An der Nordseeküste

am plattdeutschen Strand — allein die Vorstellung von diesen Pappnasen, wie mein Husumer Fischhändlerfreund selig weiland seine bereits in den Achtzigern nur in Billigheimien glücklichen deutschen Reisenden nannte, gereicht mir zu nicht eben allzu fröhlichen Erinnerungen. Deshalb liegt es auch eine Weile zurück, daß ich mich das letzte Mal auf das Abenteuer einer Schiffreise gen Helgoland aufmachte. Denn ich gehe eher nicht davon aus, daß sich an der Mentalität dieses Menschenschlags etwas geändert haben dürfte. Deshalb habe ich zuletzt auch lieber einen der schnuckeligen kleinen Flieger genommen, von dem aus man die Schwarmintelligenz der Fischlein so wunderschön beobachten kann. Gegen die ausschwärmende Schlichtheit der Tagesbesucher ist man dadurch allerdings nicht gefeit. Erst wenn die alle ihre plastiktütigen, vermeintlich preisgünstigen Errungenschaften an Bord gehievt und wieder an der Bierbar ihres einstmaligen Butterschiffes auf hoher Nordsee verschwunden sind, kehrt Frieden ein in dieses Konsumeiland. Allerdings muß man die Geisteshaltung der vom Tinnef lebenden Insulaner schon mögen, um öfter als einmal bei ihnen zu nächtigen. Aus dieser Perspektive betrachtet verwundern mich die Kommentare zu dem taz-Artikel nicht sonderlich. Aber der hat selbst einige Schwächen, weil die Autorin jammert, anstatt den ohnehin schweren Geist ein wenig lächelnd zu überfliegen – Petra Schellen, die sich ohnehin allzu gerne in Diskursen aufhält («Eine Reise in den Diskurs»; «soziokultureller Diskurs»), statt mal einen Ausflug zu machen.

Aber es ist schließlich auch ein ernstes Thema, der Alkohol, wie das aus der empörten Anklage herauszulesen ist. Dabei dürfte es sich keineswegs um ein spezifisches Problem Helgolands handeln. Da oben wird bis tief ins Festland hinein aus Tassen getrunken: Köm mit einem Schuß Tee. Und zwar seit Beginn der Evolution in Skandinavien. Denn dorthin gehört das Land irgendwie mit seinen kurzen Sommern und ewig langen grauen Wintertagen, und zwar vom westlichen Friesland, das deutsch als Osten bezeichnet wird, weshalb man vermutlich, wie mir dort von Laienforschern versichert wurde, sich sprachlich am besten mit denen von der Ostsee verständigen könne, und in der Mitte eben das nördliche, wo weit draußen im blanken Hans die Schnapsinsel liegt. Zu solchen Landschaften muß man schon Zugang haben, um sich ein Bild davon machen zu können.

Da bildet sich aus Einzelteilen eine Geschichtslandschaft heran in meiner Synapsfabrik. Vielleicht kriege ich sie ja heute noch zusammenkreativiert (mir wird dieser Begriff immer unschreibbarer, seit alle Welt, allem voran Berlin, von diesem Virus und Bakterium gleichermaßen verseucht ist).
 
Fr, 03.06.2011 |  link | (2524) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Als ob Nordseewellen

