» — und zu einem dritten und vierten und alle folgenden: «hier du! hier du! hier du!» — und zu dem letzten: «hier du!» — Diese Instruktion an die Artilleristen, bestimmt und unverklausuliert, an dem Ort, wo die Batterie aufgefahren wird zu sterben, soll, wie man sagt, in der Schlacht, wenn sie gut ausgeführt wird, die außerordentlichste Wirkung tun.»
Paris, den 14. Juli Zitiert nach: Heinrich von Kleist: Werke in einem Band, hrsg. v. Helmut Sembdner, Carl Hanser Verlag, München 1966, Anekdoten, Seiten 782f.

So langsam darf die Gesellschaft die berechtigte Frage stellen, ob ich auch so ein Mörderbube bin, der vielleicht heimlich Kleinstkinder aus dem Fenster schmeißt und andere, nur weil sie Fremde sind und deshalb keinen Nationalstolz haben können, einfach umbringt. Ich bin verdächtig, alleine deshalb, weil ich ein immer höflicher und zuvorkommender Mensch bin. Weshalb das so ist, spielt dabei keinerlei Rolle. Es ist nämlich alles nur gespielt. Da mag das noch so seine Wurzeln haben. Ich bin nämlich französisch erzogen worden. Man stelle sich das in der Art vor: Ich habe im Supermarché jemanden versehentlich touchiert, drehe mich herum, schaue den Berührten in die Augen und entschuldige mich gerührt für diese Tat. Und zwar von Herzen kommend. Denn ich bin verzückt von Schönheit. Doch die ist eine Frage der Ästhetik, kommt also von innen und will draußen als Anmut gefallen. So gesehen hat sie mir oftmals geholfen beim Erstürmen von Herzen. Stehe ich in einem Berliner oder Münchner (Hamburg und sein, nicht nur der geldfette, Speckgürtel scheint die Ausnahme von der Regel) Supermarkt und jemand schiebt mir den Einkaufwagen in die Achillessehne, wird er mich fragen, warum ich hier so dumm herumstehe. In Frankreich, dem Land der köpferollenden Revolution geht man höflich miteinander um. Im deutschen Land des Gehorsams trennt einem der Kadaver die Achillessehne ab, wahrscheinlich, um nicht mehr flüchten zu können. Aber es ist wohl alles eine Frage der Auslegung des Begriffes Ästhetik.

Es mag daran liegen, daß diese Höflichkeit sozusagen eine urfranzösische Angelegenheit ist. Trotz allem wird sie häufig auch rechts des Rheins als Kompliment mißverstanden. «... il soutint sa thèse pour le doctorat d'une façon si remarquable, qu'elle lui valut les compliments des professeurs», schrieb Gustave Flaubert in seinem 1869 erschienenen Buch Lehrjahre des Gefühls, da buckelt einer, in meiner wirren Auslegung, vor den Professoren. Ich bin zwar ein höflicher Mensch, mache mir aber nichts aus Komplimenten und verteile sie auch höchst ungern, da ich sie mit dem Höfischen, den Höflingen in Verbindung bringe. Das sind diejenigen, die vom Sonnenkönig in den goldenen Käfig von Versaille gesperrt wurden, wo sie nichts anderes durften, als ihm ehrerbietig Komplimente zu machen. So ist das bis heute geblieben. Wo man auch hinschaut in diesem Land, das ich, ja nun, da halte ich's eher mit einem Deutschen, der zum «Vaterland» gesagt hat, er liebe seine Frau, aber ich tue mich da auch leicht, schließlich ist's ohnehin mein Mutterland; doch ich vaterlandsloser Geselle bekomme bereits bei dem Begriff Patriotismus Probleme. Kurzum, alljährlich feiert man mit riesigen Aufmärschen La Révolution, von der schon Kurt Tucholsky anmerkte, die meisten wüßten kaum noch, weshalb sie am 14. Juli auf die Straße gingen. Und doch sehnt man sich kaum nach mehr, als selber ein bißchen alter Adel sein zu dürfen. Es gibt dazu keinen Kitsch, der zu schade wäre, nicht doch ein sonniges Plätzchen in der durchgeistigten Haltung zu finden. Da hilft nicht einmal die (fast) strikte Trennung von Kirche und Staat. Einmal katholisch, immer katholisch. Wer an den Himmel glaubt, der will hinein in ihn, will wenigstens ein bißchen Niederadel, unterer Stand sein. Das sind diejenigen, die am niederen Wild nagen durften, den Karnickeln und Wachteln et cetera. Und so etwas wird heutzutage wohl deshalb gezüchtet in den euroglobalistischen Bachelor-Aufzuchtstationen.

