Aufklärung, Kirche, Religion.

Dabei handelt es sich um elementare Programmbestandteile der Bildungsinstitutionen Radio und Fernsehen. Ein wenig Verblüffung oder auch Erstaunen kommt allerdings auf, wenn die Kulturredaktion eines deutschen öffentlich-rechtlichen Radiosenders fast vier Minuten über den heute den Rhein grenzüberschreitenden Film Die Nonne kritisch oder auch wohlwollend berichten läßt, aber kein Wörtchen Zeit dafür erübrigt, auf welchem Buch dieser Filmstoff basiert, nämlich auf La Religieuse von Denis Diderot, dem großen Enzyklopädisten und Kirchenkritiker der Epoche der französischen Aufklärung. Die Hauptsache scheint zu sein, daß in dieser französischen Produktion eine deutsche Schauspielerin mitwirkt. Somit wird’s fast schon wieder romantisch. Oder so boulevardesk, wie diese historische Epoche der sogenannten Gegenaufklärung heutzutage ohnehin ausgelegt wird.
 
Do, 31.10.2013 |  link | (4552) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Die höheren Künste und deren instanzen

Ich muß auf die Titelseite, denn kaum jemand liest Kommentare. Meine Einschaltquote macht schlapp. Zu untätig.

Was dieser Tillich, der auch noch Stanislaw mit Vornamen heißt, ich weiß ich nicht, weshalb ich ausgerechnet spontan den Feldherrn Tilly assoziierte, vielleicht, weil ich vergangene Nacht träumerisch Schlachten geschlagen habe und beide katholische Kämpfer waren beziehungsweise sind, was also ersterer gesagt hat, das weiß ich nicht, da ich zur Zeit etwas abgeschnitten bin von der allgemeinen Informationszufuhr.

Die Abstraktion ließe sich im Zusmmenhang mit der höheren Kunst, ich komme deshalb darauf, da ich zur Zeit mit ihr beschäftigt bin, auch anders sehen, jedenfalls wenn ich die Perspektive großer Maler zugrunde lege, die wie viele sich auch umfänglich schriftlich geäußert haben. Da wäre zum einen Paul Klee, der zur heutzutage vielzitierten Transparenz gemeint hat, Kunst bilde nicht das Wirkliche ab, sie mache sichtbar. Das dürfte den meisten Betrachtern des Geschehens zu abstrakt sein, zu reduziert auf etwas kaum mehr Erkennbares wie beispielsweise das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch.
«Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld. Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.

Das Quadrat = Empfindung Das weiße Feld = die Leere hinter dem Quadrat.»


Das schwarze Quadrat
im Mekka der höheren zeitgenössischen bildenden Kunst. Kassel, documenta 12. Photographie: © Jean Stubenzweig

Ich will hier jetzt nicht den didaktischen Finger erheben, das liegt mir ohnehin nicht; die Didaktik meine ich, dabei sind andere, nicht nur hier im momentanen Austausch, weitaus gelehrter als ich. Aber soviel assoziativer Hinweis möchte dann doch sein: Auch Malewitsch wurde, nicht nur von Stalin, nicht verstanden. Dieser Kasimir dürfte, wie auch der andere Russe namens Wassily Kandinsky mit seinem Geistigen in der Kunst zu esoterisch, also nicht unbedingt nach der Mondphasenuhr, sondern eher im ursprünglichen Wortsinn geheimwissentlich bestimmt gewesen sein, wie das eben so ist, wenn man unter sich bleibt wie etwa vergleichsweise in der Sprache des genderspezifischen Neuneusprech. Ich sehe dort eine gewisse Nähe zur Sprache, zum Verhalten der Politiker, in dessen Nähe sich auch das von Ihnen genannte Staatsfernsehen, jedenfalls zu den Hauptsendezeiten, also früh morgens zum Frühstücks- und später zum Abendmahlfernsehen gerne aufhält, ohne daß deshalb mehr Durchsichtigkeit entstünde, möglicherweise weil die Gebildeten der über den Redaktionen in den himmlischen Etagen schwebenden oder auch sitzenden Hauptab-teilungsleiter oder vielleicht besser höheren Intendanzen meinen, das könnte die TV-User überfordern. Zugestandenermaßen gibt's zu anderen Zeiten durchaus Hintergrundwissen, aber zu denen will (oder soll?) das Volk größtenteils nichts wissen von irgendwelchen Geheimbünden, wie sie etwa zwischen Politik, Wissenschaft und Industrie zustandekommen. Das mag auch mit ein Grund sein dafür, lasse ich meinen Gedanken ungehemmten Lauf, daß man die Menschen fortwährend zu mehr Arbeit antreibt, ora et labora, auf daß sie nichts anderes mehr wünschen, als am Abend nur noch virtuell am kleinen Glück teilzuhaben und allenfalls noch, wie in Frankreich beinahe seit je üblich, am Sonntag nach dem Kirchgang im Supermarché einzukaufen. In deutschen blühenden Landen wünscht man sich das auch, jedenfalls solange die Penunze dafür ausreicht.* Die Physikerin schafft ja auch unentwegt und bemüht sich, die Grundfesten des Häuschens, dem sie vorsteht, pflegend zu erhalten.

Dürrenmatt: Da hatten wir den kalten Krieg. Was für einen haben wir heute? Ebenfalls wie in den frühen Siebzigern: Desorientierung (ex oriente lux?), Chaos, Wirrnis? Summa: Aussichtslosigkeit, mit oder ohne Fragezeichen. Aber vor fünfzig Jahren wenigstens mit Humor, jedoch ohne den dieser Comedian Harmonists der heutigen Zeit.

Was also liegt näher, bester vorgalileisch verbindender Enzoo, als den Glauben auch an die Wissenschaft zu vertiefen. Die Begierde nach Wissen hat in letzter Zeit schließlich einen geradezu ungeheuerlichen, vielleicht gar protestantisch, als walte Calvin, teuflischen Zulauf genommen, beim adäquat flüchtigen Blick auf das, was sich als Wissensgesellschaft ausstellt, ließe es sich auch als Religionsgemeinschaft erkennen: Kaum jemand weiß nichts Genaues nicht und glaubt dennoch fest daran. Diese köstliche Illusion will untermauert werden. Die Gesellschaft im Glauben zu lassen, sie wisse. Es ist also nur schlüssig, Religion und Wissenschaft redaktionell zu vereinen.

Gehen wir hinters Haus, wie damals. Dort, wo Frauen unter sich sind, wo's zivilisiert, quasi exterristisch im französischen Sinn zugeht, mit kultiviertem Klein-Versailles, sinniere ich so für mich hin, wird's betulicher, nenne ich's musischer. Vorne sind die Macher zugange, die letzte Dame geht, wird immerzu, der ländlichen oder auch Landesreligion gemäß, geschaffen, auf der anderen Seite des (Mikro-)Kosmos, abstrahiere ich das Kultivierte, wird das Geschehen, nenne ich's die griechische, die levantische oder einfach nur die südliche Weise, gelassen beplaudert, mehr oder minder desinteressiert unwissentlich das Unwesentliche vom Wesentlichen getrennt.




* Was hat sie gebracht, die Fragestellung von 1983?

