Hohe Zeit. Wunderwein.

Hohe Zeit. Anstieg.; Talstation.; Traumhafte Lage.

Der Wein zum ausgezeichneten Entrecôte schmeckte ebenso, nur anders, den anderen Inhaltsstoffen gemäß eben. Er konnte ihn nicht zuordnen. Die Eltern seiner Gastgeberin hätten, ließ die ihn wissen, sich vor zwei Jahrzehnten günstig ein kleines Weingut im Nordwesten von Lyon gekauft, dessen Besitzer die Lust verloren und wohl auch keine Erben hatte, die sich die Arbeit antun wollten. Der Vater wollte Abwechslung vom vielen Geldverdienen und auch mal welches ausgeben. Nach einiger Zeit entstand ein Wein, der nur für die Familie und deren Freunde angebaut wurde. Die Wohnzimmer-Betreiber Sami und Dienne gehörten dazu. Und nun wußte er, wie ein anderer als der europaweit angebotene, champagnerartig immergleichgemachte Chardonnay schmeckt, in diesem Fall angereichert mit kleinen Anteilen von Pinot Blanc.

Darin könnte er, wollte er still in sich hineindenken, gut zum Weltvergessen beitragen, als seine Hausmutter mundvoll und nachspülend nickend meinte, auch ihr Vater sei sich bewußt, nach der Zeugung seiner Kinder noch einmal Höchstleistung vollbracht zu haben. Seit sie alle diesen Wein tränken, hätten sie sich von der Welt ab- und sich selber zugewandt. So vertrete der ältere Bruder als Rechtsanwalt zwar nach wie vor fast die gesamte nicht recht koshere christliche Gesellschaft der Stadt, aber er tue dies, seit seiner Scheidung von einer weiteren höheren Tochter der Handels- und Finanzkommune, in Frauenkleidern. Seine Klientel sorge sich nach anfänglichen Irritationen nicht mehr weiter, da er mit seinen Rechtsauslegungen überaus erfolgreich sei; seit er sich vor einigen Jahren zu ihrem respektive seinem Geschlecht bekannt hatte, war nicht ein Prozeß mehr verlorengegangen. Seitens der Richterschaft werde schon seit geraumer Zeit in Erwägung gezogen, ihn wieder ins Althergebrachte zurückzuzwingen, ihn zumindest vor Gericht wieder als Mann auftreten zu lassen. Doch dem Männerbund fehle jede rechtliche Handhabe, zumal er namentlich immer als der auftrete, der er nach der Geburtsurkunde ist. Lediglich privater Post füge er eine Kleinigkeit an, so daß er mit einem schlichten Stäbchen den großen Schritt in die Welt zumindest der geistigen Geschlechtsumwandlung quasi unterstreiche. René(e) sei längst auch an internationalen Gerichtshöfen bekannt wie eine bunte Tunte, aber eben nicht als Hofnärrin, sondern als wilder Feger des Rechts und dessen sich bietenden Möglichkeiten. Auch halte er es wie der älteste Bruder, der als quasi gut florierende Zahnärztin — der Vater habe eben immer nur Mädchen gewollt, weshalb wohl der Zweitälteste frauengerechte Häuser baue — die einen völlig überteuert liqudiere, um die anderen kostenlos behandeln zu können. Unter anderem sei der eine oder andere ehemalige sans papier keiner mehr, da der Bruder ihm zu einer neuen Identität verholfen habe. Sie liebe ihre obendrein musisch veranlagten Robins sehr.

Photographie: Jessie Romaneix CC oder L'homme qui aimait les femmes

Lediglich die Schwester sei ein wenig aus der Art geschlagen, da sie immer wieder das Glück dieser Erde auf dem Rücken eines Mannes suche. Allerdings lebe die auch im teuren Paris sowie überhaupt inmitten von Illusionen. Das möglicherweise Entscheidende könnte allerdings sein, daß sie ihrer eher seltenen Heimatbesuche wegen diesen wunderbaren und -samen Wein nicht so recht nachgeschoben bekomme, und wenn sie denn tatsächlich ein paar Flaschen mit in ihre Dachstube in der Rue Monge brächte, die sie früher einmal teilte, seien die jedesmal innerhalb kurzester Zeit ausgetrunken und sie müsse sich anschließend immer wieder auf die Suche machen. Nach einem neuen Mann. Vielleicht sollte sie, gab sie dem letzten Bissen dieses nicht minder wunderbaren, ebenfalls aus familiarem Anbau stammenden Entrecôte mit auf den Weg, öfter mal nach Hause ins schöne Lyon kommen. Hier hielten sich in letzter Zeit so viele wundersame Männer auf, die allesamt die Frauen sehr zu lieben schienen.