Daß ich solch ein höflicher Mensch geblieben bin, gleichwohl nie katholischer und auch kein hugenottischer oder was es sonst noch gibt auf diesem Schlachtfeld christlich-jüdischer Liebe zum Andersseienden, dafür kann ich nichts. Wir schon Heimito von Doderer bemerkte: «Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.»

Um meinen guten alten Bekannten werde ich mir keine Gedanken mehr machen müssen, der in seiner unhöflichen Art jedes Dankeschön gegenüber Dienstleistern mit der Begründung verweigerte, er bezahle schließlich dafür. Diejenigen, die sich nicht so benehmen, wie es die Gesellschaft von ihnen verlangt, stehen nicht mehr unter Verdacht. Jetzt sind solche Höflinge wie ich dran, allesamt Mörder, aber höflich und zuvorkommend.
«Man stürmt heute keine Bastillen mehr. Das äußerlich greifbare Symbol ist seltener geworden, und man muß schon ein bißchen künstlich nachhelfen, wenn man einer modernen revolutionären Bewegung zu Gedenktagen verhelfen will. Die Unterdrücker sitzen nicht mehr in einem einzigen Palast der Stadt, der zu stürmen wäre, Banken stehen an jeder Ecke, selten gerinnen Reaktion, Nutznießertum und die Pest der Unterdrückung zu einem Mann, zu einem Haus, zu einer Fahne. Das Leben spielt sich heute auf dem Papier ab, in Telefondrähten, an der Börse. Schwer, das zu stürmen und den Sturm kenntlich zu machen.»
Paris, den 14. Juli

Verwirrt ab zum Sturm ins Nickerchen.
 
Di, 22.11.2011 |  link | (5087) | 17 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Versuch der Befreiung von der alten Emanzipation

Das Hauptproblem «in dieser Debatte um PoC, Gender usw.» scheint mir zu sein, daß sich ohnehin viel zu wenige Menschen für die Thematik interessieren. Das geht bei der Emanzipation los, mündet in den Mäander der Geschlechterdefinitionen und verliert sich dann sozusagen naturgesetzlich im unendlichen Meer der Ahnungsloskeit, da kein bißchen Horizont mehr in Sicht ist. So lesen sich auch einige Kommentare auf der Seite von DA. Man beharrt gerne auf dem bequemeren Status quo, der kaum neuere Fragen zulassen will.