«Solange das Bruttosozialprodukt die heilige Kuh bleibt, solange die ökologische Rechnung nicht wirklich gestellt wird, also nicht die ökologisch relevanten Austauschbeziehungen zwischen wirtschaftlichem Unternehmen und Umwelt ins Licht der Öffentlichkeit kommen, bis in den letzten Winkel unseres Denkens, bleibt Umweltschutz Sisyphosarbeit.Tinnef Wieviel Arbeit, wieviel Freizeit, also wieviel Zweitkühlschränke, Dritt-Trimm-dich-Jogging-Anzüge aus Goretex und Viertfernsehgeräte benötigen wir denn? Wieviele Sonderangebote, also leichtfertig gekauften und nach (meist baldigem) Nichtgefallen schwierig zu (wie sich ein euphemistisches, von Politikern geprägtes Modewort abzeichnet) entsorgenden Sperr-Müll, also Überflüssigem aus dem Baumarkt, der sich, bezeichnend für unser Geschichts- und Geschmacksverständnis und mit seinem kleinteiligen, um nicht zu sagen kleingeistigen Ornamentsangebot völlig gegenläufig zur klaren Struktur dieses Mutterhauses der Vernunft-Form verhält, vielerorts Bauhaus nennt?! Wieviel hat denn die Industrie, der Handel seinerzeit bei den überall propagierten Zweitbremsleuchten innerhalb einer kürzesten Zeitspanne umgesetzt — 15 Millionen Mark. Da hat man den ewig Sicherheitsbedürftigen gewaltig auffahren lassen.»

 
Mo, 01.10.2012 |  link | (3172) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Religiöse oder glaubensfreie Mannwerdung

Eigentlich hatte ich nicht vor, mich zu dieser Thematik zu äußern. Nicht immer verspüre ich Neigung, dagegen anzugehen, weil ich bisweilen der fatalistischen Meinung bin, möge doch jeder nach seiner Façon sein Leben lang gefesselt sein. Nun aber bin ich heute in die weibliche Sturmflut, das Wetter und sein Tief, geraten, nicht zuletzt, weil ich deren Winde immer wieder gerne an mir zerren lasse, auf daß sie mich zerzausen. Sie meint unter dem Titel Beschnittenes Menschenrecht:
Seit Tagen geht mir die Sache mit der Beschneidung durch den Kopf. Allenthalben ist etwas darüber zu lesen — von Gegnern wie Befürwortern dieser Praktik gleichermaßen, von denen, die die Religionsfreiheit in diesem Land gefährdet sehen und hinter der Kritik (wie üblich) Anti-Islamismus Schrägstrich Antisemitismus wittern ebenso wie von kopflosen Xenophobikern. Wirklich Kluges habe ich dazu noch nicht gelesen. Bis ich mal wieder in der Flohbude vorbeischaute.
In diesen Hüpfzirkus schaue ich auch gerne hinein, und so bin ich zu dem Schluß gekommen, dann doch etwas dazu beizutragen. Da ich mich nicht in Kürze fassen kann, schließlich ist das hier keine Telephonzelle bis in die letzten achtziger Jahre des vergangenen Jahrtausends, tue ich das auf meiner Plapperseite, in der nach landläufiger Meinung sich der weibliche Teil meiner Androgynität durchsetzen dürfte. Das Maßgebliche liest sich auf den Seiten der beiden anderen, das ich nur empfehlen kann. Ich will lediglich quasi eine gesellschaftliche Randbegebenheit hinzufügen, die dabei nicht bedacht wurde, die jedoch unterm Strich auf ein gleiches Ergebnis hinauslaufen könnte. Daß es mir nicht gelingen will, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren, führe ich der Einfachheit halber auf die Gene zurück. Ich entstamme einem Elternhaus, in dem immerfort geredet wurde. Dabei durfte ich anfangs nur zuhören. Es endete jedoch darin, aus mir einen Schreiberling gemacht zu haben.

Ich bin als Kind jüdischer Eltern nicht beschnitten worden. Das mag daran gelegen haben, daß sie sich als sogenannte Kulturjuden gefühlt haben; der Begriff kam erst später auf und bezeichnet Menschen, die nicht oder nicht mehr religiös empfinden beziehungsweise nicht nach den Vorgaben, der Lehre dieses Glaubens leben, aber sich der Geschichte des «auserwählten Volkes» verbunden fühlen. Meine Eltern, voran mein Vater, der einem überaus strengen jüdischen Haus, nenne ich das mal so, nach Palästina quasi entflohen ist, um sich wenigstens innerhalb eines Laufstalls bewegen zu dürfen, wollten mir die Freiheit lassen, mich in fortgeschrittenem Alter selbst zu entscheiden, ob ich mich dieser oder einer anderen Religion hingeben oder der Aufklärung gemäß, in deren Tradition mein liebevoller Erzeuger sich geistig bewegte, die im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung nicht etwa in Frankreich ihre Anfänge nahm, sondern in England und Portugal, aber zur französischen Revolution hin enormen Auftrieb bekam, mich gegen jedes Nichtwissen durch Glauben richten würde. Ich habe mich nicht nur für letzteres entschieden, sondern es in mir gefestigt, indem ich ich via Studium versucht habe, die Gegenbeweisführung anzutreten, in der auch dem Glauben in der Romantik und dem an sie noch ein gerüttelt' Maß zuteil werden sollte. So gesehen hat auch mich eine Religion zum Mann werden lassen. Ob daraus ein richtiger wurde, mag offen bleiben. Ich weiß jedenfalls bis heute nicht, was das ist.

Das Thema Beschneidung wurde bei uns dennoch immer wieder mal aufgegriffen, und zwar über seine religiöse Bestimmung hinaus. Mein Vater war der Meinung, sie sei von gesundheitlichem Vorteil, sie schütze vor Erkrankungen im genitalen Bereich, den manch einer bis heute zu seiner Genialität zählt, was sich häufig in einem Überzug namens SUV zeigt und selbst von sogenannt seriösen Medien allüberall immer wieder bestätigt wird (sechzig Prozent der in deutschen Landen neu zugelassenen PKW, entnahm ich gestern dem Buntfunk, gehören diesen Schwellkörpern an). Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, daß vor bald fünfzig Jahren aus der Perspektive eines ziemlich älteren, im vorletzten Jahrhundert geborenen Herrn argumentiert wurde. Denn auch in den frühen Sechzigern, ich war um die zwanzig Jahre jung und mein Vater kurz vor neunzig, als er das letzte Mal das heikle Thema ansprach, dürften Geschlechtskrankheiten wie harter Schanker, auch Franzosenkrankheit genannt, daher wohl im Deutschen der Pariser, der im Französischen ein Capote anglaise ist, gemeinhin auch heute noch unter Syphilis bekannt, oder Gonorrhoe, bei mir als Nebenwirkung Logorrhoe, als sprachlicher, im Konkreten krankhafter Samenfluß nachgewiesen und landläufig sozusagen in aller Munde als Tripper, insofern noch problematisch gewesen sein, als es einige Väter gab, die ihre Söhne zur Liebes- oder Leibeserziehung in den Puff schickten oder gar mitnahmen. Ob das heutzutage noch oder gar wieder gängige Praxis ist, kann ich nicht beurteilen, muß ich jedoch angesichts des allenthalben stattfindenden Sexgewäsches annehmen. Von AIDS war zur angegebenen Zeit jedenfalls noch lange nicht die Rede. Und heute scheint dieses Thema gestorben zu sein.