So langsam schien er endgültig zu erfassen, in welch seltsame Umgebung er einmal mehr in seinem Leben geraten sein könnte, und dachte erneut an eine baldige und definitive Weiterreise, zumal er sich offensichtlich auf einem Feld befand, auf dem es für ihn nichts zu bestellen gab. Vor allem diese exotische Blüte namens Anouk war offenbar bestens assimiliert, wenn auch unter Umständen, die seinen Vorstellungen nicht unbedingt entsprach. Um so abwegiger kam es ihm vor, ausgerechnet hier sozusagen abgeholt worden zu sein. Andererseits hatte diese Landschaft allein des sich andeutenden, nicht nur gastronomischen Abwechslungsreichtums ihre Reize. Und zu prallem theatralischen Umfeld fühlte er sich obendrein von jeher hingezogen. Das schien hier geboten. Überdies stand es heute abend an. Das wollte er dann wenigstens noch mitnehmen.

Was denn gegeben werde, fragte er seine Nachbarin zur Rechten, ohne sich noch größerer Hoffnung auf Erhörung hinzugeben. Aber von der Anmut konnte er auch nicht lassen, die sich ja erwiesenermaßen draußen als Schönheit präsentierte, und sei sie noch so entfernt. Mit einem Lächeln, das durch diesen Wein offenbar noch verzückender geworden zu sein schien, antwortete sie, extra für den englischen Besuch, auf daß er sich ein wenig heimisch fühle, werde ihm heimatlicher Stoff geboten, wenn der auch im wärmeren Süden angesiedelt sei, wo der Engländer sich ja bekanntermaßen ohnehin wohler fühle, was sich merklich auf die Weinpreise südlich der Loire auswirke. Und man ginge schließlich in ein Opernhaus, deshalb geschähe es in musikalischer Form. Seinen neuerlichen Versuch, die ihm anhaftende Herkunft zu verneinen, wischte sie mit der Bemerkung weg, wer wisse heutzutage schon, woher er komme und von wem was stamme, selbst Shakespeare habe vermutlich nicht gewußt, welch herausragender Dramatiker er gewesen sei.

Selbst Sami und Dienne hielten sich Polen zugehörig, was wohl damit zusammenhänge, daß sie als pieds-noirs in den sogenannten Kommunismus geflüchtet seien, da sie sich dort willkommener fühlten als in dem Land, dessen Bürger sie eigentlich sein sollten. Ursprünglich müßten sie wohl tatsächlich einmal Polen gewesen sein, was aber einige hundert Jahre zurückläge, als sie einem Fürsten namens Stanislaus untertan und mit ihm nach Lothringen gezogen waren, wo er eine hübsche Architektur hinterlassen habe, die heute vornehmlich dem glanzvoll aufpolierten Tourismus der kleinen bürgerlichen Sehnsüchte nach Adelung diene. Als die Vorfahren dann nichts mehr zu beißen gehabt hätten, seien sie nach Nordafrika aufgebrochen. Das kolonialisierende Frankreich habe seinerzeit alles genommen, was habe krauchen und siedeln und auch ein bißchen schießen können. Dann wurde zurückgeschossen, auch in der dann wieder neuen Heimat. Weshalb sie sich für die ganz alte entschieden hätten. Daß sie auch von dort wieder flüchten mußten wegen anderer, weniger politischer als mehr gesellschaftlich bedingter Unvereinbarkeiten, belege nur, welchen Wert eine Nationalität oder ein Paß darstelle. Sie selbst spüre in sich eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der Unüberwindbarkeit dieser ganzen Wälle, die rundherum um einen aufgetürmt würden. Man getraue sich ja gar nicht mehr hinaus aus dem Kontinent, vor lauter Furcht, nicht mehr hineingelassen zu werden. Selbst eine traute Heirat garantiere heutzutage keine Heimat mehr.

