Brückenlektüre

Ich inmitten von lauter Kranken brauche das hin und wieder, um die Zeit zwischen allen möglichen Maschinen zu überbrücken, die in meinem Körper herumsuchen, um das Teufelchen in mir zu finden. Und da ich's nicht so mit der Wartezimmerliteratur habe, greife ich vorher in mein regales Leben.

Die Suche nach der Geschichte ihrer bürgerlichen Vorfahren und somit ihrer eigenen führt die Autorin nach Brüssel und ins Flandrische des 19. Jahrhunderts, ein wenig streift sie noch das zwanzigste Jahrhundert, bis hinein in den ersten Weltkrieg. Mit kritischer Distanz, da «nicht das Blut und das Sperma uns zu dem machen, was wir sind», gibt sie diesen Menschen ihre Geschichte zurück: deren Unzulänglichkeiten, Sorgen, Nöte, Freuden und Hoffnungen.

Es liest sich wie beziehungsweise assoziert ein wenig eine literarisch-historische Mileustudie des belgisch-französischen Landadels. Doch es ist als Konstrukt ein autobiographisch verquirlter Roman. Die Yourcenar läßt jedoch nie den Verdacht aufkommen, sie betreibe die Rechtfertigung ihrer eigenen Person oder die nostalgische Suche nach Geborgenheit in ihrer (bürgerlichen) «Heimat».

Die 1903 in Belgien geborene (und 1987 gestorbene) erste Frau der Académie Française ist zwar stilistisch in dem zuhause, das heute vielleicht als «klassisch» bezeichnet würde, schreibt dabei jedoch so präzise und zudem spannend, daß selbst eingefleischte TV-Konsumenten von Familien-«Chroniken» mal wieder abschalten und zum Buch greifen könnten. Ja, ich denke dabei wieder einmal an Gianni Celati:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001

Ich brauche das hin und wieder, um nicht von der Walze Geschwindigkeit überrollt zu werden, von all denen, die meinen, sie hätten keine Zeit (mehr), bei denen ich mich bedanken darf, weil sie keine Zeit haben, sich dafür zu bedanken, daß ich ihnen die Tür zur Arztpraxis geöffnet und offengehalten habe.


Marguerite Yourcenar: Gedenkbilder
Zu den Essays von Marguerite Yourcenar

 
Fr, 02.12.2011 |  link | (2109) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Dem hinkenden Boten,

neben der Kopfschüttlerin einer meiner zwei in Berlin ansässigen Vorleser, schulde ich besonderen Dank für den Hinweis auf den 68er-Text von Friedrich Christian Delius (ich wußte gar nicht, daß er eine eigene Seite im Zwischennetz hat). Seine Gedichte habe ich, seit Kursbuch-Zeiten, manchmal gelesen, seine Erzählungen mochte ich von Anfang an, endgültig festgesetzt hatte er sich in meinem sandbankartigen, von der ewigen Wiederkehr der Gezeiten geprägten, absolut antihollywoodianischen Kopfkino mit Ein Held der inneren Sicherheit. Dann geriet er, völlig grundlos, in die Untiefen meiner eben nicht berechenbaren Langzeiterinnerung. Doch er hat sich, wie selten einer bei mir, bis heute auch oder gerade als Erzähler, als Gedächtnisanker in mir gehalten; der würde mir, das war mir immer klar, nie zur Gänze hinter dem Horizont des weiten Weltmeeres verschwinden. Und eines Tages tauchte er im Regal der kleinen Uhlenorster Buchhandlung in der Papenburger Straße wieder auf, wo ich außerhalb des von mir nicht sonderlich geschätzten Versandgeschäftes auf der Suche nach den literarischen Achtzigern fündig geworden war, dieser Delius, mit seinem Spaziergang von Rostock nach Syrakus, einer atemberaubend in sich, wie im Protagonisten, ruhenden Geschichte von einem Mann, der die Freiheit außerhalb der DDR nicht unbedingt suchte, sie deshalb nicht verlassen wollte, sondern einfach das Sizilien sehen und erleben wollte, in das sich einst Johann Gottfried Seume aufgemacht hatte — und zwar mittels eines Schlauchboots via Ostsee. Da kommt keine dieser fernseh- oder fernwehsehnsüchtigen, meist vom MDR in alle anderen Sender gekippten Reportagen von freiheitsfliehenden Bürgern aller möglichen runden Tische gegen an. Das hat eben jene Lapidarität, fast Lakonik, die manch eine weltbetrachtende Rezeptur der West-Ost-Perspektive auf die nötige Reduktion einkochen würde, feinster, reiner Fond aus minimalen, hier darf's mal gesagt werden, authentischen Ressourcen.

Delius' immer zweiflerischer Rückblick, hier auf die letzten dreißig-, vierzig und noch mehr Jahre wird an dieser Rede deutlich: «Das sollten heutige Forscher, Betrachter, 68er-Hasser und Nostalgiker beachten: Wer immer sich Details, Bilder, Sätze, Thesen aus den Strömungen dieser großen Zirkulation herausfischt und die Gegenbilder, -sätze, -thesen wegläßt, wandelt auf dem bequemen Pfad der Legendenbildung.» Ich nehme mal an, daß mir dieser Satz von ihm deshalb am besten gefällt, weil er die Lage am zutreffendsten, mit dem ihm eigenen Humor und stillen Witz beschreibt: «‹Er ist gesehen worden, wie er zusah.› Der Autor [Delius] definiert sich als teilnehmender Zuschauer, mitlaufender Beschreiber, als sich beobachtender Beobachter. Also wieder einmal: Nichts da vom Tod der Literatur, sondern Literatur als Ziel und vielleicht als Mittel.»

Hans Magnus Enzensberger zitiert er etwas ausführlicher in seiner Betrachtung des wiedergelesenen Kursbuch 15, der Natur der Sache dienend, aber eben nicht letztlich doch unfreiwillig heroisierend wie jene, die zum Immergleichen, Mehrfachwieder- oder Widergekäuten aus der Futterkiste der Sekundärklischees greifen, wie das bei allzuvielen der heutigen Rezipienten oder Textzusammensetzer der Fall ist, die in ihrem Willen, Idole oder Ideologien (die es, dabei Delius zustimmend heftig zunickend, eben so einfach beziehungsweise vereinfachend nie gab) zu zerstören oder zu erhöhen, vor Klappentexten und Waschzetteln niederknien, vielleicht sollte ich schreiben: Rezeptionisten einer vor bald fünfzig Jahren begonnenen, sich in alle Winde und deren Richtungen ausgebreitet habenden Hotelanlage namens Utopia, hier knapp mit: «Zur ‹politischen Alphabetisierung Deutschlands› empfiehlt er, Reportagen, Kolumnen, Berichte zu schreiben [...]»