Tatsächlich habe ich einige Male darüber nachgedacht, aus dem erwähnten Grund mich massakrieren zu lassen. Es mag jedoch durchaus an Rudimenten kulturjüdischer Samenergüsse gelegen haben, die sich genkrebsgeschwürgleich durch meine Synapsen ergossen. Je älter ich werde, um so unsicherer werde ich bezüglich lange zurückliegender Beweggründe. Ich habe jedoch einige Männer kennengelernt, die, obwohl zumindest nach außen hin nicht an das Jüdische als Möglichkeit zur Weltrettung glaubend, sich haben lange nach der Pubertät, also in einem Alter, in dem angeblich die Vernunft fest im Sattel sitzt, beschneiden lassen. Es waren überwiegend US-Amerikaner. Aber womöglich ist das ohnehin das eigentliche gelobte Land. Dessen Lebens-praktiken wird schließlich längst europaweit gehuldigt. Damit käme ich dem näher, an das ich nicht glaube, also lediglich vermute, daß da nämlich so eine Art Ursuppe in vielen drinnensteckt. Und daß die geschätzte Sturmfrau und der nicht minder beachtungswürdige Betreiber dieser Leipziger Flohbude damit recht haben dürften und mit dem sie ausdrücken, was die Grenzen der, wie ich empfinde, grauenvollen Wirklichkeit sogenannt säkularer Staaten zu überschreiten hat, was als jedem Glauben entrückte Wahrheitslehre genannt werden darf:
Hier wird zum ersten Mal vor allen anderen Stärke bewiesen und über den Schmerz hinweggegangen, Trösten wird unterbunden, allenfalls wird abgelenkt. Vor dem breiten Publikum, das bei der Inszenierung solcher Feste zugegen ist, ist die offene Entblößung und Verletzung zugleich eine Demütigung ersten Ranges. Das Kind erhält eine paradoxe Botschaft: "Dir wird weh getan werden, aber du musst dich darüber freuen!"

Dass dies zum Wohl eines Kindes geschehen soll, weigere ich mich zu glauben. Es ist nicht allein die Verfügung über ein Stück Haut, es ist ein bewusstes Überschreiten der Schamgrenze der Jungen, ein Brechen ihrer natürlichen Verhaltensweisen, eine Bloßstellung, die sie dazu zwingen soll, in das von ihnen erwartete Rollenschema aus vermeintlicher Stärke und Macht hineinzuwachsen. So etwas gehört aus denselben Gründen verboten wie Prügel und andere seelische und physische Gewaltmaßnahmen in der Erziehung. Es ist absolut keine Einmischung des Staates in Erziehungsbelange und eine Einschränkung der Religionsfreiheit, wenn der Staat solche schädlichen und überflüssigen Rituale unterbindet. Im Gegenteil: Die Einmischung des Staates macht ganz deutlich, dass der Schutz und die Würde des Menschen Achtung verdienen. Erst recht, wenn es sich dabei um Kinder handelt.

Diese Idee von Würde und Achtung des Einzelnen darf in diesem Land nicht einfach über Bord geworfen werden, schon gar nicht durch religiös kaschierte Bestrebungen, das Individuum mit Gewalt in überkommene Strukturen zu pressen, die seinen seelischen und körperlichen Bedürfnissen nicht nur nicht Rechnung tragen, sondern sie bewusst mit Füßen treten.

Ich möchte das Schlusswort in dieser Sache Herrn Flohbude überlassen:

Kein Mensch gehört jemandem. Keinem Menschen steht es zu, über andere zu entscheiden, sie zu instrumentalisieren, sie zum Mittel eines eigenen oder fremden Zweckes zu machen, in ihre Integrität einzugreifen, sei es körperlich oder geistig. (...) Das Kind gehört nicht den Eltern, die Frau nicht dem Mann, der Schüler nicht dem Lehrer, der Bürger nicht dem Staat, der Arme nicht dem Reichen, der Dumme nicht dem Klugen, der Machtlose nicht dem König. Ganz im Gegenteil: Der Starke, Wissende, Mächtige ist verantwortlich für den Schwachen, Dummen, Machtlosen! In deren Sinne muss er nämlich handeln, auf dass dieser selbst stark, klug und mündig wird, ist er doch in dieser Beziehung der weitsichtigere, eben weil er schon viel gesehen und erreicht hat; er besitzt die Mittel, die dem anderen unter Umständen fehlen. Jede Entscheidung die einen Anderen betrifft muss, und sei es nur im Geiste, mit einem plausiblen Begründungssatz einhergehen. Das weil, welches diese Nebensätze anführt, ist unser einziger Schutz gegen die Willkür, die höchstens einem Tier verziehen werden kann, einem Menschen im 21. Jahrhundert jedoch nicht angemessen ist.
Ich danke beiden für ihre Beiträge, die meine Gedanken vortrefflich zum Ausdruck gebracht haben.
 
Fr, 20.07.2012 |  link | (3428) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Muttersöhnchen Martin

Da ich anderen ihre Schiffstagebücher nicht unentwegt vollkritzeln möchte, plaziere ich nach beinahiger Themenverfehlung meine ohnehin verspätete Antwort in die eigene Kladde.

Zur Rezeption seiner Bücher, vor allem dem vorletzten (?), habe ich mich nach der Elegie schonmal geäußert; das sollte reichen. Doch ich will ohnehin zunächst einmal die Gelegenheit für eine Retourkutsche nicht ungenutzt lassen, ein bißchen was aufzuwärmen, vor allem, nachdem ich dieser Tage mal wieder dem litarischen Quartett gelauscht und zugeschaut habe: Auch oder gerade der «Heim-ins-Reich-Ranitzky», wie Udo Steinke ihn mal nannte, mit seinen nicht weniger mehr oder minder zwischen Buchdeckeln versammelten Postghettodünkeln («Bäckersohn»; der Metzgersohn Franz-Josef Strauß: Haben Sie überhaupt Abitur?), mit seinen von kaum jemandem ernsthaft gebremsten oder auch zu stoppenden Vorliebereien zu einer seinerzeit noch recht jungen, aber geistig bereits seit langem verbeamteten Lyrikerin, deren egotherapeutischen Ergüsse (für mich) mindestens so langweilig zu lesen waren (es gab eine Zeit, da mußte ich das tun) wie andere sich von Walsers Spermaprosa anjejackert fühlten:
«Hat Goethe es verdient», fragt Laura, «daß man ihm so etwas an den faltigen Hals dichtet: ‹Aber da zwischen den weich und nachgiebig werden wollenden Lenden, sein Geschlechtsteil, das ein Leben lang den Ehrgeiz hatte, das Ganze zu sein. […] Er sollte nur noch wünschen und tun, was dieses Teil wollte.› Warum meint ein alter Mann, er könne sich prima in Goethe hineinversetzen, seine Gedanken denken, seine Ideen, seine Sprache nachformulieren? Soll Herr Walser doch ein Buch über seine eigene Altersgeilheit schreiben!»
Dieser Kritikerfürst oder -papst oder -könig mit seinen um ihn gereihten Hofschranzen, allen voran diese bereits als Adoleszenter zum Herrenwitz tendierende, Jungfleischeslust gewordene Humorlosigkeit, dieser unaufhaltsam Eitelkeiten ausspuckende Zeremonienmeister des Guten, Wahren und, meinetwegen, Schönen — ich weiß nicht so recht.

Ich habe meine Gedanken nochmal ein paar Runden durch meine Hirnschale drehen lassen: Warum soll ein altgewordener Mensch nicht lieben und übers Jenseits schreiben, weshalb soll er sich nicht, offenbar scheint das ohnehin in der Natur vieler Menschen zu liegen, über Glaubensfragen, über eine gegebenenfalls damit verbundene Theologie der Hoffnungslosigkeit Gedanken machen und die festhalten? Allein die Tatsache, ein berühmter Schriftsteller zu sein, zwingt ihn ja nachgerade dazu. Zum einen wäre da die Frage, ob er ausreichend geklebt hat, und zum anderen wäre eine Verlagsleitung betriebswirtschaftlich schlecht beraten, einen bekannten Namen nicht zur Mischkalkulation zu nutzen.