À propos Heirat. Es sei an der Zeit aufzubrechen, um zu schauen und zu hören, welches Gewese zu des alten Herrn Shakespeare Zeiten darum gemacht wurde. Um die Widerspenstigen zu Lebzeiten kümmere man sich später.

Das wird wohl Folgen haben.

Hohe Zeit • Erzählung

 
Do, 03.12.2009 |  link | (2056) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hohe Zeit



 

Hohe Zeit. Traumhafte Lage.

Fortsetzung von Hohe Zeit. Talstation

Er mußte sofort eingeschlafen und in einen Traum gefallen sein. Nein, kein Alptraum. Anflüge dessen zeichneten sich ja im derzeitigen Wachzustand ab. Eine ungemein schöne Frau erschien ihm, auf den ersten Blick eine Mischung aus Nordafrika und Südostasien, er legte ihre Wurzeln in Tunesien oder Algerien sowie in der Nähe des chinesischen Meeres fest, wobei auch noch weitere, wunderschöne Wildwüchse hineingewachsen zu sein schienen. Ein blasses, länglich geformtes Gesicht mit verblüffend großen dunkelbraunen Augen, umrahmt von sehr kurzen, leicht glänzenden schwarzen Haaren, die in längerem Zustand sich jeder Bürste widersetzen dürften, nach unten ein ungemein geschmackvoller Anblick, ein tiefdunkelblauer, möglicherweise schwarzer Hosenanzug, nein, das wäre zu profan, einer schmalgeschnittenen Hose, darüber ein sanft schimmerndes kaftanähnliches Gewand. Sie stand in einem Türrahmen, neben ihr eine weitere, zwar aparte, aber bei weitem nicht so attraktive und auch nachlässiger gekleidete Frau, die ihm bekannt vorkam. Sie sprachen über Nina Morato, die vor einiger Zeit nach ihrer vor allem, da waren sie sich offensichtlich einig, im Titelstück entzündenden Platte L'allumeuse und einer längeren Pause mit Moderato wieder von sich reden gemacht habe. Die ihm so bekannt Vorkommende mit den leicht schiefen Gesichtzügen erwähnte mit Nachdruck, die gute alte Maurane mit ihrem Doudou auf Différente käme ihrem Gemüt zur Zeit näher. Überhaupt benötige sie zur Zeit etwas mehr Ohrenschmalz, momentan allerdings lieber von starker Stimme gesungen. Und am ehesten gebe es die nunmal in der Oper, da könnten sie nicht mithalten, die Damen des Varietés; sein im Gehirn fest installierter Thesauraus übersetzte das in einen Begriff, der musikalischem Tingeltangel nahe kam.

Ob sie die Karten für den heutigen Abend bekommen habe, schließlich wäre obendrein noch Kaija Saariahoo zu Besuch, und die käme nicht allzu oft raus aus dem Loch Paris in den hiesigen Dunstkessel, Sami habe ihr versprochen, zu diesem Anlaß Dienne etwas Ordentliches in dem seinen schmoren zu lassen, hörte er sie in einem Satz zugleich fragen und kommentieren. Und er mußte feststellen, daß das gar kein Traum, sondern die gleichwohl verwirrende oder auch wirre Wirklichkeit war, die ihn fest im Griff hatte in Gestalt der beiden Damen, die ihn offensichtlich mit ihrem musikalischen Geplauder sanft aus dem Schlaf holen wollten. Kaum getraute er sich durch das erkennbare Öffnen der Augen sein Wachsein preiszugeben. Wie kam er aus dieser Situation heraus und in in die Bahn, um dieser sich langsam als Schreckensort erweisenden Stadt zu entfliehen? Andererseits war er nicht abgeneigt, in die Nähe dieses Wesens zu geraten. Möglicherweise war es nicht nur schön, sondern auch noch sympathisch. Allez, rief ihm seine Herbergsmutter zu, sie habe längst gesehen, daß sie unter Beobachtung stünden, man nehme sich in dieser Fähigkeit wohl nichts. Ihre Nachbarin sah nicht nur zauberhaft aus, ihr Lächeln verzauberte ihn endgültig. Nun, dann würde er eben tatsächlich erst am nächsten Tag weiterreisen. Die Karriere, welche auch immer, hatte bisher soviel Geduld gehabt mit ihm, die würde noch ein wenig länger warten, und auch das Meer liefe ihm nicht weg, das mittlere in seiner Trägheit ohnehin nicht. Auch könnte er vielleicht seine seit London Angebetete doch noch sehen, wobei dieser Gedanke geradezu Reißaus nahm bei dem in der Tür stehenden und immer noch lächelnden Anblick.