Ein schöner Tod der Literatur. Vielleicht auch: Wer konnte in dieser Zeit auch nur ahnen, wie sicher es sich einmal sterben würde über einem für alle gespannten Netz, geheißen w(esentlich)w(ichtig)w(urscht).
 
So, 23.10.2011 |  link | (1803) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Geld- und andere Sorgen

An Eduard Fechner, Maler, Paris. Paris, 18. Januar 1841.
Allerverehrtester Herr Onkel, erlauben Sie mir, Sie recht höflich zu ersuchen, uns gefälligst morgen, Dienstag, den 19. d. M., abends, die Ehre Ihres werten Besuches zu erzeigen. Außer anderen Delicen werden Sie da einen außerordentlichen Kunstgenuß haben; der über alle Begriffe berühmte belgische Violinvirtuose Vieuxtemps hat nämlich Zutritt zu meinen Soirees erlangt, und wird sich demnach morgen freundschaftlichst bei mir hören lassen. Zum Schluß: spanischer Tanz mit Kastagnetten, ausgeführt vom Unterzeichneten.

Anfang um 7 Uhr.

Ihr ganz unterthänigster Verehrer

Richard Wagner

25, rue du Helder.

An Robert Schumann. Dresden, 28. Oktober 1842.
Verehrtester Freund! Ich schmachte nach Ihrer Gegenwart bei einer der Aufführungen meiner Oper in Dresden. Können Sie nicht zu Sonntag, den 30. d. M., hierherkommen? Die auf diesen Tag angesetzte Vorstellung findet jedenfalls statt. Wollten Sie mir wirklich dies Opfer bringen, so bitte ich, daß Sie mir recht bald schreiben, ob ich Ihnen einen Platz aufbewahren soll, da Sie sonst schwerlich an der Kasse bedient werden würden, denn trotz der immer noch erhöhten Preise sind für die nächsten Vorstellungen meist alle Plätze genommen. Falls Sie also selbst erst Sonntag um 2 Uhr von Leipzig fortführen, hätten Sie sich doch nur an der Kasse mit Ihrem Namen zu melden, um ein für Sie zurückgelegtes Billett zu empfangen — nämlich, sobald Sie mir sogleich schrieben, daß Sie können.

Ich bin ungestüm in meiner Zudringlichkeit; Sie werden aber leicht begreifen, wie sehr mir an der Erfüllung meiner Bitte liegt. Seien Sie mir nicht böse und seien Sie der freundschaftlichsten Hochachtung versichert,

mit der ich bin

Ihr ergebenster Richard Wagner.


An Karl Gaillard, Berlin. Groß-Graupe, 21. Mai 1846.
Gott sei Lob, ich bin auf dem Lande! Eine große Wohltat hat mir mein König durch die Gewährung eines längeren Urlaubs erzeigt. Ich wohne in einem gänzlich unentweihten Dorfe — ich bin der erste Städter, der sich hier eingemietet hat. Nun hoffe ich alle Erlabung meines Gemütes und meiner Gesundheit von meinem Bauernleben. Ich laufe, liege im Walde, lese, esse und trinke und suche das Musikmachen ganz zu vergessen ... Ich habe einen der widerlichsten Winter meines Lebens im Rücken: Neid, Bosheit, Albernheit — und tödliche Langsamkeit in der Verbreitung meiner Wirksamkeit nach außen waren die Feinde, mit denen ich täglich jenen abscheulichen Kampf zu bestehen hatte ... Wissen Sie, was Geldsorgen sind? Sie Glücklicher, wenn nicht! ...
Zitiert nach: Richard Wagners gesammelte Briefe, herausgegeben von Julius Kapp und Emerich Kastner, Hesse und Becker Verlag, Leipzig 1914, 14 Bände in 5 Bänden, hier 1. Band, S. 158, 294, 207

Das war der (heute früh zum dritten oder vierten oder vielleicht zum elften Mal in Radio Hirn will Arbeit wiederholte) Auslöser: Als der Meister die Musik revolutionierte, kannte man eben noch kein Eventmanagement. Die traumberufene Frau Alexia Werner hätte ihm bestimmt mehr als eine Flasche authentischen Champagners — ach, wahrscheinlich überhaupt ein paar Sponsoren zukommuniziert. Denn heutzutage ist der Förderer wichtiger als der Geförderte. Los ging das in der Postpostmoderne der mittleren Achtziger.
 
Do, 08.09.2011 |  link | (1619) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Heilloses Durcheinander

Gestern spät abends schoben sich mal wieder Dokumente einst lustvoller Ereignisse über den Bildschirm meiner nicht unbedingt immer hinter-, aber wenigstens hin und wieder mal nachfragenden Informationslieferanten. Alle möglichen immer irgendwie hervorstehenden ehemaligen Eliten hatten dabei reumütige Mienen in ihre Gesichter gerückt. Und als ich dann heute früh mein nicht minder chaotisches Archiv aufräumte, um aus wirren Sicherungsmaßnahmen dem wiederbelebten EiMack nun Sortiertes zurückzugeben, stieß ich auf die Kurzbesprechung eines Buches. Mit einem Mal war die Erinnerung an die Buchmesse 1992 wieder da, anläßlich der mir der liebe Pressemensch aus Paderborn erst die Hand eines eher stillen und deshalb wohl angenehm auf mich wirkenden jungen Mannes in die meine und anschließend dessen Werk ans Herz drückte mit der Anmerkung, das täte mich doch sicherlich interessieren — und andere wohl auch. Also kippte ich’s, vermutlich kurz nach dem mit Druckfahnen abgespeisten Spiegel, meiner langjährigen Spielwiese in einem sozialdemokratischen Wochenblatt in die Spalte. Ich muß wohl zehn Jahre später stattfindende lustige Ereignisse vorausgeahnt haben.
Überall versuchen die Politiker die organisierte Prostitution aus den Stadtzentren, die sündige Meile in die Außenbezirke zu verdrängen. Besonders hervor tun sich dabei sogenannte konservative, gerne bairisch-katholische Stadtherren, die die Prostitution für unmoralisch halten. Doch waren es nicht gerade die Städte, die in eigener Regie Bordelle einrichteten?!