Mich interessiert das nicht sonderlich, hinzu kommt. daß in meiner Gedankenwelt sprituelle Bedürfnisse und aufgeklärte Menschen ohnehin Widerparts sind. Aber ich, der ich alles andere werden wollte als ein Muttersohn und es auch nicht wurde, nicht zuletzt, weil die Mutter dem Sohn ausreichend Gründe dafür lieferte, es nicht zu werden, kann mir durchaus vorstellen, daß ein lebenserfahrener Mann zu diesen Themata etwas umfassender beizutragen vermag als ein jungenhafter Pirat.

Ich habe Walser eine Zeitlang recht gerne gelesen. Aber alt bin ich jetzt selber, und das bißchen, das ich lese, kann ich mir mittlerweile selber in mein Erfahrungsbüchlein schreiben. So alt, daß ich mich wundere, wieviele junge Menschen sich trotz massenhafter Kirchenaustritte zusehends mehr für Spirituelles (und Predigten?) interessieren, obwohl Habermas mir spätestens seit den Achtzigern deutlich gemacht hat, die Moderne sei unvollendet; und damit bleiben die Fragen nach ihrer Bedeutung. Doch auch der ebenfalls im Ruhestand schaukelnde Sozialphilosophen-Papst schien bereits 2007 derart das Ende auf sich zukommen sehen, daß er in der Welt-Betrachtung kurz davor war, um einen atheistischen Rosenkranz zu bitten. Von wegen «postsäkulare Gesellschaft». Doch glücklicherweise habe ich gerade noch ein Rudiment wahrgenommen: «Ist die Renaissance der Religion eine Herausforderung für das säkulare Selbstverständnis der Moderne?» Trotzdem mag ich seither auch Habermas nicht mehr lesen, jedenfalls nicht diesen nach einem neuen (Gegen-)Theismus klingenden.

Ich scheine anders zu altern als andere. Manche nennen das gerne Altersstarrsinn. Es ließe sich jedoch auch als Haltung bezeichnen. Weshalb sollte ich mir den Rücken krummdenken lassen von Antworten derer, denen die geistige Osteoporose angesichts des herannahenden Endes das Gehirn brüchig gemacht hat, deren späte Fragen nach dieser Art von Sein mir obendrein vor längerer Zeit bereits beantwortet wurden. Aber vielleicht liegt's auch an der möglicherweise kurzsichtigen Sicht, die mir ein Spezialist vermittelt hat mit seiner nachgerade enttäuscht klingenden Erkenntnis, ich hätte die Gebeine eines Fünfundzwanzigjährigen. Dabei bin ich voller Hoffnung, nicht ständig hoffen zu müssen oder Trost zu suchen oder gar zu spenden wie Martin Walser, jedenfalls nicht so alt zu werden wie er oder Habermas. Ich habe ohnehin den Eindruck, daß die meisten das Immer-Älterwerden verwirrt. Manch einer kommt dabei auf Gedanken wie etwa das Bergsteigen, Drachenfliegen oder Gummiseilhüpfen mit neunzig oder vielleicht bald mit hundert. Andererseits gibt es in dieser Altersgruppe noch solche wie Heiner Geißler, die immerhin attac beitreten. Nun könnte ich also an Hoffnung denken. Aber ich bin eher hoffungslos wie die von mir bevorzugten Romantiker. Nach den strengen wissenschaftlichen Kriterien eines bekannten Volkskundlers und Genforschers ist das vermutlich erbmassig bedingt: Nicht nur mein Vater wurde steinalt. Jedenfalls nannte man das Mitte der Sechziger so, als ich zwanzig geworden war und er neunzig.
 
Mi, 19.10.2011 |  link | (2469) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Mehr- oder Minderheitenprogramme

Nicht so in die breite Masse Gehendes hat bei mir einen seit jungen Jahren festgefügten Vertrauensvorschuß. Wer meine tagebuchähnlichen, zweifellos ohnehin eher nach innen gerichteten, deshalb wohl im Getöse der Chöre eines Gotthilf Fischer oder anderer völkisch-vaterländisch gewandeten Gesangsbewegungen wie den estnischen immerfort im internetten Hyde-Park als dünnes Baritönchen kaum noch wahrgenommenen Verlautbarungen etwas regelmäßiger verfolgt, kennt meine Abneigungen gegen breitensportliche Veranstaltungen. Ich empfinde am Rand der Zechenvororte maulwurfshügelumdribbelnde Ruhrpott-Rastellis als weitaus unterhaltsamer denn sich gen auf Schalke zusammenrottende Heerscharen. Die sich aus der Improvisation ergebende Zertrümmerung eines edlen Sponsorenflügels im musikalischen Keller eines Museums oder die von unseren Familienbarden in der guten Stube vorgetragenen leicht schmuddeligen Balladen entzücken mich eher, als das das bislang einzige von mir erlebte Rockkonzert im Köln der Achtziger, bei dem die berüchtigten rollenden Steine die hochhaushohen Verstärker zum Ertösen brachten und die abmarschierenden Massen zum postkonzertanten Pöbeln. So etwas wie Wacken schaue ich mir lieber als Dokumentation innerhalb sogenannter Einschaltprogramme an, Dabeisein ist eben nicht alles, nachvollziehen konnte ich das ohnehin nie, weshalb ich bei seiner Einzigartigkeit beließ. Diese Radio- und Fernsehprogramme mit Tendenz zu spätnächtlichen Filmen über die kulturellen Inhaltsstoffe des innermongolischen Buttertees haben überdies den Vorteil, nicht von an Werbebannern grell aufblitzenden Desinformationen durch Konzerne überblendet zu werden.

Solch ein Minderheitenkanal machte mich vor ein paar Tagen auf einen Aspekt gesellschaftlicher Repressalien aufmerksam, dessen teilweise absonderliche Summe mir zwar im wesentlichen bekannt war, im Detail allerdings erstmals zumindest eine Teilantwort auf die Frage lieferte, weshalb Meldungen wie die über den Auftritt eines bayerischen Katholiken im spanischen Madrid vor gerademal hunderttausend glücksseligen Jugendlichen permanent wiederholt und auch zwischendrin noch als laufende Botschaft des Bildschirmunterrandes verkündet werden. In dieser Sendung thematisierte Pietro Scanzano zwar hauptsächlich Die teure Trennung von Staat und Kirche, doch zwangsläufig konnte dabei nicht unerwähnt bleiben, daß bei, je nach Perspektive, zunehmender oder abnehmender Tendenz rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung keiner Kirche angehört und gar sechzig Prozent nicht an deren Ritualen teilnehmen. Dennoch werden alltäglich und im besonderen an Sonntagen öffentlich-rechtlich aus allen verfügbaren Senderohren Verkündigungsrituale abgefeuert. Der Autor führt es auf die Ängste der Politiker zurück, diese wohl allzu fundamentale Thematik anzugehen, obwohl «zahlreiche Gesetze, die Privilegien und Förderungen zugunsten der Kirchen enthalten», die «nach Meinung von kritischen Religionsverfassungsrechtlern mit dem Geist des Grundgesetzes nicht vereinbar» sind. So legen innerhalb der sich in letzter Zeit häufenden Ministervereidigungen mittlerweile wieder alle eine Hand auf ein sogenanntes Buch der Bücher und heben die andere hoch zum mir nur schwierig zu vermittelnden Gruß an einen Himmelsführer, verbunden mit dem geäußerten Glauben, er werde ihnen schon irgendwie helfen bei der Wahrheit.

Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings eine parallele Entwicklung neuer, sektenartiger Gemeinschaften mit gleichermaßen dem Glauben gewidmeten Charakter. Es handelt sich dabei um jene, die im Zug nicht ganz glaubwürdiger Sakrilegierungen von einst himmlisch güldenen Kathedralen in irdisch glasstählerne Paläste von denen haben errichten lassen, über die der Dichter mal fragend lyrisierte, ob es letztlich nicht sie waren, die für hundsmiserable Löhne eigentlich gearbeitet hätten. Auch von deren Botschaften werden wir, denen wir ebenso mit Skepsis gegenüberstehen, alltäglich und von früh bis abends zugedichtet. Dabei stellt sich nicht einmal die marginale Frage nach Zu- oder Abnahme von Mitgliederzahlen solcher Gemeinden, denn die dürften konstant gering sein. Wie bei den zur Zeit zwischen Wert, Wirklichkeit und Wahrheit schwankenden Börsendaten werden mal zehn, mal zwanzig Prozent der Bevölkerung notiert, denen deren Gesamtvermögen gehöre. Dennoch nehmen, gleich den sonntäglichen Gottesdiensten sowie den alltäglichen Glaubenmitteilungen auf sämtlichen Kanälen, die Heils- oder Unheilsverkündigungen einen überproportialen öffentlich-rechtlichen Senderaum ein.

So stellt sich zumindest mir die Frage, ob bei dieser vor etwa fünfzehn Jahren von einem Tatort-Kommissar propagierten Maßnahme der Umwandlung des Volkswagens zur Volksaktie eingeführten Programmgestaltung im Zug des Gesinnungswandels letztendlich nicht eine neue Volksreligion eingeführt werden soll, von denen die wenigsten profitieren, aber alle daran glauben.

Möge ihnen der da oben bei ihrer Wahrheitsfindung helfen. Aber unter Minderheitenprogramm verstehe ich etwas anderes.
 
Sa, 20.08.2011 |  link | (3215) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Von Mauern, Gräben, Grenzwällen und Kriegen

In einem seiner früheren Leben, einem recht frühen, einem, das noch von nomadiger Kindheit gesäugt wurde und daraus eine Jugend nährte, die sich mannhaft oder auch erwachsen äußerte, wäre er beinahe mal in den Krieg gezogen. Zu Mannhaftigkeit und Erwachsensein gehörte zur Zeit seiner jungen Jahre auch, zu heiraten und Verantwortung zu übernehmen. Beides tat er, vom Alter her gesetzlich zwar befugt, aber in geistiger Entwicklung doch noch näher an jugendlichen Idealbildern von Heldenhaftigkeit. Erst trat er in den Stand der Ehe, erzählte seiner zum Zeitpunkt der Heirat noch nicht volljährigen Gattin viel von einer ihm den Rücken stärkenden großen Familie in der Levante und philosophierte über deren Erweiterung durch sie beide. Der Backfisch hörte das romantische Abenteuer heraus, in das seinerzeit viele junge Menschen sich zu stürzen bereit waren, da zumindest ein politisch veredelter Abzweig des Kommunismus noch nicht wie heutzutage als ein Irrtum eigentlich rein kapitalistisch zu schreibender Geschichte erachtet wurde. Selbst Angehörige fremder Religionen wurden, teilweise wohl auch aus einem Wiedergut-machungsgedanken heraus, Mitglieder überwiegend landwirtschaftlicher Kollektive im brennend heißen Wüstensand, den sie dort zu begrünen, also zu kultivieren mithelfen wollten. Beim Gros dieser Feldarbeiter war der Aufenthalt jeweils vorübergehend, dem jungen Ehepaar aber sollte sein über direkte mütterliche Abkunft verankertes Siedlungsrecht religiösen Ursprungs auf ewig an eine Stadt dieses Landes binden, in das, als es als Staat noch nicht existierte, bereits viele Menschen aus aller Welt zusammengezogen waren, um endlich in jener Heimat anzukommen, die über eine Schriftenrolle festgehalten und später als historisch bezeichnet worden war. Die Immigration war so gut wie geregelt, aber quasi auf dem noch virtuellen Weg und vor Reisebeginn durch das Mittelmeer fingen sozusagen im Vorhof zu Scylla und Charybdis die Sirenen an zu singen. Sie bewirkten ein Innehalten vor diesem von Wagnis gezeichneten Weg, und so hatte der alte Homer ihn davor bewahrt, in eine Odyssée zu geraten, die ihn nicht in sein gemütliches Ithaka, sondern womöglich auf den Friedhof eines schlimmeren Schlachtfeldes als Troja geführt hätte. Sein heldenhaftes Vorwärtsstreben hatte einen ersten in ihm selbst gewachsenen vernunftbestimmten Aussetzer, die Einwanderung war so gestoppt worden, und er mußte nicht in diesen Krieg ziehen, der bekannt wurde als einer, der sechs Tage dauern sollte und dem weitere folgen würden.

Ob es an dieser Absage durch ihn lag, das ist bis heute, einiges über vierzig Jahre danach, nicht wirklich geklärt, aber relativ kurz nach diesem einsamen Beschluß, nicht in den Krieg und dessen angrenzenden Gebiete zu ziehen, war die Ehe gescheitert, zunächst die Trennung von Tisch und Bett vollzogen, so nannte man das damals, die gerichtliche sollte sehr viel später erfolgen. Es belastete ihn nicht übermäßig, zumal er es war, der anschließender Unmöglichkeit weiteren Ehevollzugs denselben böswillig interruptiert hatte. Überhaupt hatte diese Zäsur in seinem Leben ihn in ein neues geführt. Es sollte ein gänzlich eigenes sein, unbelastet von allen Belastungen, die familiare Bindungen häufig mit sich bringen, wenn sie von traditioneller hierarchischer, sozusagen vorbildlicher Prägung sind. Niemand sollte mehr darüber bestimmen, an was oder an wem er sich zu orientieren habe, seine geographische Zielrichtung war eine eher okzidentale geworden. Alle ihm blutsverwandtschaftlich injizierten Werte wurden geprüft und in weitesten Teilen für die Zukunft verworfen. Sämtliche Brücken in die familiare Vergangenheit wurden gesprengt, spätere, mehr oder minder zufällige Begegnungen bestätigten ihm die Richtigkeit seiner Abrißarbeiten (Ungleiche Brüder).

In seiner Welt entstanden zuvor nie gesehene Bilder, die ihm eine Kindheit und Jugend lang vermittelte Farbenlehre verlor ihre Gültigkeit, alle einst reinen dualistischen Nichtfarben nahmen in seinem Kopf die Gestalt einer Spektralpalette an, die ihm vorher allenfalls durch den erzieherisch etwas aus dem Abseits, aus der rechtsfreien Zone der Unehelichkeit wirkenden Vater angedeutet worden war. Fernseh- und damit Freizeitphilosophen vulgärkommunistischer retrospektiver Prägung nennen das gerne ein Kessel Buntes. Für ihn bedeuteten es erste intensivere eigene Gedanken zu einer Vielfalt, die er während seiner vorherigen unfreiwilligen Wanderjahre zwar kennengelernt, über die er zuvor jedoch noch nie nachgedacht hatte. Als Multi-Kulti hat sie sich umgangssprachlich verbreitet, als Interkulturalität taucht sie in Versuchen auf, eine seit Jahrhunderten gewachsene Realität zu beschreiben und zu begründen. Häufig geschieht das zum mehr oder minder erregten Mißfallen von Ideologen oder auch Dogmatikern, die im Beibehalten oder neuerlichen Ziehen von Grenzen die alleinige kulturelle Rettung der Welt sehen. Die tiefsten Gräben scheinen dort immer wieder aufs neue geschaffen zu werden, wo die verbreitetsten Religionen offenbar so unversöhnlich gegenüberstehen wie beispielsweise am Rand des Landes, dessen Einwohner aus den entlegensten Winkeln der Erde kommen.