trekken1 annen ostdeutschen Strand, so sang das huggelige2 Quiddje-Quintett kurz vorm Auslaufen aller erdenklichen, von Zöllen nicht weiter bedachten Schnapsvorräte Ik heff mol'n Hamborger Veermaster seen.3 Das taten die vier rauchstimmigen Sängerknaben von der Wasserkante für das aus reiferen Schwaben und Thüringern bestehende Publikum, das auch brav bereits beim Entern des fröhlichen Aquavitdampfers seegängig mitschunkelte und -klatschte. Mein Gott, sind die blöd, greinte der kürzlich im Mittelmeer wegen eines sogenannten Schusses oder auch Dachschadens von der deutschen OAE-Marine über Bord geschickte junge Kieler (er hatte, für ihn doch recht weit zurückliegende Geschichte und aktuellere Marktgefechte ein wenig durcheinanderbringend, sämtliche Waffen seiner Heimatfregatte entkanonisiert und alle Geschosse durch langstielige Rosen aus Kenia und Tansania ersetzt und gehofft, dafür so etwas wie den Fair-Trade-Preis zu erhalten). Meine Güte, entgegnete ihm sein Betreuer, lass' sie doch, sie lieben eben ihre aus Rundfunk und Fernsehen bekannten volksmusikalischen Psälmchen. Außerdem sei das norddeutsche Platt als solches unlängst von den Wählern des hitparadentechnisch immer gefragter werdenden Häßlichen Rundfunks zur beliebtesten deutschen Sprache erkoren worden, auch wenn sie damit das synchronisierte aus dem hamburgischen Ohnsorg-Theater meinen, vergleichbar mit dem zweitplazierten Oberbayrisch aus dem Münchner Komödienstadl. Das meine er doch nicht, entgegnete der nun frühverrentete Seemann auf Ausgang bei psychiatrischer Begleitung. Die dümpeln in einer Badewanne voller Suff und glauben, sie befänden sich auf einer längst von der Einer-Wird-Gewinnen-Eventliste gestrichenen deutschen Butterfahrt auf der Elbe, aber sie merken gar nicht, daß sie als Alibi herhalten müssen für die neue dänische Schlagbaumpolitik, die nur deshalb diesen ganzen Unblonden aus Nordschwarzafrika den Eintritt verwehren will, weil die nicht genug oder überhaupt nicht saufen.


Den Hafen von Puttgarden laufen zwar einige seesehnsuchtssüchtige Deutsche vorwiegend aus dem mittel- bis hochgebirgigen Süden ihres Landes in ihren vierrädrigen, hochpreisigen oder -klassigen Verkehrsbehinderungen an, er wird jedoch überwiegend von EU-Skandinavieren im allgemeinen, im besonderen aber von Dänen frequentiert, die alltäglich von der Angst getrieben werden, ihnen könnten zuhause die Alkoholvorräte ausgehen. Und da sie schon losmüssen, um ordentlich einzukaufen, nehmen sie die Gelegenheit wahr, sowohl auf der Hin- als auch der Rückfahrt an Bord und mit ihren ebenfalls absolut reinrassigen Verwandten aus dem Süden lautstark auf die Verwandtschaft anzustoßen.
Bis 1990 gab es noch eine Autofähre zwischen Travemünde und Gedser. In letzterem hatte ich bis zu den Anfangssiebzigern des öfteren ziemliches Amusement, war es doch zu lustig, dabei zuzuschauen, wie die dänische Polizei manch einen der vom Dampfer Runterkugelnden in Empfang nahm, um ihn erstmal zur Ausnüchterung in eine Zelle zu verfrachten. Das war für die Uniformierten nicht immer die leichteste Tätigkeit, denn die eher zarteren, aber irgendwie ebenfalls von Wikingerblut durchströmten Dänen können ganz schön schwergewichtig und kämpferisch werden, vor allem, wenn sie voller Spirit sind.


Hinter dem Ramkvillaexpressbuss aus Sverige, den rüstige Rentnerschweden aus Småland nicht nur für die bald anstehenden Fröhlichkeiten der Sommersonnenwende zollgünstig beladen, befindet sich nicht etwa eine dickbauchige Königin Maria, die eigentlich zum xten Mal den Hamburger Hafen anlaufen wollte, dessen Captain sich aber, aus welchen Gründen auch immer, vernavigiert hat. Es handelt sich um das festgemauerte oder besser -betonierte Portcenter, das bis unters Dach mit für skandinavische Verhältnisse preisgünstigen Alkoholika (ab-)gefüllt ist. Es gibt sie also doch noch, die Butterfahrten, für die der Mensch einige hundert Kilometer unterwegs ist, um ein paar Örchen zu sparen.

1–3 Plattdeutsches Wörterbuch
 
Mi, 01.06.2011 |  link | (1770) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