Tatsächlich hält sich bis heute hartnäckig die Legende vom sinnenfrohen Mittelalter, in dem Kaiser und Könige, Kleriker und Ehemänner sich ungeniert im Bordell amüsierten und die Badehäuser nur schlecht getarnte Stätten öffentlicher Lust waren.

Nach der Arbeit von Peter Schuster, einer überarbeiteten Dissertation, wird die Geschichte der Prostitution allerdings neu geschrieben werden müssen. Denn in ihr werden Gründe genannt, warum die Städte trotz strenger öffentlicher Moral gezwungen waren, Bordelle einzurichten, werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den «Frauenhäusern» beschrieben, die Herkunft und sozialen Strukturen der Prostituierten, ihrer Zuhälter und Freier ebenso benannt wie die Frage beantwortet, warum das 15. Jahrhundert zum «Jahrhundert der Bordelle» wurde. Ein entscheidendes Kapitel — im Hinblick auf neueste Entwicklungen innerhalb unserer Gesellschaft — stellt die Antwort auf die Frage dar, ob das Ende der Frauenhäuser im 16. Jahrhundert durch die neue Sittenstrenge der Reformation oder durch die neue Seuche Syphilis bewirkt wurde.

Und — als Beispiel — noch eine Parallele zur jüngeren Geschichte: «Ein gelbes Zeichen für die jüdinne und die pfeffinne vnde die boesen hiute (= Prostituierte) forderte bereits im 13. Jahrhundert Berthold von Regensburg. Gelb wirkte seit dem Laterankonzil 1215, verstärkt seit dem 15. Jahrhundert, als ‹Judenfarbe› hochgradig infamierend. [...] Sollten diese gelben Zeichen die Prostituierten in die Nähe der Juden und damit in das gesellschaftliche Abseits drängen.»
Fast zwanzig Jahre liegt das nun zurück. Deshalb wollte ich nachschauen, ob das Buch noch erhältlich ist und es serviceeifrig gegebenenfalls kenntlich machen. Während der Suche (nein, ich guckle nicht) stellte ich dann fest, daß der seinerzeit noch recht junge Historiker später als Geschichtswissenschaftler an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken lehren sollte, inzwischen jedoch an die Hochschule einer Stadt gewechselt ist, der ich, weil es sie eigentlich gar nicht geben soll, Historie nur schwierig zuordnen kann. Daß sein Erstlingswerk heute mehr als billig verramscht wird, damit wird er wohl leben müssen; was einst 52 Mark und dann 58 Euro kosten sollte (nein, diese Währung macht nichts teuro), gibt’s heute für einsachtzig bei der genießerischen Tochter des guten alten Hammerstein in der Maxvorstadt, wo ich fast dreißig Jahre lang im noch finanziell erträglichen Kneipenzickzack nachhause ging. Aber für knapp zwei Euro gibt's in diesem nur noch aus News-Bars und ähnlichen Cafés bestehenden Viertel wahrscheinlich längst keine Leberkässemmel und schon gar kein Stamperl Schnaps mehr, denn mittlerweile dürfte auch in den allerletzten Stehausschank eine Secondhandboutique oder eine handliche Plagiiermanufactur gepaßt haben. Und wer interessiert sich denn, nicht nur in diesem Quartier latäng norditalienischst direkt hinter den Alpen, heute noch für Geschichte, geschweige denn für gedruckte? Aber dennoch räumt der immer noch junge Schuster, wie ich mein Archiv, weiterhin auf mit einigen Vorurteilen. Ein paar Rückwärtsblickende muß es schließlich noch geben. Denn wie sollte Zukunft denn sonst verstanden werden? Weitermachen gegen das Aufhören.

Peter Schuster
Das Frauenhaus
Städtische Bordelle in Deutschland 1350 – 1600
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1992
248 Seiten, DM 52,00

 
Fr, 10.06.2011 |  link | (2091) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Selbsterkenntnis mit Laura

Des einige Zeit in der Nähe von Avignon dichtenden Italieners der frühen Renaissance und sicher bekanntester und bedeutendster Gedichtzyklus in einer zweisprachigen Ausgabe, die für den deutschsprachigen Raum ihresgleichen sucht: der Canzoniere. Der von Francesco Petrarca selbst ursprünglich unter dem Titel Rerum vulgarium fragmenta zusammengestellte Band enthält 366 Gedichte: 317 Sonette, vier Madrigale, sieben Balladen, 29 Canzonen und neun Sestinen.

Ihren großen Ruhm verdankt die Sammlung den Sonetten an Laura, deren zwei Gruppen den Hauptteil des Canzoniere bilden. Nach Gero von Wilpert prägten diese Liebesgedichte nach dem Minnesang des Mittelalters für mehrere hundert Jahre Stil und Wortschatz des «zweiten erotischen Systems der europäischen Kultur». Deutlich unterscheidet sich darin bereits das Bild der Frau von dem, das die Provençalen und die Dichter des dolce stil nuovo zeichneten, die die Frau als engelhaftes Wesen anbeteten und ihre äußere Erscheinung mit stereotypen Redewendungen beschrieben, meistens besungen von den von Burg zu Burg ziehenden frühen Laudatoren einer Liebe, die Körperlichkeit nicht kannte. Die Damen bestellten sie sich häufig vor die Balkone, um sich die Langeweile vertreiben zu lassen, die entstand, wenn ihre Ritter mal wieder zu einem christlichen oder anderweitigen Raubzug durch die Lande streiften. In ihrem Wertekanon hielten sich diese Balladen bis in die Wiederaufnahme des Liebesgeflüsters beispielsweise eines Cyrano de Bergerac etwa durch Edmond de Rostand; bis heute hält sich diese gerne als Romantik fehlbezeichnete geradezu spirituelle Entleiblichung.