Bei einem seiner letzten Besuche in Nahost begegnete er einem renommierten Künstler, der die vereinigten Staaten, in die er als Kind umgezogen worden und in deren Kultur er aufgewachsen war, verlassen hatte, um fortan nahe der Grenze die andere, die Mischkultur in seinem Mutterland zu leben. Das sollte sein Beitrag zum Frieden, sein Versuch sein, auch religiöse Grenzen zu überwinden. Denn seit langem betete er, wie noch zu Zeiten seiner Kindheit und Jugend, keinen Gott mehr an. Ein solcher existierte nicht mehr für ihn. Aber er war von einem kulturellen Umfeld geprägt worden, das auf Religion gründete. Dem konnte und wollte er sich nicht entziehen. Doch ebenso wollte er Mauern niederreißen und Gräben zuschütten, auf daß die Kulturen nicht nur besser aufeinander zugehen, sondern sich auch vermischen konnten, zumal er wußte, daß es auch auf der anderen Seite der Grenze Menschen gab, die den ihnen in jungen Jahren verordneten oder auch befohlenen Gott nicht mehr anzubeten bereit waren, zumal sie alle wußten, daß alle Kulturen sich früher schon einmal miteinander vermischt und zu Einheiten geworden waren. Fortan nannte der Künstler sich Kulturjude und seinen Freund von der anderen Seite der Gräben und der Mauern Kulturmuslim. Manchmal erhalten sie Besuch von Kulturchristen und anderen Kulturnichtgottsuchern, die ebenfalls gegen diese in Europa und den USA neu errichteten sowie in Asien fast schon althergebrachten politischen Grenzwälle und Bollwerke gegen das Fremde sind. Und wenn sie nicht gestorben werden, dann leben sie noch morgen.
 
Sa, 13.08.2011 |  link | (2417) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Tausendundeine besonders arabische Nacht

Eine Lanze hat man bei arte dieser Tage der arabischen Welt gebrochen, zu brechen versucht. Das ist begrüßenswert, gerade im Hinblick auf die Tatsache, daß in den westlichen Medien nahezu einhellig eine Desinformationspolitik betrieben wird, die nicht nur beim bildhaften Konsumenten der Tagesschau in hundert Sekunden zwangsläufig den Eindruck entstehen lassen muß, aus dem nahen und doch so fernen Osten kämen ausschließlich untergeschichtliche Assasins fondamentaliste, die nicht nur für alle Zeiten Wien einzunehmen gedenken in ihren zeitgenössischen troianischen Moscheen. Aber dieses Minarett, wenn ich den Stab mal so nennen darf, den ich hier einmal mehr über die Medien, im besonderen über mein Blütensternengärtchen brechen muß, ist sozusagen in seiner Spitze von der allgewollten Mitte weggekracht.

Da möchte man darauf hinweisen, daß die heutzutage allesamt sozusagen unter Arabern Laufenden nun wahrlich auf eine glorreiche Historie besonders der Wissenschaften verweisen können, hinter der das Alte Europa arg schlecht aussieht, sie nun wirklich alles andere als tumbe Krieger sind, und was wird gezeigt mit einer panarabischen Reality-Show titels Stars of Science? Ein schier unfaßbarer Luxus, geboten von den Herrschern von Qatar, denen während dieser Dokumentation demokratische Absichten geradezu hinterhergebetet wurden. «Kritische Einblicke in eine Welt im Umbruch»? Von wegen. Mein Eindruck war eher, die entgegen der Verlautbarung letztendlich doch idealisierende Lila Salmi wollte sehnsuchtsvoll eine digitale Analogie zur höfischen Strahlung des Sonnenkönigs herstellen, bei dem es alles gab, nur keine Revolution, nichtmal eine arabeske, zu der Zeit war die Welt nämlich noch katholisch und die Mauren seit langem zurückgejagt in ihre Wüsteneien. Auch das anschließende Gespräch zwischen Daniel Leconte und Tim Sebastian war derart angefüllt mit Artigkeiten, daß ich meinte, mich auf einer Werbeveranstaltung der Fifa zu befinden.

Sehe ich mal über diese meines Erachtens mehr als peinliche Beschwörung des arabischen Luxus und der Moden hinweg — nichts als geistige Elite samt materialistisch elitärem Hofstaat war zu sehen. Mich aber würde interessieren, ob diese Lobhudeleien zu den ölangereicherten Emiren auch auf die Bildung all der anderen Bewohner zutreffen, die nicht unmittelbar der Fürstenfamilie verbunden sind. Aber vielleicht irre ich mich und es gibt in dieser auf Öl gemauerten Wüstenwarft keine aus dem Ruder laufenden biologischen Verwandtschaften.

Und was mich an den präsentierten Tagungsorganisatoren und teilweise auch -teilnehmern mit am meisten stört, ist dieses «Ich bin stolz, ein Araber zu sein.» Was soll diese austauschbare Floskel über die Denkfähigkeit des Individuums aussagen? Vor allem vor dem Hintergrund, daß gerade in dieser fröhlichen Wissenschaftsgesellschaft die ganze Welt über die Erdkugel rollt und nach nationalen Zuordnungen zuallerletzt gefragt wird und manch einer schneller US-Amerikaner oder Franzose oder mittlerweile gar Deutscher wird, als die Behörden beim Ausstellen der Pässe für die perles noire hinterherzukommen in der Lage sind.

Und dann wurde auf dieser wüsten Veranstaltung bis auf wenige Ausnahmen nahezu alles in Verbindung zur Religion gebracht. Einer der kommenden Elitären, hier der aus Saudi-Arabien, wollte sich gar nicht einmal von einer libanesischen Jungfrau dieser élite mondaine anfassen, geschweige denn umarmen lassen. Er fand das völlig in Ordnung, ein Weib nicht selbst ein Automobil steuern zu lassen. Indem es von einem Mann chauffiert werde, erfahre es schließlich eine weitaus höhere Würdigung. «Ich bin stolz, ein Muslim zu sein», das hatte mir wirklich gerade noch gefehlt. Kein kritisches Wörtchen gab's dazu bei dieser braven verbalen Verbeugung. Ich wähnte mich alles andere als in Strasbourg, in einem Territorium, in dem der Laizismus aus dem Bauch der Revolution geschlüpft ist, aus dem der Ruf nach der Freiheit nicht nur der Gedanken erschallte. Mehrfach habe ich mich auch hier zu dieser Thematik geäußert. Aber recht gefestigt hat es eine Äußerung anderenorts, auf die ich ich vor einigen Tagen bei Holger Klein gestoßen bin und die Chat Atkins etwas später so köstlich bewitzelt hat. Sie stammt von Cornelius Courts, der da meinte:
«[...] Ich bin dafür, Religion wie Pornographie zu behandeln, als ein menschengemachtes Produkt, für das man sich frei und ohne Scham entscheiden können soll, das jedoch erst für Erwachsene geeignet und für Kinder zu ihrem eigenen Schutz verboten ist. In meiner Eutopie bedeutet dann dieses Verbot, daß Eltern nicht und auch niemand sonst Kinder der institutionalisierten Religion und deren Riten und deren Indoktrination aussetzen darf und daß Kinder bis zum Erwachsenenalter keiner Religion angehören können. [...]»
Das sollte auch oder im besonderen dort gelten, wo zur Zeit laut und zu recht nach der Abschaffung der Knechtschaft gerufen wird. Vermutlich würde das einige (inter-)nationale Probleme lösen.
 