Er schälte sich aus der in Frankreich üblichen leichten Decke, eine Blöße mußte er nicht verdecken, war er doch in Hemd und Hose offensichtlich sofort eingeschlafen. Ob er wohl, murmelte er zurückhaltend, einen Café haben dürfte. Sicher doch, war die Antwort, unten bei den beiden alten Tanten, einen so guten brächte sie nie hin, womit sie für alle Zukunft die Quelle angegeben habe und aus jeder sich möglicherweise einstellenden Kritik heraus sei. Die Grazie machte einen Schritt auf ihn zu. Verängstigt zog er sich die Decke über die Beine. Der Kleine müsse sich doch nicht ängstigen, kam die lachende Reaktion bei ihm an, in einem Stimmvolumen, die er diesem zierlichen Körper nicht zugetraut hätte. Sie reichte ihm die Hand, Bonjour, mein Name ist Anouk, eigentlich irgendetwas mit verlorenen burmesischen Spuren, aber das läge gut zwei Generationen zurück, zudem hätten noch ein paar andere Nationen wüste Pfade in ihr hinterlassen, aber Franzosen hätten mit allem Nichtfranzösischen ihre Schwierigkeiten, nicht zuletzt wohl aufgrund ihrer nicht eben glorreichen jüngeren zweihundertjährigen Geschichte, auch ihr wäre nach Café, vor allem aber nach einem ordentlichen Mal, denn in diesem Theater gäbe es kaum etwas zu essen, immer nur Arbeit.

Mit Theater, stellte sich unten am runden Tisch sitzend heraus, war die hiesige Rotlichtoper gemeint, die sie heute abend aufsuchen würden und wo sie als Produktionsdramaturgin beschäftigt war, was die mitgebrachten Eintrittskarten erklärte, unter Stückvertrag stehend. Die Bezahlung sei jammervoll, gab sie ihm zu verstehen, während sie den Café mit Champagner hinunterspülte, weshalb sie auch lieber hier die Kantine von Sami und Dienne aufsuche, wo es nicht nur reichlich und gut gäbe, sondern sie auch anschreiben könne. Sami und Dienne, wie zuvor schon kamen ihm diese Namen seltsam vor, Sami, nun ja, aber Dienne, das hatte er noch nie gehört. Er getraute sich zu fragen. Weil sie, so Sami, der Ältere und auch um einiges Kräftigere im Gegensatz zum eher schmächtigen Dienne, sich vor dreißig Jahren an einem Samedi die ewige Treue geschworen hätten. Damals habe man noch nicht heiraten dürfen, und das nicht nur, weil sie damals nach einem Gastspiel nicht zurückgekehrt seien nach Polen, wo man bestimmter Neigungen wegen geschächtet würde in diesem erzkatholischen Land, denn schließlich sei Dienne schwul und Di noch nicht in aller Munde gewesen, und diesen weiblich klingenden Namen habe er nur erhalten, da Männer nunmal die besseren Köche seien, das sei im hiesigen Land nunmal hinreichend nachgewiesen worden. Er wagte nicht, eine Reaktion auf diesen gerade wegen seiner Lakonik überaus komischen Vortrag zu zeigen, aber die beiden Frauen, die diese Geschichte vermutlich nicht zum ersten Mal hörten, brachen in schallendes Gelächter aus. Diese Hypothese ließe sich so nicht aufrecht erhalten, entgegnete das grazile Geschöpf namens Anouk, einmal mehr zauberhaft lächelnd, sie als Mann sei unfähig, ihre Gefährtin angemessen und gebührend zu verköstigen.


Der vierte Teil wuselt in Ansätzen durchs Gehirn. Aber zunächst mal Päuschen.

Hohe Zeit • Erzählung

 
Do, 01.10.2009 |  link | (2557) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hohe Zeit



 

Hohe Zeit. Talstation.

Fortsetzung von Hohe Zeit. Anstieg.