Erst gestern wieder sah ich mich im kleinen Familienkreis gezwungen, einer jungen Frau erklären zu müssen, welche Bedeutung die weibliche Bewegung vom kleinen Unterschied und den großen Folgen auch für sie haben sollte. Sie hat mir nicht sonderlich gespannt zugehört. Und als ich erläuterte, wie schwierig es für bereits ältere Menschen ist, den neuen Definitionen oder auch Reizwörtern in der Genderdebatte zu folgen, wenn schon die jungen das mit einem schlichten Was soll das überhaupt? abtun, kam es zum Streit. Das auf diese Weise kundgetane Desinteresse der erst in Germanistik und dann in der Juristerei Karriere machen wollenden und dann doch lieber überhaupt erstmal pausierenden Studentin hatte mich aufgebracht, vor allem deshalb, da ich gerade über die Komplexität des Themas gesprochen hatte und ich merkte, daß sie mir gar nicht richtig zuhören wollte, als ich die Zusammenhänge von Befreiung und Emanzipation, wenn ich das mal so wissensfrei erklären darf, versucht hatte zu erläutern. Aber möglicherweise lag's an meiner zweifellos vorhandenen Ungeduld, vielleicht, weil ich an die Fast-Germanistin erinnert worden war, die mir Mitte der Neunziger eine DIN-A-4-Seite mit einem nicht einmal übermäßig anspruchsvollen Text zur Literaturrezeption mit der Begründung zurückgereicht hatte, sie verstehe das nicht. Es mag auch daran gelegen haben, daß ich mal wieder zu Adam und Eva zurückgekehrt war: über PoC zum Farbigen, zum Schwarzen, zum Neger, zur in den USA, in Südafrika et cetera auch heute noch gebräuchlichen Bezeichnung Caucasian, zum Herrchen wahrlich nicht nur in Ländern oder Kontinenten mit überwiegend dunkelhäutiger Bevölkerung, zu Nationalbewußtsein, Kolonialisierung und so weiter.

Noch nicht allzu lange ist es her, daß mich die verärgerte Abwehrhaltung einer jungen Frau sehr irritierte, von der ich aufgrund ihres auf mich südländisch wirkenden Aussehens wissen wollte, wo genau ihre Wurzeln wurzeln, weil mich das von jeher interessiert hat und auch weiterhin interessieren wird, das ich mich mittlerweile aber fast nicht mehr zu fragen getraue, um nicht Gefahr zu laufen, als politisch unkorrekt oder schlicht unhöflich dazustehen. In Frankreich, wo ich solche Fragen immer wieder mal stelle, beispielsweise, weil ich wissen möchte, ob meine bei mir alles andere als rassis(tis)ch orientierten Kenntnisse in der Physiognomik noch in Ordnung sind, ob ich richtig liege mit Tunesien oder Algerien, ist mir das noch nie passiert, daß ich deshalb angegiftet werde. Im Gegenteil, häufig genug ist es geschehen, daß mir jemand freundlich lächelnd erzählend den gesamten Stammbaum mitliefert, etwa die junge Frau in der Kneipe im Butte aux Caille, über deren dunklen und gekräuselten Locken über ihrem fast extrem hellhäutigen Gesicht ich verwundert war und die daraufhin mit mir über ihre berberische Familiengeschichte plauderte, die sie, wie sie es nannte, bis zu ihrer barbarischen Herkunft, also vermutlich zu den Vandalen, zurückverfolgt hatte.

Diese in Deutschland zunehmende rigide Abwehr gegenüber Fragen nach der Abstammung halte ich für nicht weniger ignorant als das oben geschilderte Desinteresse. Es gibt nunmal Menschen, die unter anderen Bedingungen als den heutigen aufgewachsen sind. Und oft genug frage ich mich und andere dabei, warum die aus anderen Regionen dieser Erde ins Land Gemischten nicht hin und wieder mal über den Tellerrand ihrer Einbürgerung zu blicken versuchen. Von der Problematik der Kolonialisierung wurde Deutschland schließlich lediglich qua Befreiung durch die Befreier befreit. Anderen Ländern wie etwa dem bereits erwähnten Frankreich, aber auch Belgien, den Niederlanden oder Großbritannien hing und hängt das einfach noch länger an. Mir kommt die heutige Diskussion manchmal vor, als ob Hoffmann von Fallersleben gerade das Lied von den Deutschen geschrieben hätte, als es die in der heutigen Form noch nicht gab, weil von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt alles in Kleinstaaterei zerfasert war, was er geändert haben wollte, für das er seinem Verleger Campe von Helgoland aus schrieb Aber es kostet fünf Louisidor! und in dem es heißt: Einigkeit und Recht und Freiheit.