Fr, 08.04.2011 |  link | (3409) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Ach, Caterine aus Swerdlowsk

Im laizistischen Frankreich hat man quasi religions-, genauer: catholiquechangierend den Geburtstag sozusagen zum heiligen Tag erklärt. An ihm, ausgenommen vielleicht am Revolutionstag 14. Juli, wird, wie vermutlich in keinem anderen Staat, gefeiert, als hätte ein Heiland das Licht der Welt erblickt oder die Rénaissance wäre ausgerufen worden. In zunehmendem Maß ist das mittlerweile auch in den anderen Ländern zu beobachten, in denen Wirtschaftswachstum zur neuen Religion umgestaltet wurde. Das nimmt teilweise Formen an, daß der eine oder andere darüber nachdenkt, dem Atheismus adieu zu sagen und tief in den Katholizismus einzutauchen, um nur noch am Namenstag Huldigungen entgegennehmen zu müssen.

Ach ja, die Medici. Ohne die's, via Caterina, in Frankreich keine ordentliche Cuisine* gäbe. Hier (und als ganztägig währendes Menu im Palazzo Strozzi unbedingt zu empfehlen): «kein Heilereignis, sondern ein rein gesellschaftliches, ein recht frivoles überdies».


Da kann ein ritualitätsverweigender, sich schlicht nach weniger Rummel sehnender, am 24. Dezember geborener Mensch geradezu froh sein über seinen Geburtstag.

* Jede gute Küche wird bestimmt von ihren einheimischen Zutaten beziehungsweise den Ahnen der Rezepturen. So, wie die vielgepriesene französische Cuisine aus Italien stammt (wie der gute italienische Café aus Frankreich). Der grand maïtre hört es zwar nicht so gerne, aber die Florentinerin Medici war es schließlich, die sie eingeschleppt hatte, die nämlich gesagt haben soll: Diese gallische Bauernfraße iche nixe fresse.

Nein, hier gibt es keine Geburtstage.

 
Do, 25.11.2010 |  link | (4716) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

Katholische Methoden

Vier dieser an Eisen und Stahl und Stein gewohnten Hände packten ihn, zwei an der linken, zwei an der rechten Schulter, vier weitere zogen ihm die Füße vom Boden weg, alle zusammen zwängten ihn auf den Tisch. Andere kamen hinzu, um ihn zu fixieren. Ein großes Tuch wurde ihm um den Hals und vor die Brust gelegt. Jemand bewegte eine mit gelblicher Flüssigkeit gefüllte Karaffe in die Nähe seines Gesichtes. Noch flacher drückte man ihm die Schultern auf die Tischplatte. Es spürte die Sinnlosigkeit seiner Gegenwehr. So schloß er die Augen. Laut und vernehmlich drang ein lateinischer Singsang an sein Ohr. Die ängstliche Neugier ließ ihn die Augen öffnen. Die Litanei kam von diesem auffallend gutaussehenden Schwarzgelockten, dem er ein solch hämisches Grinsen nicht zugetraut hätte; allen anderen Umherstehenden durchaus, aber nicht ihm, den er immer für fleischgewordene Sanftmut gehalten hatte. Unbeirrt setzte dessen ritualisierendes Gebrabbel sich fort. Das Gefäß mit dem unangenehm aussehenden Inhalt näherte sich seinem Gesicht, bewegte sich über seinen Kopf. Er ergab sich seinem Schicksal, schloß die Augen wieder. Ölig ergoß die Flüssigkeit sich über ihn. Sie roch extrem nach Knoblauch.

Dieselben Hände, die ihn niedergerungen und in die Horizontale gezwungen hatten, stellten ihn wieder auf, wischten ihm die Rückstände aus dem Gesicht, nahmen ihm das Tuch ab, klopften ihm auf die Schulter. Unter laut lachendem Beifall der Zuschauer verkündete der schöne Exekutor, es sei vollbracht.

Vollbracht worden war das, was als Voraussetzung genannt worden war für die offensichtlich unbedachte Antwort auf die Frage, ob er getauft sei. An einem der letzten alkoholseligen Abende hatten der Kritiker und sein kunstdozierender Freund geäußert, wenn sie, die allesamt anderes als Künstler seien, sondern nichts als taugenichtse Zauberlehrlinge, weiterhin so massiv Front gegen die gemeinsam geäußerte Opposition machten, würde man aus Protest zur Ehe fahren. Auch oder gerade deshalb, da Kunst gesellschaftlich so obsolet sei wie Kirche.

Diesem aus dem Alkohol aufsteigenden Brodem war als Argumentation von der Runde begeistert bis grölend zugestimmt worden. Die Vereinigung von Kritik und Kunst, das war es. So könne man, meinte einer noch, von den anderen unverstanden, die beiden Möchtegernanarchen endlich vereint in ihren jüngerschen Kanal schicken, aus dem man sich vermeintlich aus der Meinung der Masse graben könne. Im Rahmen der Abschlußfeier der überaus erfolgreichen Gemeinschaftsausstellung der rund vierzig Bildhauer sollte die Hoche Zeit vollzogen werden. Das traditionsreiche, altehrwürdige Gemäuer böte zudem dafür den idealen Rahmen.

Die Exekution unter ritueller Lateinei und Knoblauchöl, erklärte man ihm, sei die für eine gutbürgerliche Ehe erforderliche Taufe gewesen; beim Partner sei das bereits im Vorstadium der Kindheit vonstatten gegangen, wenn auch weniger gewürzt und nicht so dickflüssig. Er nahm es samt der Huldigung an seine Vorliebe für mediterrane Würze lächelnd zur Kenntnis, sich hin und wieder Ritualreste des studentischen Ulks aus Ohren und Augen wischend. Solange es sonst nichts sei, grummelte er, sich in die hochzeitliche und sonstige Feierei bis in die frühen Morgenstunden hineinbegebend ...

Der Tag zeigte sein Gesicht. Das des Exekutors rückte nahe an das seine, darin wieder dieses feixende Grinsen. Er wisse doch, so sein wohlgestaltetes, feingeschnittenes Gegenüber, daß er parallel zum Studium der Kunst auch das der katholischen Theologie absolviert habe? Bestätigendes Nicken. Aber ob er auch wisse, daß ein Magister dieses Studienganges einen priesterähnlichen Status innehabe? Verneinendes Kopfschütteln, begleitet von ahnungsvoll aufkommender Atheistenpanik.

Ja, die am frühen Abend vorgenommene, für die Ehe erforderliche (Not-)Taufe sei gültig ...

Sie würde Folgen haben, diese Geschichte. Aber das ist nochmal eine andere Geschichte. Erzählt ist sie innerhalb dieser Geschichte.


18.06.08 | 277

 
Mi, 27.10.2010 |  link | (2878) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 

O welch ein Gau!