So steil, wie er von unten aussah, war der Weg denn auch tatsächlich. Ältere Besucher der Stadt dürften sich diesem Teil vermutlich eher weniger zuwenden, da die Besichtigung einer Bergwanderung nahekam. Tatsächlich tummelten sich überwiegend jüngere Menschen in den zahlreichen Gassen. Bevor er danach fragen konnte, erklärte seine Reiseführerin ihm, durchaus lebten auch Ältere im insgesamt doch recht großen Quartier. Sie verließen das Viertel jedoch kaum, und an den vielen kleinen Plätzen gebe es überall leicht erreichbare kleine Läden, meist von arabischstämmigen Familien betrieben, wo man sich ausreichend versorgen könne. Und wer nicht mehr gut zu Fuß sei, dem käme nahezu ausnahmlos Unterstützung durch die jüngeren Mitbewohner zu, die dann auch umfangreichere Besorgungen miterledigten. Zwar sei Croix Rousse in Gefahr, da seit der Ernennung vor zwei Jahren zum Weltkulturerbe die Immoblienhändler wie ein ausgehungertes Wespenvolk ausgeschwärmt seien, momentan stünde das soziale Gefüge jedoch noch geradezu romantisch intakt im alten Gemäuer, was sich auch in der Anzahl der kleinen Bars und Restaurants mit ihrem verhältnismäßig heterogenen Publikum zeige. In einigen koche man mittags und abends quasi für die Nachbarschaft mit, zu Preisen, die oftmals unterhalb der Kosten für ein selbst zubereitetes Hauptgericht lägen, man jedoch nie ohne amuse-gueule sowie Käse und Café wieder nach Hause ginge, das Glas ordentlichen Weines nicht zu vergessen. Ein wenig würde auf diese Weise auch das vermutlich aus der Zeit der Revolution überkommene Recht eines jeden auf ein schmackhaftes Mahl weitergeführt, eine Art Ärmerenspeisung. So partizipiere ein jeder, auch beim Restaurateur bleibe noch ein wenig hängen, zumal dem Tourismus an der Place des Terreaux eine Grenze gezogen schien, die nur die ganz Mutigen überschritten. Aber der weltläufige Mensch fühle sich ohnehin eher auf der edlen Rue Edouard Herriot wohl, wo er sich bequem per le shopping bis zur feineren Place des Jacobins oder zur kaufhausbelebten Place de la République durchmondialisieren könne und unterwegs an fast jeder Ecke die weltweit prominenten Kulinaria geboten bekomme, die unter Frankreichs Flagge segelten. Es dürfe schließlich auch nicht vergessen werden, daß Lyons Stadtväter, irgendwo habe sie das gelesen, stolz auf die Partnerschaft mit dem in Planung befindlichen europäischen Fort Knox Frankfurt am Main seien.

In einer solchen bescheideneren Lokalität, fügte sie an, würde sie auch gerne eben rasch guten Tag sagen und nach ihrer Post fragen, da der Bote gar nicht mehr zu ihrer Wohnung hinaufsteige, weil sie ihr Croissant und ihren Milchkaffee durchweg in ihrem externen Wohnzimmer zu sich nehme. Manchmal sei er früher dran oder sie später, sie hätten unterschiedliche Rhythmen, so liefere er die Sendungen für sie gleich bei den Wirtsfreunden ab, die um sieben Uhr früh ihre Tür öffneten und sie oftmals erst um Mitternacht schlössen, wenn in sie und auch in ein paar Mittrinker nichts mehr hineinginge. Außerdem sei sie ein paar Tage verreist gewesen und habe zudem heute früh ihren Café quasi in der fernen Innenstadt nehmen müssen, um ihn beobachten und anschließend in Empfang nehmen zu können. Auch müsse er sich zunächst stärken, merkte sie beiläufig an und stieß dabei die Tür zum Lokal auf, da ihr Etablissement in der dritten Etage läge.