Das sollte fürwahr herrschen (auch hierbei hat ein Wandel in der Begriffsbestimmung stattgefunden). Dazu gehört aber nunmal das Wissen, die Bereitschaft, sich zu informieren und nicht einfach die Geschichte revolutionär in die Luft zu sprengen wie ein lästiges, das Neue behindernde Denkmal. Wer über Geschlechter und Befreiung debattieren will, sollte zumindest annähernd wissen, um was es geht. Aber vermutlich ist es der Vorteil fortgeschrittenen Alters, der die Einsicht beschert, daß man ohne die Bereitschaft, nicht nur nach hinten, sondern auch nach vorn hinzuzulernen, stehenbleibt. Das will auch ich nicht. Also muß ich mich zunächst einmal ausreichend über die Genderdebatte informieren, bevor ich hier weiterhin spekuliere, mich in die Wüste der Logorrhoe begebe und am Ende gar bei Zusammenhängen ende, die zwischen dem einen und dem anderen bestehen könnten, beispielsweise dem bewußten oder unbewußten «Reproduzieren von Herrschaftsstrukturen» bei der Rede über die Geschlechter oder gar Rassen, die es zwar nicht gibt, die aber in einer älteren Sprache nunmal so hießen.
 
Mo, 07.11.2011 |  link | (2377) | 15 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

BiBook oder EiFrau?

Wunderbar war das tatsächlich, was man linksrheinisch da zusammengestellt hat, das war höchste fernseherische Qualität. Wunderbar war es sicherlich auch im Hinblick auf mein Wundern, das seit meiner Kindheit anhält: das über die Frauen. Eine Phase gab es in meinem Leben, in der ich, wohl angeleitet von der ideologisch motivierten Einswerdung der sechziger, siebziger Jahre, straff behauptete, es gebe keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Letztere hat mich eines Besseren gelehrt, hinzu kamen die ersten eigenen Gedanken, die die zeitgeistigen Fehlstörungen anderer korrigierten. Eins bin ich mit mir, daß sie etwas Wunderbares sind, aber bis heute uneins darüber, was sie treibt, nicht alle, aber sehr, sehr viele, ausgerechnet uns Männern gefallen zu wollen, die wir alles andere als sanft und liebreizend mit ihnen umgegangen sind und das nach wie vor auch nicht unbedingt tun. Selbst wenn ich den Geist der Zeit in Zolas Au Bonheur des dames* ausblende und mich auf die heutigen Gegebenheiten konzentriere, komme ich nicht umhin, mir darüber im klaren zu sein, daß es nichts als eine perfide Erfindung der Männer ist, Geld zu machen beziehungsweise zu scheffeln. Dann werde ich wieder unsicher, frage mich, ob da die männliche Ichbezogenheit nicht doch von ihrem Zwillingsbruder, dem eineiigen, bisweilen auch altes Ego genannt, angetrieben wird, sich für seine miesen Taten auch noch belohnen zu lassen, indem er sich sozusagen zweiseitig am Anblick erfreuen und das alles dann Verführung nennen darf.