Bei Petrarca ist die donna angelicata jedoch kurz davor, von ihrem Podest hinabzusteigen, die Statue des Pygmalion beginnt, Fleisch und Blut zu werden. Seine Laura bewegt sich in der irdischen Natur, entledigt sich gar ihrer Gewänder und badet im Fluß. Eine Wiedergeburt aus der auch körperlich lebhaften Antike bahnt sich an, wenn die frühe Minne auch noch immer wieder durchschimmert. Ihre Bewegungen, ihr Mienenspiel werden wiedergegeben, ihr Verhalten dem Dichter gegenüber ist abzulesen an den Stimmungen, die in den Sonetten evoziert werden. Die wahren Empfindungen der Geliebten werden nicht deutlich, es bleibt offen, ob sie die Liebe des Dichters erwidert und ob ihre Tugendhaftigkeit einem Mangel an Gefühl, einer grundsätzlichen Haltung oder nur natürlicher Scham zuzuschreiben ist. Diffus ist das zwar, aber ein Leben wird bei genauer Betrachtung erkennbar, das später als Beziehungslosigkeit in die Sprache der Psychologie einziehen wird.

Denn die Empfindungen Petrarcas sind ohnehin nicht als Liebe im herkömmlichen Sinn zu verstehen: dieser Liebende findet Erhebung in der Betrachtung der Schönheit und Tugend der reinen Frau; manches aus dem Wortschatz der Marien-Verehrung ist in seine Liebessprache eingegangen. Stärker jedoch als die religiöse Überhöhung kommt der Unmut des Mannes zum Ausdruck, der an der unmenschlichen Tugend und Reinheit der Frau leidet, die ihm keine Erfüllung gewährt, aber möglicherweise auch sein Leid darüber, daß er sich selbst immer auf Distanz hält.

Während Petrarca im ersten Teil der Gedichte in der lebenden Laura seinen eigenen Schmerz idolisiert, findet er allerdings im zweiten, in dem sich sein Seelenzustand nach dem Tod der Geliebten spiegelt, über die Erfahrung des wahren dolore amoroso zur Erkenntnis zutiefst menschlichen Leidens. Die kunstvollen Sonette des zweiten Teils, in denen mit reich variiertem Wortschatz die feinsten Nuancen einer melancholischen Lebensmüdigkeit, einer Zerrisenheit zwischen Liebe, Ruhmverlangen und christlicher Demut aufgezeichnet sind, gelten als die vollkommensten Gedichte des Canzoniere.
«Ich geh in Trauer um vergangne Zeiten,
in denen mich ein sterblich Ding verwirrte
und ich zum Flug, der mich dem Joch entschirrte,
die Schwingen, ach, versäumte auszubreiten.»
[1]
Radio DRS und Radio France (Auszug), Oktober 1993

•••

Die erwähnte, sehr empfehlenswerte (ursprünglich in einem der letzten kleinverlegerischen Bastiönchen erschienene) Ausgabe ist — bedauerlicherweise — vergriffen (die 2002 bei Artemis und Winkler erschienene, von Hans Grote herausgegebene kann ich nicht beurteilen). Sie scheint sehr gefragt, genauer: kaum jemand mag sich von ihr trennen wollen; antiquarisch wird immer wieder mal ein Exemplar angeboten, aber häufig zu einem Preis, der um einiges über dem des dtv-Erstlings liegt, oftmals das doppelte und mehr. Das hat seinen Grund sicherlich auch in den Übersetzungen von Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer, der das Buch auch herausgegeben hat. Hier wird Laura ihres Astralleibes entledigt, bekommt die Magersüchtige der Anbetung Fleisch an die Rippen, die steinerne Aphrodite geschichtsabsenter Verzückung wird beatmet — was der sprachlich-bildhaften Schönheit dieses Werkes keinen Abbruch tut, sondern es eher aufwertet, da ihm das reine, idealistisch Abgehobene genommen wird. Nicht zuletzt der inhaltlich wie sprachlich brillante Kommentar bewegt den Canzoniere im Regal dort hin, wo er (auch) hingehört: ins Fach, in dem die Lyrik aussagebereit und -kräftig neben der Geschichte (nicht nur der Literatur) steht.
«— selbst Hannibal entschlüge sich des Spottes ...
Schenkst du nur einen Blick dem Hause Gottes,
das heute gänzlich brennt, dann wird dir Kunde:
damit der Wunsch gesunde,
genügt es, Funken nur des Brandes, der tobte,
zu löschen, was man noch im Himmel lobte.»
[2]
Dazu bei trägt das Buch mit seinen weit über tausend Seiten, das all dies eben nur in seiner Gesamtheit zu verdeutlichten vermag. Die Reduktion auf 50 Gedichte (384 Seiten) und in der Übersetzung von Peter Brockmeier, die Reclam aktuell anbietet, deutet allerdings auf eine Rezeption hin, nach der sich Petrarca als Troubadour, sich Laura als Liebesgöttin sehr viel größerer Nachfrage erfreuen denn als Geschichtsschreiber beziehungsweise als Figur der Renaissance. Hier scheint die Wahrscheinlichkeit nicht weiter von Belang, daß die engelhafte Blondine im richtigen Leben, im Avignon des 14. Jahrhunderts gar nicht existierte. Für viele Menschen scheint es auszureichen, lesen zu dürfen: «Du kühlst mich nicht, Canzone, du entflammst mich ...»

Dabei werden dann schon auch gerne Andeutungen überlesen, die auf Regungen verweisen, die dem Menschlein auch schonmal in die Glieder fahren.
«Talor m'assale in mezzo a'tristi pianti
un dubbio: Come posson queste membra
da la spirito lor viver lontante?
Ma rispondemie Amor: Non ti rimembra
che questo è privilegio degli amanti,
sciolti da tutte qualitati humane?

Zuweilen stürmt im Weinen den Betrübten
ein Zweifel: wie denn können diese Glieder
so weit von ihrem Geist geschieden leben?