Irritiert folgte er ihr nach und suchte ihr Gesicht, um darin eine Erklärung zu finden. Doch sie befand sich sofort in einer recht lautstarken Begrüßungszeremonie, ein Teil südfranzösischer Gepflogenheit, der andere wohl freundschaftliche Lebhaftigkeit. Kurz danach wandte sie sich ihm zu, der immer noch verdattert an der Tür stand, und winkte ihn heran. Ihr Besuch aus England, stellte sie ihn vor, von dem er zwar noch immer nicht wisse, wie er heiße, aber das würde sich sicherlich gleich ändern lassen. Nun völlig außer Fassung stammelte er seinen Namen, den niemand verstehen konnte, vermutlich ebenso die Anmerkung, es müsse sich um einen Irrtum handeln, denn er sei keineswegs Engländer. Dann eben Schwede, bekam er zur Antwort, seinem Akzent nach sei das auch naheliegender, aber das spiele hier keine Rolle, Hauptsache kein Franzose. Zwei zwar bleiche, aber von den sandfarbenen Pigmenten Nordafrikas grundierte männliche Hände, auf denen sich die ersten Altersflecken auszubreiten begannen, streckten sich ihm über den Tresen entgegen, die er nacheinander leicht schüttelte. Seine Begleiterin zog ihn sanft zu sich heran und rückte ihm einen der vier hölzernen Barhocker zurecht. Dann wohl erst schien sie seine Irritation zu bemerken. Lächelnd meinte sie, er müsse sich nicht ängstigen, bei ihr sei er in bester Obhut. Er nahm einen Schluck von dem Pastis, den man ihm ungefragt hingestellt hatte. Ein Anflug von seltsamer Ahnung kam in ihm auf, nervös schaute er auf seine Armbanduhr. Einen Augenblick noch, kommentierte sie, mehr dem Männerpaar hinter dem Tresen als ihm zugewandt, seine hilflose Geste, dann gingen sie nach oben. Nein, so hatte er sich das nicht vorgestellt, schüttelte er den Kopf. Dann wollte er doch lieber den nächsten Zug nehmen, murmelte er in sich hinein. Dennoch tat er wie aufgefordert, trank seinen Pastis aus und folgte seiner Führerin.

Am Hauseingang drückte sie den in französischen Städten üblichen Zahlencode und sprach ihn dreimal deutlich aus. Er möge sich den bitte merken, da sie nicht wisse, wohin sie alle ihre Schlüssel verlegt habe und er sonst nicht hineinkönne ins Haus. Er wollte darauf hinweisen, daß das nicht notwendig sei, da er nach wie vor gedenke, in Kürze weiterzureisen, aber irgendetwas in ihm hinderte ihn daran. Allez, rief sie ihm kurz zu und federte im recht geräumigen Aufstieg ihm voran die Treppen hinauf. Er trat direkt in einen küchenähnlichen Raum, daneben ein fensterloses Badezimmer mit einer alten Wanne auf freistehenden Füßen, all das versehen mit einer wirren Dekoration aus blauen Plastikpflanzen aller erdenklichen Schattierungen. Am Ende des gepflegt wirkenden Küchendurcheinanders befand sich der Durchgang zu einem Saal, er schätzte ihn auf zehn mal zwanzig Meter. Auffällig waren die außergewöhnlich hohen Decken. Bis zu sechs Meter, beantwortete sie seine ungestellte Frage. Diese Höhe war der Webstühle wegen erforderlich. Von unten sehe das teilweise aus, als ob es sich um zwei Etagen handele, die meisten Mieter hätten, auch der exorbitanten Heizkosten wegen, Zwischendecken eingezogen. Hier habe sie ein paar Wände herausgerissen, zwar verboten wie das heimlich eingerichtete Badezimmer, weil hier schließlich nur Gewerbe betrieben werden dürfe, aber sie habe vorsichtshalber von ihrem Architektenbruder die Statik berechnen lassen. Hätte sie das alles angemeldet, wäre es ihr vermutlich genehmigt worden, doch dann hätte ein neuer Vetrag angestanden und ein mehrfaches an Miete. Um ihm das zu zeigen, habe sie ihn hinaufgebeten. Das sei nämlich die Gewalt, von der sie gesprochen habe, die man dem Quartier antun würde nach der Denkmalisierung durch eine in Altersschönheit schwelgende Weltbehörde, die offenbar von Menschen besetzt sei, die gewachsene Strukturen und Armut nicht kennen oder aber einfach ignoriere und sich in prachtvoller und vor allem gewinnträchtiger Umgebung wohlfühlenden Kommunalpolitikern willfährige Mitstreiter fände. Sie habe Paris verlassen, weil sie mit ihrem Gewerbe sich die Mieten dort nicht mehr leisten könne und sei in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Jetzt werde sie vermutlich umschulen müssen und Revolutionärin werden. Und das als Tochter der örtlichen Hochbourgoisie. Und da er, das habe sie ihm sofort angesehen, aus ähnlich schrecklichen Verhältnissen stamme, gehöre er hierher.