Da ist sie wieder, die berühmt-berüchtigte Frage, was zuerst da gewesen sei: die Henne oder das Ei. Hat Steve Jobs seine Produkte später wohl deshalb so benannt, weil ihn die Erkenntis vom Apfel im Paradies der Dame(n) übermannte, die ihn schließlich dem Herrn überrreicht hatte? (Bi[ddy]Book wäre allerdings auch nicht unbedingt das Gelbe vom Ei gewesen.) Es waren nach meiner Beobachtung nämlich zuerst die Frauen, die, als das feine EiBüchlein ins Kaufhaus der äußerlichen Verführung ausgeliefert worden war, damit hantierten. Ich erinnere mich recht gut an die leicht hochgezogene Augenbraue einer Dame, die mir alleine wegen ihrer schlichten, also eher edlen, ergo applikationsfreien Gewandung aufgefallen war. Sie hatte anfangs des neuen Jahrtausends leicht naserümpfend ihr eigenes edles Rechteck aus der großen Damenhandtasche geholt und es auf den Tisch der schnellen Bahn gen Buchmesse gelegt, um damit vermutlich einen Vortrag über die frauenspezifische Literaturrezeption zuende zu bringen (während all die Männer um sie herum mit Gerätschaften herumfuhrwerkten, und sei es, daß sie sich damit schlechte, irgendwelche computeranimierte Streifen aus der Nähe von Los Angeles anschauten, deren Aussehen ihrer funktionalen Eindimensionalität unterworfen war: Einsen und Nullen kämpfen aktionsreich gegeneinander). Eine Münchner Freundin, die ich nicht nur ihres feinsinnigen und -sinnlichen Äußeren wegen gerne anschaute, war eine der ersten, die ihre Aufsätze zur Pädagogik der Flickerlteppichfamilie zwischen Tür zum Kindergarten, der immer freundlichen Studentenbegrüßung im Hörsaal, nachmittäglichem Besuch samt quengeldem Nachwuchs in der Eisdiele und der spätabendlichen Angel des Intellektualisierens in ein EiBuch fließen ließ, während der ständig müde Gefährte die ihn einzig beschäftigende Vorstufe seiner mediologischen Studien zum optischen Wissen über Maler und Dichter, über Wege zur Kultur wohnungstechnisch abgeschirmt in einen nüchtern genannten pränordkoreanischen Schlepptop hackte. Mit Wonne erinnere ich mich des Eindrucks, den die junge Dame in ihrem unauffällig schönen Sommerkleid auf mich machte, als ich ihr souverän männlich den guten Rat gab, es sei nicht nur der Funktion, vielleicht auch der Schönheit ihres süßen kleinen EiBüchleins möglicherweise abträglich, die Tasse mit dem Kaffee darauf abzustellen, selbst wenn der von Einstein persönlich produziert worden sei. Die dennoch freundlich oder höflich geblieben war und gar ein paar Sätze mit mir austauschte, selbst dann, als ich sie auch noch ablichtete, daß ich mich beinahe in Frankreich wähnte, wo man Damen in der Regel (ohje, aber das bleibt jetzt so stehen) ablichten darf, ohne Gefahr zu laufen, inhaftiert zu werden.


Und da muß ich schon wieder an Schuhe denken. Barrierefrei geht das ineinander über. Nicht nur in meinem Kopf, der von einem Virus namens Schuh-Tick befallen ist. Das ist der rechte Platz für einen wie mich. Während man im Bon Marché später den Männern sogar einen Lesesaal einrichtete (heute würde man vermutlich EiMäcks installieren, weil die bürgerliche Welt auch animierte Eins-gegen-Null-Spiele gerne in elegantem Äußeren ausführt), habe ich im Einstein nur einen Schritt in das Paradies, nach rechts in das der Damen, nach links in das der Herren. Mir ist in dem zu recht erstgenannten wohler. Die Schuhe der Männer sehen nahezu ausnahmslos aus wie die von ihnen konstruierten und ver- sowie gekauften Automobile oder das, was sie ansonsten noch sinnvoll nennen. Wobei der anzunehmenderweise von ihnen geschaffene Begriff High Heels eine mich neuerlich spaltende, in meinen Ohren obendrein nicht unbedingt reizvoll klingende Bedeutung bekommt.

Womit ich endlich bei der Emanzipation angekommen wäre. Auf Rädern dahergerollt scheint die mir immer wieder zu sein, wie auf einem Laufband der Lehre von der industriellen Evolution. Das eine ums andere Mal werde ich den Verdacht nicht los, dem Erfindergeist des schöpfenden Herrn Gott könnte die einmal mehr ensprungen sein, um aus einer scheinbaren Befreiung reichlich Kapital zu generieren, wie das mittlerweile heißt. Nicht zuletzt beim neuerlichen Lesen von Monsieur Émiles Roman stoße ich mich immer wieder an Ecken und Kanten, wie sie offensichtlich bevorzugt von Männern konstruiert und produziert werden. (Es erinnert mich an die Antwort eines Studenten der Münchner Kunstakademie auf die Frage einer Kommilitonin, weshalb seine Plastiken allesamt so unharmonisch und scharfkantig seien: Rund seid ihr doch schon! Er ging später in der Tätigkeit eines Kunsterziehers auf.)