Entsinnst du dich, tönt Amors Stimme wider
daß dies das Privilieg ist der Verliebten,
die sich menschlicher Eigenschaft entheben.»
[3]
Glücklicherweise scheint jedoch auch Peter Brockmeier in der Reclam-Ausgabe dem Cliché der entleibten Liebe keine neue Nahrung zu geben (die offensichtlich allgegenwärtigen nachwilhelminischen Übersetzer-Wehen haben auch allzuzuviel Mißgeburten in die gesamte literarische Welt hinausgepreßt). In seinem Nachwort hält er fest: «[…] Der Konflikt zwischen Körper und Geist liegt auch der Liebesdichtung Petrarcas zugrunde; denn die Liebe ist ohne Sexualität nicht zu erfahren. Schon Augustinus hat von der Gottesliebe, der geistigen Liebe gesprochen und zugleich den Leser an die ‹fleischliche Umarmung› erinnert: Wenn er, Augustinus, Gott liebe, so sei dieser ‹das Licht, die Stimme, der Wohlgeruch, die Speise und die Umarmung meines inneren Menschen.›» (Buch von der Deutschen Poeterey, VI. Capitel.) Und — das läßt auch für die verschlankte Version des Canzoniere hoffen — der Emeritus der Berliner Humboldt-Universität Brockmeier deutet, ebenfalls im Nachwort, an, daß es sich bei diesem Werk wohl kaum um eines handeln dürfte, das eine Angebetete ihrem Ritter beim Hotelweekend unterm Eierbaum selbstgefärbt oder gar -gelegt ins Hasennest säuseln wird.

«Francesco Petrarca, ein beflissener Leser der Bekenntnisse des Augustinus, hat die Form des Selbstbekenntnisses auf die Liebesdichtung übertragen: Er hat sich und sein Leben vor das Gericht eines erfundenen poetischen Ichs gestellt, um die Natur seines vergangenen liebenden Ichs zu ergründen. Die Liebeskunst seiner literarischen Vorbilder hat er in eine Gewissenserforschung verwandelt, die sich von der Faszination der Sünde nicht lösen kann. Das Lebensideal, das Petrarca dem Leser der Gedichtsammlung ansinnt, lautet: Lies und schreib, damit du dich selbst erkennst.»


[1] Ich geh in Trauer um vergangne Zeiten, p 953
[2] Ich wende mich zurück bei jedem Passe, p 35
[3] Es war der Tag, an dem die Sonne, ibid., p 157

Francesco Petrarca: Canzoniere
Zweisprachige Gesamtausgabe, nach einer Linearübersetzung von Geraldine Gabor und in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, nach der Ausgabe von Guiseppe Salvo Cozzo, Florenz 1904, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990, 2. Auflage

Zur Petrarca-Monographie von Karlheinz Stierle einiges via Perlentaucher.
Siehe auch: Francesco Petrarca, Das einsame Leben.

 
Fr, 22.04.2011 |  link | (2630) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Homer im Schtetl-Universum

Einzelne Wörter der jiddischen Sprache sind auch im Deutschen geläufig, einige sogar in Gebrauch, ohne daß man sich um deren etymologische Herkunft Gedanken machen würde. Zum Beispiel erklärt sich manch einer für meschugge, tagtäglich malochen zu gehen — letzterer ein Begriff, der vor allem deshalb im Kohlenpott überlebt haben dürfte, weil die Bergleute sich unter Tage mit viel Freude erst an die Staublunge und dann in die Nähe eines früheren Todes gearbeitet haben. Auch heute noch kann ich diesen Gedanken eher weniger mit Spaß am Leben in Verbindung bringen. Aber früher war eben alles anders. Das erzählen einem zumindest gerne kluge öffentlich-rechtliche oder im bequemen Sessel der Zeitungsredaktion sitzende Menschen aus dem Westen, deren Ur- bis Ururgroßeltern aus dem Osten eingewandert sind. Zur Zeit deren Flucht vor der Armut in Polen gab es den Begriff des Wirtschaftsflüchtlings noch nicht. Mir ist auch nicht bekannt, wie der Wortschatz der ursprünglich rheinischen und später auch osteuropäischen Ashkenazim, also aus aus dem jüdischen Stetl in das Heer der katholischen Völkerwanderung gelangt ist. Normalerweise schätzt die eine Gruppierung die andere ja nicht sonderlich.

Jerusalem Mea Shearim 2006 • Photographie: Ahron de Leeuw

Sicher ist, daß diese Ostjuden in ihrer angestammten Heimat selbst das ärgste Schicksal noch lächelnd, weil gottgewollt, hingenommen haben. Die östlichen Ashkenazim stehen sozusagen geographisch im Gegensatz zu den Sephardim, die kurz vor der Wende zum sechzehnten Jahrhundert von den Katholiken aus Spanien vertrieben wurden (die allerdings nicht die orientalischen Juden sind, als die sie häufig fälschlich bezeichnet werden). Sie sind es, die in den letzten Jahren verstärkt in erster Linie Rußland verlassen haben und nach Israel, aber mittlerweile auch nach Deutschland ausgewandert sind; sie haben erheblichen Anteil an den wieder wachsenden jüdischen Gemeinden, in denen sie oftmals Siedlern der Westbank gleich für die Wiederherstellung althergebrachter Glaubensrituale sorgen. Mit ihnen kann man sich durchaus auch heute ohne russische Sprachkenntnisse verständigen — vorausgesetzt, man hat einen der nach wie vor beliebten Jiddisch-Kurse an einer Volkshochschule oder direkt bei der US-amerikanischen Frau Rebbe in deren neumodischem Kiez belegt. Oder man hat es in seiner Kindheit gelernt, um einen Vater zu verstehen, der manchmal in solch einen seltsamen Sprechgesang verfiel, wenn der seine Gefährtin ärgern wollte, die dieser Proletensprache zwar mächtig war, sie aber auf den Tod nicht ausstehen konnte, weil sie so kunstfeindlich unzivilisiert war.

Dieser Vater hat seinem Sohn hin und wieder mal Geschichten aus seiner Heimat erzählt, und zwar in dieser Sprache, in der auch mit der Verwandtschaft in Nahost und manchmal auch in Amerika gesprochen wurde. Es waren oftmals mündliche Überlieferungen darunter, die gesammelt und später aufgeschrieben wurden. Das war in etwa das, was die Gebrüder Grimm mit den Märchen gemacht haben, die ihnen häufig zugeschrieben werden, sicherlich nicht zuletzt deshalb, da die Philologen Jacob und Wilhelm sie einer hochsprachlichen Vereinheitlichkeitsübersetzung unterzogen haben. Dieser Vater aber, der hat nichts moralisierend behübscht, schon gar nicht in der Weise, in der beispielsweise die Operette vulgo Musical diesen Fiedler auf dem Dach in Anatevka verpeinlicht hat. In den originalen Mythen war die kleine Welt bereits so komisch, daß ihnen nicht auch noch Witzchen angeklebt werden mußten, die auch wirklich jeder Kulturkreisfremde verstand.