En vogue

(ist eine Antwort auf Seemuse, der ich ihre Seite nicht allzu vollgießen möchte mit meinen Ergüssen)

waren Ente und sein Widerpart auf der linksrheinischen Seite nie, wie das der Fall ist bei den barbarischen Gaspedalisten rechts des anderen Ufers. Das waren früher immer Nutzfahrzeuge. Das ändert sich ein wenig in letzter Zeit. Nicht nur, daß man, wie von mir in Enten(aus)flüge angedeutet, linksrheinisch zu reimportieren und zu restaurieren begonnen hat (für die Rennen mit den auf fünfzig PS aufgeblasenen Geräten fährt man dann über den Rhein, weil man dort darf und im Zweifelsfall die Mandate kostengünstiger ausfallen), man achtet auch zunehmend mehr auf die Unbeschädigtheit des dann teuren Automobils. Beulen und Schrammen werden nicht mehr so hingenommen wie einst. Als mir vor ein paar Monaten eine schicke Audi(o)-Cabrioletistin beim Rückwärtsfahren bis in die obere Etage hörbar in meinen hinteren entigen Kotflügel hineinrumste, war die Dame doch sehr erstaunt, als ich es bei einem schlichten Faustschlag, nicht zu ihr hin, sondern von einem gegen das Blech von innen beließ und keinerlei weiteren Regreß gegenüber ihrer PKW-Versicherung anmeldete.

Aber die Mittagspausen haben sich, um bei der Kultur zu bleiben, die in Frankreich Civilisation genannt wird, schließlich auch von einst zwei Stunden auf vierzig Minuten verkürzt; selbst die sind den Unternehmen mittlerweile zuviel, dreißig werden angesteuert. Nenne ich's mal: Gegenrevolution. Die Deutschen nennen das Romantik; wenn's so auch ständig mißinterpretiert wird. Aber der Reformer Sarkozy hat offensichtlich den Sieg über die Überbleibsel der Revolution davongetragen. Selbst wenn er aus seiner Bastille gestürzt werden würde, es änderte sich im Anschluß daran kaum mehr etwas. Die Internationale des Konsumismus wird wohl dauerhaft ihre Hymne hinausrören. Nun ja, Geschichte.

Aber so richtig mitreden kann ich ohnehin eigentlich nicht. Zwar bin ich gerne mit dem Käfer gefahren, nicht zuletzt deshalb, da er wintertauglicher war, aber eben immer nur leihweise, wie beispielsweise auf meinen gelegentlichen Dienstreisen in die Münchner Theater. Obendrein war ich nie ein Fan, schon gar nicht von den rollenden Steinen oder den pilzigen Köpfen. Ich habe ohnehin immer nur Frauen oder überhaupt Wilde Weiber im Kopf oder sonstige Abseitigkeiten. Wobei ich mir nicht darüber im klaren bin, ob die von mir lieber gehörten Stones in die Schublade R4 oder 2CV gehör(t)en.

Sie sehen: Es prostet die Tata, das Wasser ist nunmal nicht mehr zu halten. Twitterungeeeignet. Für diese Gesellschaft nicht (mehr er-) tragbar. Statthaft sind allenfalls noch Demonstrationen dieser Art.
 
So, 16.01.2011 |  link | (4699) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Macht hoch die Tür, das Tor macht weit ...

Wie immer zu spät: Nachgeklappere zum Tag aller Tage, dem Nineeleven oder mein 11.11.

Den Stau habe ich noch recht gut in Erinnerung: Die Überfahrt von Stralsund nach Rügen. Es war kurz nach der Übernahme der Deutschen Demokratischen Republik durch das bundesrepublikanische Kapital und das französische Schmieröl. Alle Schleusen waren sozusagen geöffnet. In alle Himmels-Richtungen. Die einen holten die letzten Kanister zweigetakteter Energiespender aus dem Keller, um sich bei Hof oder anderswo Bananen zwischen Scheibenwischer und Windschutzscheibe von Trabant oder Wartburg klemmen zu lassen oder in Neuschwanstein die Italiener, Japaner (oder wie diese ganzen Preußen sonst alle noch heißen) in die Flucht zu schlagen. Die anderen packten den Tiger oder sonstwas in den Tank und stellten ihre mittelklassigen (Protz-)Karossen in DDR-Engpässen ebenso ab wie am Brandenburger Tor — oder eben dem Rügendamm. Die einen flohen in den Westen, die anderen in den Osten. Auch ich gehörte zu diesen wendehalsischen Richtungswechslern.