Aber ich verstehe ohnehin zu wenig von Gender und so. Gestern habe ich zum ersten Mal das Kürzel PoC gelesen. Was ein Kaukasier ist, das wußte ich noch, wurde ich lange genug als ein solcher bezeichnet. Staunend bestätige ich auch den Anwurf des Altherrenwitzes, obwohl ich vermutlich selber einer bin. Da geht überhaupt etwas ab, in dessen sich ständig verändernden Kryptographie ich trotz zunehmender Weisheit einfach nicht hineinkomme. Am Ende ist's gar so, wie beim Anhalter durch die Galaxy, daß wir Männer die weißen Mäuse sind und die Frauen aus dem Überirdischen kommen. Wer weiß, vielleicht hat auch Zola das nicht nicht gemerkt. Denn Véronique Cnockaert kriecht dabei in meine verkalkten Windungen, die in etwa geschrieben hat:

Dieses neue architektonische System, das Eisen und das Glas, folglich der feste Körper und die Kraft, verbunden mit der Leichtigkeit der Grazie und der Transparenz. Diese Kombination der Kontraste mußte dem Romancier gefallen. Dieser Dualismus des aufleuchtenden Modernismus im zweiten Reich: über die gewagten Verkaufstechniken, über diesen erobernden Materialismus hinaus bietet dem naturalistischen Schriftsteller die Mittel, gleichzeitig die Physik und die Moral des Individuums des 19. Jahrhunderts zu behandeln.

Sag' ich's mal mit Rainer Candidus Barzel: Ich gucke da nicht mehr durch. Zwar gebe ich mir alle Mühe, im dritten Jahrtausend anzukommen. Aber bisweilen beschleicht mich das Gefühl, noch nicht einmal aus besagtem 19. Jahrhundert herausgekommen zu sein.


* Ich würde den Buchtitel übrigens oder ohnehin näher am Original übersetzen und das Ganze Vom Glück der Damen nennen.

Jetzt dringendst Mittagsheia.

 
Do, 03.11.2011 |  link | (4019) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Europa und ihr Stier

Ausgeliehen bei Eduthek Schule Austria


Eigentlich wollten wir über diesen großen deutschen Philosophen nicht mehr debattieren. Doch nachdem Hans Pfitzinger in seinem tazblog uns derart ins Schmunzeln gebracht hatte, mußten wir alle guten Vorsätze beziehungsweise die Erkenntnis, Totschweigen sei die am ehesten funktionierende Negativkritik, dahinfahren lassen:
Mit einer Meldung von der Kulturseite: Peter Sloterdijk bekommt den Lessing-Preis für Kritik, und ein Satz aus seinem neuen Buch (hört der denn nie auf?) wird auch zitiert — um zu unterstreichen, daß er den Preis verdient hat? Also sprach Sloterdijk: Lessings Ringparabel sei ein Versuch der «Domestikation der Monotheismen aus dem Geist der guten Gesellschaft».

Dann doch lieber DJ Bobo, über den Kirsten Riesselmann auf derselben Seite schreibt. Seine Philosophie verstehen die Menschen wenigstens: «So, Leute, ihr nehmt jetzt den linken Arm hoch, dann den rechten, und wenn der Rhythmus einsetzt, klatscht ihr alle im Takt die Hände zusammen! Genauso, toll!»
Wie sprach doch unser Hausphilosoph Werner Enke vor vier Jahrzehnten: «Es wird böse enden.» Damit war irgendwie auch das geistig-moralische Deutschland gemeint. Und das ist ja bekanntlich angekommen.