Nun kam mir dieser Tage ein Buch aus meinem regalen Leben entgegen, das ich gerne verhyperlinkend empfehlen würde, doch es scheint nicht mehr erhältlich. Es handelt sich dabei um Jiddische Erzählungen. Darin ist teilweise enthalten, was manch ein jüdischer Schriftsteller aus seiner Denk-Sprache direkt in die Schrift hat hineinklingen lassen. Denn der dieser Mentalität ureigenartiger Witz funktioniert am ehesten in seinem Idiom — soweit das überhaupt schriftlich lesbar zu machen ist und man nicht ausnahmsweise zum sogenannten Hörbuch greifen muß. Zu den Klassikern dieser eigenen Literaturgattung gehören Scholem Alejchem, Jizchak Lejb Perez und Mendele Mojcher Sforim, von denen Leo Nadelmann dreizehn Geschichten ausgewählt und übertragen hat.

Allein Die Reisen Benjamin des Dritten von Mendele Mojcher Sforim belegen diesen skurrilen Humor und hintergründigen Witz. Erzählt wird von Benjamin aus dem verschlafenen Nest Tunejadowka, den das Reisefieber packt. Gemeinsam mit dem gutmütigen Einfaltspinsel Senderl, einer Art jiddischem Verwandten im Geiste des Schweijk, macht er sich auf nach Erez Israel, ins gelobte Land. Doch nicht dort, sondern in einer Kaserne der Zarenarmee landen die beiden, weil sie von Glaubensbrüdern als Söldner verschachert wurden.

Auch die anderen Erzählungen sind außergewöhnliche Unterhaltung mit eben diesem tiefgängigen Humor, der stellenweise philosophische Dimensionen vereinfachend verrückt. Das sind Menschen wie zum Beispiel dieser Georg Chaimowicz, die eine schweinerne Bratwurst deshalb genüßlich meterweise runterkauen, weil sie fest daran glauben, es wär' a Fisch. Auch Albert Einstein fällt mir dabei ein, der in meinem Familienbesuch auf die Frage nach dem lieben Gott antwortet, daß er den nicht brauche. Solche Geschichten zu erzählen ist kein WDR- oder WAZ-Chronist in der Lage. Das können nämlich nur diese Homers aus dem Schtetl-Universum.
 
Di, 19.04.2011 |  link | (9272) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Das Huhn zum Sonntag



EIN EITLES Huhn traf im Garten eine Kröte. Die Kröte begann sich auf- und aufzublasen, um so groß zu werden wie das Huhn. «Paß auf», sagte dieses, «daß es dir nicht wie dem Frosch ergeht, der so groß werden wollte wie der Ochse.» «Ich weiß», sagte die Kröte, «aber hier handelt es sich nicht um einen Frosch und einen Ochsen, sondern um eine Kröte und ein Huhn.» Und die Kröte blies sich weiter auf, und blies und blies und wurde größer als das Huhn.
Bei Luigi Malerba schleicht sich der Verdacht ein, er habe zwischen seinem Zeilengefieder die These versteckt, das Huhn als solches sei mindestens so zivilisiert wie diejenigen, die es in Batterien halten. So kann man aus diesem tierischen Kompendium der tieferen Psychologie einiges über die Spezies Mensch erfahren, zum Beispiel dies:
Ein römisches Huhn ging unter dem Konstantinsbogen hindurch, aber es empfand keinerlei besondere Gemütsbewegung dabei. Es ging ein zweites Mal hindurch, und wieder war es enttäuscht. Es fragte sich, warum Konstantin diesen Bogen wohl hatte bauen lassen, um dann drunter durch zu gehen.
Es gibt eben nicht nur Sonntags-Hühner ...

Luigi Malerba
Die nachdenklichen Hühner
131 kurze Geschichten
Aus dem Italienischen von Elke Wehr
Mit Zeichnungen von Matthias Koeppel
Wagenbach, Berlin 1984

Flohmarkt: savoir-vivre 1984

 
So, 03.04.2011 |  link | (3275) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Die Liebe in die Hose

oder der Gnadenflick.

Das hat so seine ganz eigenen Arten. Es muß was Sonderbares sein, sie so zu lieben. Im August vergangenen Jahres war ich prächtig amüsiert von Herrn Nniers zauberhaft erzählter Geschichte, die ich fälschlicherweise als Porno bezeichnete, war sie doch reine und feine Erotik, da sie mehr verbarg als nackte Tatsachen zeigte. Und außerdem sollte schließlich das der Maßstab sein: Welcher Schauspieler und Sänger könnte eine Liebe und Hingezogensein zu jemandem heute noch spielen, ohne das ganze auf Sex zu beziehen?

Doch ich hab's dann eben doch getan. Reumütig zitiere ich mich selbst: «Selten bin ich so langsam, so vorsichtig, so behutsam vorgegangen (beim lesen), um zum Höhepunkt zu kommen. Kaum ein Porno ist schöner gewesen als dieser.» Aber ich hatte eben spontan an diesen anderen, vermutlich weniger bekannten Aufklärer Mirabeau gedacht, von dem ich meinte, nur der «könnte da noch mithalten»: «Es schmerzte mich ein wenig, als [...] in mich einführte, ich litt. Doch ich ertrug diesen Schmerz in der Hoffnung auf eine höchst erfreuliche Sensation.» François Bondy empfand das anders oder nicht so sensationell.