Wo er denn sein Gepäck habe, fragte sie ihn, sicher im Gare de Perrache, das müsse man wohl holen, denn es sei davon auszugehen, daß er am Abend mit ihr in die Rotlichtoper gehe. Sie brauche mal wieder richtige Musik. En direct. Eben nicht aus der Konservendose. Und anschließend ein gutes Essen. Oder besser vorher. Bei Sami und Dienne, dem alten Ehepaar da unten in der Kneipe. Er sei eingeladen. Die Stadt zeige sie ihm morgen. Am besten ruhe er sich zunächst einmal ein wenig aus. Sie zeigte ihm ein etwa drei Meter breites Zimmer, das bis auf einen winzigen Schrank völlig von einem Bett ausgefüllt war. Willenlos tat er, wie ihm geheißen und legte sich hin. Erschöpft genug war er.


Der dritte Teil windet sich noch durchs Gehirn.

Hohe Zeit • Erzählung

 
Mi, 30.09.2009 |  link | (1923) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hohe Zeit



 

Hohe Zeit. Anstieg.

Lyon hatte ihn eigentlich nie interessiert, wahrscheinlich, weil die Stadt nicht am Meer lag. Doch die schwarzfüßige Freundin, die er seit der Londoner Zeit im gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis still begehrte und die vor einigen Monaten wieder ins heimatliche Ardèche zurückgekehrt war, um ihrem sechsjährigen Sohn einen bodenständigen Vater zu geben, nicht einen solchen allzu lebensfreudigen Tunichtgut wie dessen Erzeuger, der vermutlich seiner Realitätsignoranz wegen mit einer tödlichen Apoplexie bestraft worden war, schwärmte ihm immerzu von den zwei Wassern vor, die die Presqu'ile spielerisch umfaßten und liebkosten und zur Rhône vereinigt den Süden eröffneten. Diese Situation sich anzuschauen, hatte er sich vorgenommen, vor allem aber die Oper der Stadt, die sie nie ohne Nachdruck erwähnte. Ein wenig erstaunt war er darüber gewesen, da die von ihr bevorzugt gehörten Stimmen einer anderen Lärmkategorie angehörten. Doch möglicherweise war es die Sehnsucht aller französischen Provinzler nach dem Triumphalen außerhalb der Hauptstadt. Denn diesem offensichtlich außergewöhnlichen Haus, das hatte er nachgelesen, war vor einiger Zeit neben Paris als einzigem der Status einer Nationaloper zugesprochen worden. Zudem war es seit Ende der achtziger bis in die neunziger Jahre von Jean Nouvel derart umgestaltet worden, daß ihm auch ohne Musik ein Ruf wie Donnerhall voraustönte. Dazu gehörte die Geschichte vom Tonnendach, auf dem es zu blinken begann wie die Energieanzeige eines hochfrequentierten Rotllichtviertels, wenn darunter die Ouverture einsetzte. Einige Gründe waren es, die ihn zu dem Entschluß gebracht hatten, dort aus dem Zug auszusteigen und für ein paar Stunden Station zu machen. Vielleicht ließe sich auch noch ein Treffen mit der mittlerweile Unerreichbaren arrangieren, die nicht allzuweit entfernt auf dem Land lebte. Dann würde er gegebenenfalls mit der letzten Bahn weiterfahren und immer noch vor den Wassern der Rhône in deren Mund angekommen sein.