Beschreibe ich's mal so: Da kaum jemand Peter Sloterdijk versteht — und damit ist nicht nur sein Genuschle gemeint, lediglich unterbrochen von den Hilflosigkeiten, auch nur einen Satz halbwegs unfallfrei zuende zu sprechen —, er also weiter keinen Schaden außerhalb seiner Jüngerschaft anrichten kann, wurde ihm (für Intellektuelle) besten öffentlich-rechtlichen Sendezeit die Möglichkeit gewährt, einen gewissen Bekanntheitsgrad über sich hinaus zu erlangen. Diejenigen, die bereit sind, sich dieses gegenaufklärerischen Geraunes wegen das Höhrrohr anzulegen, bewahren somit einen Philosophiebegriff, der sich keinen Jota von der Ironie des spitzwegerischen Dachkammerdenkers wegzubewegen gedenkt: der dialogische Austausch der Philosophie verliert sich unterm Regenschirm des vermeintlich Elitären. Das paßt zu diesem Land, in dem das hermetisch vernagelte Kryptische als Synonym für geistige Vollendung steht und das gerne mit Lobpreisungen bedacht wird, gegen die ihre Namensgeber sich nicht mehr wehren können.

Nun gut, im Zusammenhang mit Herrn Professor Sloterdijk gehen die Meinungen auseinander. Zwar hatte ich bei Schmoll et copains mal geäußert, es gebe «Bücher, die sollte man einfach nicht mehr in die Hand nehmen. Man sollte sie in den tiefen Kartons auf dem Dachboden des Vergessens belassen.» Aber offensichtlich soll dem nicht so sein, zumal gerade Sloterdijk für ein historisches Bewußtsein plädiert. Und das las sich 1994 bei ihm so:
«Der jähe Ausfall von vierzig Millionen Toten hatte die Atmosphäre in Schwingung versetzt, eine mystische Emission, die an den Lebenden zehrte wie eine grenzenlose Schuld.»
Manfred Jander meinte daraufhin:
«Wenn ich mich nicht irre, bestand der ‹Ausfall› darin, daß vierzig Millionen lebende, teils lebendige Menschen gefallen, verhungert, erfroren sind — oder ohne Umwege ermordet wurden; außerdem kann ich mich nicht erinnern, daß der gewaltsame Tod zwanzig Millionen sowjetischer Menschen in der westlichen Welt eine spürbare ‹Schwingung› verursacht hätte.»
In einer Ausgabe des Laubacher Feuilleton waren einige Meinungen zu Sloterdijks Essay Falls Europa erwacht veröffentlicht worden. Zwar ist zur Zeit mehr die Rede von dieser spezifischen Wackelwährung, die zu meinem anhaltenden (Monarchisten-)Bedauern dann doch nicht Écu heißen durfte, aber im Zuge dessen kommt es mehr als marginal, also eher schon zur seitenfüllenden Schreibe über die Sehnsüchte vieler, wieder in den idyllischen Urwald der Kleinstaaterei zurückkehren zu wollen. (Dabei bin ich geneigt, die modernen Mittelaltermärkte zu assoziieren, die zur Hochsaison vor allem des deutsch eingegrenzten Fremdenverkehrs zunehmend die Zentren der Städtchen illustrieren, in denen es keinen Unrat gibt, der stinkend durch die Gassen fließt, und auch das einfache Volk kunterbunt gewandet voller Glück im Müßiggang vor sich hinschlendert.) Der Prophet Sloterdijk aber blickte seinerzeit zurück auf den Mythos von Europa und ihren hinterlistigen Stier und bot verwirrten Politikern «geschichtspilosophische Information» sowie «klare Orientierung». So möge nicht verlorengehen, was uns offensichtlich mehr noch als vor fünfzehn Jahren beschäftigt, und sei deshalb ins nichts wegschmeißende Zwischennetz nachgemeißelt.