Ich will in aller Unverschämtheit die Gelegenheit nutzen und erneut an dieses grandiose Kopfkino erinnern, an diese zwei wunderschönen (aber leider auseinanderfallenden) Dünndruck-Merlin-Bändchen Ausgewählte Schriften* (1970), aus deren im ersten Büchlein enthaltenen Erzählung Lauras Erziehung ich die beiden Sätzlein (Seite 486) zitiert hatte, zu denen ich sofort hingesprungen war, nachdem es (leider) mit Herrn Nniers Sätzen ein Ende gehabt hatte. Alleine die sexual-pschologischen Kommentare der Frau Dr. Johannna Fürstauer, die mir ähnlich mal anderswo begegnet zu sein scheinen, ich meine bei Alphonse Daudet — sogar der Autor der Briefe aus meiner Mühle hat einen über dreihundert Seiten starken Roman titels Sappho verfaßt, in dem der junge Jean Gaussin der älteren Fanny Legrand «zärtlich, lüstern und eigensüchtig» verfällt —, die mir als Verfechterin der Prüderie aufgefallen ist, schlagen Bondy um Längen. Letzerer hat es wohl nicht ertragen, daß einer wie der Abgeordnete Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, mal an was anderes gedacht haben könnte als an die einzige Art der Aufklärung. Es ist aber auch typisch für die Zeit, in der man durchaus mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft des Fortschritts rechnen mußte, las man anderes als Karl Marx. Aber François Bondy war 1971 bereits ein altersfortgeschrittener Herr. Was nicht heißen soll, daß er nicht auch Lesevergnügen bereiten konnte. Nur eben ein bißchen anders orientiert. Wie auch immer — der großartige und von mir durchaus ein wenig verehrte Verleger Andreas J. Meyer kannte sich (nicht nur) in der abseitigen französischen Literatur bestens aus. Bereits 1960 hatte er ein Verfahren am Hals wegen «Verbreitung unzüchtiger Schriften». Die Staatsanwälte und Richter, die auch anderenorts aktiv wurden, hatten wohl durchweg die Bibel, in deren Namen sie ja häufig klammheimlich mit (be)urteilten, recht selektiv gelesen.

Lauras Erziehung, verfaßt zwischen 1777 und 1781, vorangestellt hatte der Comte de Mirabeau*:
Zieht euch zurück, ihr eifernden Zensoren,
Schließt, Frömmler, Moralisten, Narren, eure Ohren!
Nicht sollt ihr eifernden Megären mit uns rechten,
Hinweg mit euch, ihr Stolzen, Selbstgerechten,
denn dieser Blätter süße Heimlichkeit
ist nie und nimmer euch geweiht.
Neuerlich auf all das gekommen bin ich allerdings über diesen am vergangenen Montag erschienenen, nicht minder köstlichen Blick auf die in die Hose gehende Liebe, durch der geschätzten Nachbarin Gnadenflick. Er stellt eine an die Sterblichkeit erinnernde Variante dieser Gnadenlosen Liebe dar: «Grau ist sie geworden, und dunkel war sie einst, wie dunkel, das lässt der ungebleichte, freie Fleck am Hinterteil erahnen, und lange wird die Hand brauchen, sich zu gewöhnen an eine Tasche weniger, das Alter fordert Tribut und Abschied.» So langsam erschallt (in mir) der Ruf nach einer eigenen literarischen Gattung, die in die Philosophie dieses Alltags greift wie eine Hand beim Hineingleiten in ein Loch ungeahnten Ausmaßes.


* Aus dem Inhaltsverzeichnis des Merlin-Verlags:

Honoré Gabriel Graf von MIRABEAU — AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN — Herausgeberin und Übersetzerin Dr. Johanna Fürstauer, 2 Bände, 596 u. 702 S. Lw. EUR 24,50
ISBN 3-87536-016-8

Seine wohlhabende Frau zwang der heißblütige junge Graf gegen ihren Willen zur Ehe, indem er sie kompromittierte. Als er wenig später wegen seiner Verschwendungssucht und seiner Ausschweifungen inhaftiert wurde, verliebte er sich in die Gattin des Gefängniskommandanten und entführte sie ins Ausland. Dort ernährte er sich von der Abfassung pornographischer Schriften und der Veröffentlichung unerschrockener politischer Pamphlete. Die 2-bändige Dünndruckausgabe bietet eine repräsentative Auswahl dieser Texte.

 
Do, 06.01.2011 |  link | (3705) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Früher oder später Straßenbau

Photographie EJP Photo (CC)

Endlich ist es soweit. Die Antwort auf die Frage nach «dem Leben, dem Universum und allem» kann man vom 28. Dezember (1982) an im Bayerischen Rundfunk erhalten. In sechs Folgen zu je fünfzig Minuten versucht der britische Hörspielautor Douglas Adams mittels seiner Science-fiction-Satire Per Anhalter ins All erschöpfend Auskunft zu geben über die brennenden Probleme der Menschheit: Warum wir leben, warum wir sterben und warum wir zwischendurch soviel Zeit mit Digitaluhren am Handgelenk verbringen. Der Bayernfunk hat mit diesem Sechsteiler sein teuerstes Hörspiel produziert, SWF (ab 12. Januar wöchentlich) und WDR (ab 13. März) halfen als Coproduzenten bei dem 150.000-Mark-Projekt.

Das Spektakel beginnt mit der Apokalypse und bringt gleich britischen Humor ins Spiel. Arthur Dent, ein Erdling wie wir, sieht sich eines Morgens Preßlufthämmern und Bulldozern gegenüber: Sein Haus soll abgerissen werden, um Platz für eine Umgehungsstraße zu schaffen. Seinen Sitzstreik beendet Arthur allerdings nach wenigen Minuten, da sein Freund Ford Prefect auftaucht und ihm klarmacht, es gäbe Wichtigeres: Die Welt geht unter, weil draußen im grenzenlosen All eine Bauflotte der Vogons, eine Art galaktischer Techno-Faschisten, den Auftrag hat, die Erde zu beseitigen, um eine intergalaktische Umgehungsschneise zu bauen. Und es passiert: Unser Planet wird zerstört. Doch damit geht's erst richtig los: Arthur und Ford können nämlich gerade noch per Anhalter mit einem Raumschiff ins All entwischen. The Hitchhiker's Guide To The Galaxy bescherte der BBC im Jahr 1978 die höchsten Einschaltquoten. Hierzulande wurde man erst wach, nachdem Hans Pfitzinger den Stoff der Hörspielabteilung des Münchner Senders vorschlug. Er rannte offene Türen ein. Science-fiction, und auch noch komisch — das war endlich mal was. Ernst Wendt, Regisseur und Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele, übernahm die Regie, und eine Reihe prominenter Mimen trat die galaktische Sprachreise an: Dieter Borsche, Markus und Rolf Boysen, Hans Korte, Klaus Löwitsch, Felix von Manteuffel, Hans Reinhard Müller und Helmut Stange. Die Frauen im All sprechen Barbara Freier und Doris Schade, Bernhard Minetti reiste für den einzigen Satz des durch den Raum schwebenden Wals an, die Musik komponierte Frank Duval, und die Toneffekte, mit denen das ganze Audio-Unternehmen steht und fällt, stammen von dem Toningenieur Günther Hess ... Die beiden Helden abenteuern vorwärts und rückwärts durch Raum und Zeit, bedienen sich des galaktischen Kreuzers Herz aus Gold und der neuesten Entwicklung auf dem Gebiet der Fortbewegung, dem Unwahrscheinlichkeits-Antrieb.