Mit einiger Bewunderung hatte er die prachtvolle Architektur nicht nur des Opernhauses genossen, auch ansonsten fühlte er sich recht wohl in dessen unmittelbarer Umgebung. Unweit der Oper am Rand des Getümmels an der Place des Terreaux hatte er einen etwas ruhigeren Platz gefunden, wo er, wie er später erfahren sollte, obendrein einige Centimes weniger für den Pastis zahlen mußte als ein paar Meter weiter das Gemisch aus Touristen und Einheimischen, die die Nähe des für seinen Geschmack übermäßig schwülstig-pathetischen, aber eben sehr französischen Brunnens von Bartholdi suchten. Es sollte noch eine Weile dauern bis zum Wiedersehen nach längerer Zeit. Im Schatten der Mairie sitzend gab er sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin, Menschen zu beobachten. Nach einer Weile spürte er, daß er selber unter Beobachtung stand. Behutsam, um keine größere Aufmerksamkeit zu erregen, drehte er seinen Kopf leicht nach rechts, um zu prüfen, wer ihn da vermeintlich einer genaueren Betrachtung unterzog. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, den Blick sofort wieder abzuwenden, ließ er sich von diesen sehr wach blickenden Augen in einem offenen Gesicht fixieren. Ihm war, als ob er eine Herausforderung annehmen müßte. Das löste ein Lächeln aus in dieser zweifelsohne südlichen, fast hageren Physiognomie mit leicht schiefgesichtigen Zügen, der ein Nicken folgte sowie ein freundliches Bonjour Monsieur. Ein freundliches Gespräch entspann sich, das die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin zum Inhalt hatte. Bereitwillig antwortete er auf die gleichwohl dezent geäußerte Neugier und stellte bald fest, daß die einzige Distanz zwischen der etwa Vierziggjährigen und ihm die beiden quadratischen, unbesetzten Tischchen zu sein schienen. Behaglich lehnte er sich zurück und bestellte einen weiteren Anis. Die Einladung zu einem für sie lehnte sie dankend ab, es sei ihr noch zu früh für Alkohol, doch auch einen weiteren Café oder zumindest noch ein Wasser wollte sie nicht annehmen. Im Lauf ihrer beider Unterhaltung kristallisierte sich ein offensichtlich elementares Wissen seiner Gesprächspartnerin über die Stadt heraus, in der sie lebte. Seine so entzündete Wißbegierigkeit mündete in ihre Frage, ob sie ihm ein wenig der Umgebung zeigen dürfe.

Als er den Kopf schüttelte, um abzulehnen, klingelte sein Telephon. Er entschuldigte sich für die Unterbrechung und nahm das Gespräch entgegen. Das Auto war kurz hinter Annonay liegengeblieben, nichts Dramatisches, aber eine Weiterfahrt sei nicht möglich. Ob er nicht doch eine Nacht bleiben wolle, dann könne er am Abend unters Rotlichtdach schlüpfen und man sich morgen sehen. Er verwies auf ein nicht verschiebbares Treffen, das über seine Zukunft entscheiden könnte, schließlich müsse er nach Beendigung seines über zehnjährigen Studiums der brotlosen Geisteskünste so langsam eine Orientierung finden, von der er zwar nach wie vor nicht wisse, wo ihr Licht aufgehe, aber wenigstens ansatzweise solle der Horizont in Richtung Praxis erweitert werden. Ein Weilchen würde er noch durch die Stadt bummeln, jedoch am Abend mit der Bahn weiterfahren.

Er wandte sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu, entschuldigte sich nochmals für die Unterbrechung und wollte auf ihr Angebot eingehen. Sie unterbrach ihn und meinte, er habe nun dann doch Zeit. Lachend nahm er an, zahlte, seinen Versuch, ihre Rechnung mit zu übernehmen, hatte sie abgelehnt, und so brachen sie auf. Da er die Oper bereits kenne, sagte sie, zeige sie ihm gerne zunächst ihr Quartier. Das ehemalige Weberviertel halte sie sowohl historisch als auch aktuell ohnehin für interessanter als die großbürgerlich restaurierte Pracht, zumal Croix-Rousse demnächst mit Sicherheit eine geschichtsklitternde Gewalt bevorstünde, man zum jetzigen Zeitpunkt also noch etwas vom Ursprünglichen sehen könne, und bog direkt nach rechts in eine geradezu steil nach oben führende Gasse ein, deren Bebauung im extremen Widerspruch zu den Gebäuden sowie der gleichwohl kaum wahrgenommenen zeitgenössischen künstlerischen Aufwertung des zentralen Platzes durch Daniel Buren stand, an dem sie gesessen hatten.


Die Fortsetzung taumelt noch durch die Gehirnwindungen.

Hohe Zeit • Erzählung

 
Di, 29.09.2009 |  link | (2663) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Hohe Zeit



 





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