In der Anmoderation zur Diskussion von Peter Sloterdijks Buch hieß es:

«Was für das Frankreich der siebziger Jahre die Nouveaux philosophes André Glucksmann, Alain Finkielkraut oder Bernard Henri Lévy und andere, ist für die Bundesrepublik der achtziger und neunziger Jahre sicherlich ein Peter Sloterdijk. Kaum jemand unter den jüngeren Philosophen ist so umstritten, löst so heftige Diskussionen aus wie er.

Gerade sein Essay Falls Europa erwacht löste eine Flut an Verwünschungen und Vergötterungen aus, es hagelte polemische Verrisse und kotauähnliche Lobhudeleien.

Auch innerhalb der Redaktion schieden sich die Geister an den Thesen des in München lebenden Sloterdijk. Deshalb haben wir einige Personen außerhalb unseres Blatts, aber auch Redaktionsmitglieder gebeten, Kommentare abzugeben.»

Weil Wolfgang Flatz alphabetisch ganz oben stand, sei um irgendeiner Ordnung willen mit ihm begonnen.
Warum hat Peter Sloterdijk seinen Essay nicht Europa erwache betitelt? Warum heißt er Falls Europa erwacht? Begreift er sich als einen jener Pop-Ulär-Philosophen, die die Zeichen der Zeit zwar lesen, verstehen und zu interpretieren imstande sind, jedoch nicht die Rolle des Rufers oder handelnden Einpeitschers übernehmen wollen, sich somit auf die Verantwortung für das notwendig gesagte nur im historisierenden Mahnbereich zurückziehen, um sich mit dieser Haltung nicht mehr als notwendig zu exponieren? Oder hat Sloterdijk Angst, daß ein Buchtitel Europa erwache zu sehr an die Sprachterminologie der Zeit erinnert, die zu jener Absence Europas der Macht-Gestalt und Verantwortungslosigkeit im Weltgeschehen geführt hat, die er in seiner Schrift als Hauptübel und Ursache des der Totenstarre ähnlichen Handlungswillens und -vermögens zuordnet? Womit wir schon mitten im Fall Europa erwacht sind.

Oder — falls der Philosoph weder am Menschsein orientierte Zukunftsbilder entwirft, im Gegensatz zur Philosophie-Mode jüngsten Datums (Stichwort Baudrillard, Derrida ...), die die Menschheit als Opfer ihrer Zeichenwelt begreift und sich keine Lösung aus diesen selbstgeschaffenen Denkmustern vorstellen kann.

Es kann nicht Sinn der Philosophie, schon gar nicht des Lebens sein, die Zukunft als unbeeinflußbares Verderben zu sehen und darzustellen.

Sloterdijks Plädoyer für ein vorausgerichtetes, konstruktives, historisch abgeleitetes, verantwortungsvolles, politisch bewußtes Handlungsstreben um eine ausgeglichene Machtverteilung im Weltgefüge, in der Europa als Mitte des Denkens und Austragungsort geistiger Polaritäten der Evolution und Mutation des Planeten Erde zu begreifen war, ist die richtige Forderung an ein Europa in einer Epoche, die sich, vom Werteverfall gebeutelt, bis nahe ans Koma tatenlos zum Spielball ihrer eigenen Kinder mit Namen Kapitalismus und Kommunismus degradieren ließ.

Peter Sloterdijk hat eine Erkenntnis in eine Sprachform gebracht, die einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich und bewußt gemacht werden sollte, bevor es zu spät zum Handeln ist.

Solange die Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker nur das Jetzt interpretieren, es aber nicht verändern wollen noch Visionen vom lebenswerten Leben entwerfen, verdienen sie keinen Platz auf dem Plateau des Weltgeschehens.

Mut tut gut, Mr. Sloterdijk.

Europa erwache, es ist Zeit zum Aufstehen.

Die weiteren Kommentare folgen.
 
Di, 27.09.2011 |  link | (3121) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 







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