Sie erfahren, daß der Mensch nicht, wie bisher angenommen, das zweitintelligenteste Lebewesen der Erde (nach den Delphinen) war: Die Mäuse, jene Nager, die zur Tarnung in den wissenschaftliehen Labors in Laufrädchen herumrannten, hatten ursprünglich unseren Planeten maßschneidern lassen. Sinn des Unternehmens: Die Erde sollte als Computer enormen Ausmaßes die Antwort auf die Frage aller Fragen finden. Dummerweise schlugen aber die Vogons fünf Minuten zu früh zu. Den Mäusen bleibt nichts anderes übrig, als noch einmal von vorn zu beginnen. Slartibartfast, Spezialist für Küstenlinien, der einst für Norwegen einen Preis gewann, macht sich wieder an die Arbeit.

Bis sie die Antwort erfahren (sie lautet forty-two), müssen Arthur und Ford noch mit allerlei lebensgefährlichen Begegnungen fertig werden, lernen den Erfinder des stärksten Drinks aller Zeiten (der Pangalaktische Gurgelsprenger) kennen und landen schließlich auf einer prähistorischen Erde, die von Sekretärinnen und Versicherungsvertretern bevölkert ist.

Wenn das Spektakel einschlägt, plant der BR fünf weitere Folgen im neuen Jahr. Titel der Fortsetzung: Das Restaurant am Ende des Universums.

Ich erinnere mich wie heute, ein Virus hatte mich hingestreckt, aber keiner vom Schwein oder vom Vogel, die hatten seinerzeit noch andere Aufgaben, als Gazetten zu füllen, und so nahm ich im rinnenden Schweiß meines Fiebers und unter nachweihnachtlichem Schüttelfrost die erste Folge und folglich die folgenden auf, aber die Bänder gingen verloren, als ich meine Plünnen auf verschiedene Orte verteilte. Zu dieser Zeit konnte man so etwas nicht einfach ordern, da brauchte es mehr als gute Beziehungen; wollte man an solche Bänder herankommen, mußte man mit der Redaktionsdame im vierten Jahrzehnt mindestens einmal den berühmten oder auch berüchtigten BR-Fasching durchgetanzt haben.
Weshalb darf ich so etwas nicht nachkaufen? Als Hörspiel. Nicht als Blinkegefunkel. Die Sendeanstalten bieten doch mittlerweile auch die Lindenstraße oder sogar völlig weißwaschgezeichnete Seifenopern an. Aber das sind eben alles Flimmerbilder. Einmal mehr dürfte das ein Minderheitenproblem sein.


Flohmarkt: Savoir-vivre, 1982

 
Mo, 20.12.2010 |  link | (5378) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 

Auf Wasser wandelnd ...

Das Gespenst, 1982 (DIF)


Das sieht nicht nur so aus, es entspricht der Tatsache: Dieser Mann konnte sogar auf dem Wasser stehen. Der ist so leicht, der setzte einst Naturgesetze außer Kraft. Zwei Jahre, bevor sein Gespenst in Bayern für Windstärken sorgte, daß man meinen konnte, der Starnberger See befände sich kochend kurz vor Helgoland, da heizte er mir mit einem Buch die Seele. Ich habe im Anschluß alles von ihm gelesen, alle seine großartigen kleinen Filme und viele seiner Bilder gesehen; von letzteren sind, das ist mehr als bedauerlich, fast überhaupt keine im weltweiten Netz hängengeblieben. Meines Erachtens ist er der einzige überhaupt existierende wirkliche Bayer. Er ist derart er selbst, daß manch einer ihn heute eine Kunstfigur nennen würde. Aber das käme einer Herabwürdigung gleich. Oder es wäre eine Selbsterhöhung derer, die sich so bezeichnen.

Herbert Achternbusch ist der einzige Mensch, der mir glaubhaft vermitteln konnte: Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren.

Im Vorwort bittet er den Leser, «das Buch zu zerlegen und nach eigenem Gutdünken zusammenzustellen». Und wirklich: Es ist ein Kompendium, ein Führer durch die Gedankengänge des um die Ecke schreibenden und filmenden Bayern von den Ufern des Starnberger Sees.

Wie in seinen Filmen und Gemälden herrscht auch in diesem Buch eine Art geordnetes Chaos vor. Drehbücher und Theaterstücke werden zusammengehalten von einer Prosa, die in etwa von dem bestimmt ist, was er in seinem Film Der Atlantikschwimmer (wahrscheinlich war's doch eher in Servus Bayern?) so formulierte: «Dieses Land hat mich kaputtgemacht. Jetzt bleibe ich so lange hier, bis man es ihm ansieht.»

Ich bin geflohen. Er ist geblieben. Aber das eine oder andere Erinnerungsstück ist heimlich mit auf Reisen gegangen. Nachdem ich die letzten Tage so seltsam fiebrige Träume mit bayerischem Hintergrundgeräuschen hatte, schob es mich in der nicht minder seltsamen Phase der Rekonvaleszenz auf den Dachboden, und da kam er mir gespenstisch aus einem Bücherkarton entgegen. Und tatsächlich: der Geist ist der alte; auch ließe sich sagen: der lebt nicht nur, sondern er ist richtig lebendig. Mir scheint, ich hätte es gelesen wie damals. Sollte es jemanden aus einer Antiquariatsecke her anblinzeln, lächeln Sie nicht nur zurück, das mag der Grantler nicht so sehr, steigen Sie ein: Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren.
 
Di, 02.11.2010 |  link | (4798) | 15 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino



 







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