Die aktuelle Politik läßt mich letztlich doch nicht los. Zwar wird dieses Jahr noch nicht gut gespült am grünen Hügel*, aber die dramatischen Herrgottsschnitzer am Rand der Berge modellieren weiterhin am Mythos herum. Deshalb ein Griff tief in den geistig familiaren Fundus der oder dieser Geschichte, aus der reflexiven Zeit beim schweizerischen Radio, das ein altes Ego auch schonmal zu gipfeligen Festivitäten entsandt hatte.

Zwei Gelübde wurden am Eröffnungstag der Jubiläumspassionsspiele in Oberammergau eingelöst. Einmal das der Alpenrandgemeinde, die vor etwa dreihundertfünfzig Jahren gelobten, alle zehn Jahre das Leiden Christi auf die Bühne zu stellen für den Fall, daß sie endlich von der Pest erlöst würden, die der Ernteknecht Caspar Schisler 1633 in sein Heimatdorf einschleppte. Das zweite Versprechen stammt von dem dreiunddreißigjährigen Rudolf Klaffenböck aus der Erzdiözese Passau im Südosten Bayerns**, in der man noch katholischer als die Kirche sein will und die deshalb pausenlos jene Satire produziert, von der der einheimische Siegfried Zimmerschied meinte, sie sei nicht in der Lage, die Realität einzuholen. Der bibelfeste Klaffenböck hatte das Gelöbnis geleistet, als Christus zu den Passionsspielen nach Oberammergau zu gehen, sollte er für seine filmische Betrachtung der Passauer Fronleichnamsprozession innenministerielle Kurzfilmförderung bekommen.

Er bekam sie. In Linnen gewandet und mit einer Dornenkrone auf dem Haupt überreichte er den zum schlichten Pausenbuffet eilenden bayerischen sowie baden-württembergischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß sowie Lothar Späth vor dem passionierten Spielhaus weiße Nelken und schrieb einer Bonnerin den Schriftzug Christus ins Textbüchlein. Seinem Eid entsprechend gab Rudolf Klaffenböck erst gegen vierzehn Uhr dreißig auf der Polizeistation von Ogau, wie die Einheimischen ihre biblische Metropole verknappt nennen, seine Identität preis — laut Bibel die Geburtsstunde Christi.

Zur Zeit der Identifizierung hatten die rund 4.700 geladenen Gäste der Passionspremiere gerade ihr Mittagsmahl beendet (die kirchlichen und weltlichen Würdenträger aus aller Herren Länder beim neunundzwanzigjährigen 1. Bürgermeister Klement Fend und die weniger Illustren in den vielen Restaurants oder aus der Kühlbox). Man hatte wieder Platz genommen, um den Leidensweg Christi nach Oberammergau nach der Pause weiter zu verfolgen. Da hatte es Petrus dann besser gemeint mit ihnen, die von neun Uhr morgens an bis halb zwölf, als der falsche Christus die Landesoberen und deren Untertanen narrte, recht frieren mußten.

Von Beginn der zweiten Halbzeit an bis zur Himmelfahrt war es dann die Sonne, die den wegen des Glaubens oder aber auch nur wegen des Spektakels Gekommenen einheizte. Die Darbietungen der Akteure, je nach Szene bis zu 850, waren jedenfalls nicht dazu angetan, die Massen in den Rängen zu erwärmen.

Doch für die Feuilletonisten spiele man ja auch nicht, hatte Spielfeldleiter Hans Maier vorsichtshalber vor der Premiere versichert. Was durch seinen Namensvetter aus dem bayerischen Kultusministerium bekräftigt wurde, als er äußerte, er komme einzig wegen des religiösen Erlebnisses in den oberen Ammergau.

Natürlich ginge es auch nicht ums Geld, ergänzte Bürgermeister Klement Fend auf der Pressekonferenz den Regisseur dieser Breitwandkomödie. Es sei das Gelübde, das Dorfbewohner wie Christus (alias Rudi Zwink) dazu bringe, morgens um neun Uhr fünf die Händler und Schacherer aus dem Tempel zu vertreiben. Sicher, der Student der Zahnmedizin in Köln bekommt dafür eine Gage. Aber für die 22.000 Mark muß der gelockte Bärtige am Nachmittag auch etwa zwanzig Minuten am Kreuz hängen, nur gehalten von einem für das Publikum nicht so ohne weiteres erkennbaren Bergsteigersitz. Wobei er dieses Kreuz nicht in jeder Vorstellung erleiden muß, wird er doch in der jeweils nächsten abgelöst durch den achtunddreißigjährigen Drogisten Max Jablonka. Und dem wiederum dürfte der Gemeindeobolus zukommen für die Überwindung, die es ihn kosten muß, zu seinen weit über zehn Jahre jüngeren Maria-Darstellerinnen Ursula Burkhardt und Theresia Fellner «Mutter» sagen zu müssen.

Eigentlich hätte die Gemeinde Oberammergau, die so viele Einwohner hat wie in das Passionsspielhaus hineinpassen, also 4.700, erst wieder 1990 ihre knapp 500.000 Eintrittskarten zu Preisen zwischen sechzig und neunzig Mark zuzüglich der Gebühr für den Vorverkauf unter den eins komma fünf Millionen Interessenten verteilen zu dürfen. Aber im Orwell-Jahr feiert das Pest-Gelübde nunmal 350. Geburtstag. (Und die acht bis zehn Millionen Reingewinn für den Ortssäckel helfen 1990 sicherlich dem neuen Jesus auf den Esel.)

Genaugenommen wurde auch 1977 gespielt. Allerdings war das die passio nova von Ferdinand Rosner, dessen Reformfassung in ‹Konkurrenz› zur Daisenberger-Version stand. Der letztgenannten waren antisemitische Tendenzen vorgeworfen worden, nicht nur aus den USA, woher die meisten Oberammergau-Pilger kommen. Doch diese durchweg gelobten Probeaufführungen lösten in der Voralpengemeinde einen Religionskrieg aus, der die ansonsten im Oberbayerischen allmächtige CSU die politische Vormachtsstellung kosten sollte, weil deren Vertreter sich für die Reformfassung ausgesprochen hatten.

Keine Experimente! lautete die Parole. Weshalb man, bis Ende September rund hundert Mal, doch wieder das alte Glaubensbekenntnis aufführt, wenn auch mit einigen Textänderungen. Oberammergau ist eben «eine internationale Begegnungsstätte», wie Franz Josef Strauß meinte, der in diesem Jahr bereits zum achten Mal aus dem fernen München angereist war.

Man möchte es beinahe glauben angesichts der Opferbereitschaft der Besucher aus aller Welt. Jeder muß zwischen zweihundertneun und vierhundertvierundneunzig Mark in den Klingelbeutel der Gemeinde Oberammergau fallen lassen für das Gelübde-Paket, in das fest eine Eintrittskarte, eine Übernachtung, die Verpflegung und ein Schwimmbadbesuch (!) geschnürt sind. Die Devotionalien, meist aus asiatischer Produktion, nicht mitgerechnet.


* «Gut gespült hat nie Bayreuth», hieß es mal in einer Büttenrede der sechziger Jahre, es mögen auch die siebziger gewesen sein.

** Mit ihrem gemütlichen Stall, in dem deshalb wohl in den Siebzigern Kabarettisten ausgeworfen wurden wie von einer Muttersau (Ottfried Fischer, Bruno Jonas u. a.); Katzlmacherei nennt man es auch in dieser exotischen Gegend.

Die aus einem ehemaligen, nicht mehr existierenden Fischblatt der Sozialdemokratie herauskopierte Photographie (Ausschnitt) stammt von Thomas Karsten.

 
Di, 29.06.2010 |  link | (5366) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches



 





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