Jahr(zehnt)elang war man der Kosten wegen (geil hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung als Geiz; auf letzteres hatten wir keine Lust) via DDR gen Skandinavien gereist, um sich mithilfe einiger zwischen den Rücksitzen versteckten Flaschen GaBiKo (das steht nicht etwa für ein Internetforum oder eine Firma aus dem schweizerischen Zug, sondern schlicht für Ganz Billiger Korn) aus den auch damals schon real existierenden, ganz unten angesiedelten Sortimentern zwei Wochen lang gemeinsam mit den Numminens oder Kaurismäkis dem Land die tausend Seen leerzusaufen. Startrampe war für uns Berliner jedweder Herkunft Saßnitz, ganz oben auf Rügen gelegen. Und um dort hinzugelangen, mußte man eben durch die DDR. Aber Abweichlertum wurde so heftig geahndet, wie man es vom ostdeutschen Büttel der sowjetischen Kommunismusinterpretatoren gewohnt war. Wegen Spionage, am Ende gar für den kapitalistischen Westen, in Bautzen gezüchtigt zu werden, das wollte man dann doch lieber nicht riskieren. Also blieb man vorsichtshalber auf der sogenannten Transitstrecke, bloß keine Reifenbreite vom für Wessis mit Westgeld planierten Trampelpfad runter! Doch als die Schlagbäume hochgegangen waren, da war kein (An-)Halten mehr. Endlich mal rechts oder links rausdürfen, ohne gleich wegen politischer Umtriebe weggesperrt zu werden, nur weil man sein Wasser mal an einem anderen Baum abschlagen wollte. Endlich mal durch die schier endlosen Kohlfelder streifen dürfen und den Myriaden von Faltern dabei zuschauen, wie sie im Vorfeld so eine Ostjahresproduktion Sauerkraut wegfressen.

Photographie: äquinoktium CC

Man wurde (aus mit den Jahrzehnten gewachsener Horch- und Guck-Tradition?) schon arg beäugt zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Weniger von den Kohlweißlingen. Denen war es vermutlich egal, mit welcher Kraftfahrzeugmarke man ihre Insel verpestete. Aber mit so einer Untertürkheimer Bonzenschüssel! Das war fast so unangenehm wie in Südfrankreich, wo zu dieser Zeit der Anblick eines solchen Gefährts auch schonmal eine sich eben anbahnende Freundschaft im Keim ersticken konnte. Seltsam berührt schauten beileibe nicht nur diese vermutlich dreißig Jahre zuvor in einem alten Gehöft abgestellten und vergessenen Debilen, bei denen man (unter Benutzung der Straßenkarten des Großdeutschen Reiches, die, wenn ich mich recht erinnere, vom Billigheimer der älteren Rechte auf den Markt gekippt worden waren) gelandet war. Auch der scheinbar richtig im Koppe gelagerte Ossi setzte sich in der HO-Gaststätte — beim durchaus wohlschmeckenden güldenen Broiler (mittlerweile, in EU-Norm: BrEUler) für Mark einsfünfundneunzig (West!) — vorsichtshalber mal ein Stuhl weiter. Er hatte unsereins nämlich aus der Edelkarosse steigen sehen. Denn für die Neubundesbürger reichten sämtliche von jedem erdenklichen Verwandtschaftsteil zusammengepumpte Ostmark (eins zu eins für Westmark) letztendlich dann gerademal doch nur für einen zehn oder mehr Jahre alten Opel oder, als quasi zenitischen Fall, BMW, der dann eben in der Regel auf der eilends geradeausgeflickten Piste nach Bergen (auf Rügen) gegen einen der noch zahlreichen Bäume hochkant gelehnt wurde; man fuhr diese Geräte eben so, wie man es von Trabbi und Wartburg her gewohnt war: das Gaspedal immer bis zur Bodenplaste durchgetreten.

Aber zuvor mußte man eben von Stralsund aus über den Rügendamm. Und über den wollten noch andere Wessis, die den Ossis eben mal ihre dicken Westautos und ihre prallgefüllten Patten zeigen wollten. Also war es eng im Nadelöhr Rügendamm. Aber das ist Historie: längst hat ja der Aufbau Ost eine Furt über das Mare Balticum gefunden.
 
Fr, 12.11.2010 |  link | (2334) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Distanzen

Geographische, US-amerikanisch gefühlte Längen und Weiten wurden in der Feldpost skizziert. Eine Freundin aus Jersey habe ihr geschrieben, sie befände sich Ende Juli auf Grönland, da ergäbe sich ja sicherlich Gelegenheit für einen Wochenendabstecher nach Deutschland. Die Adressatin wunderte sich ein wenig über das Entfernungsempfinden: «auch wenn man grönland mit island verwechselt», schreibt sie, «ist es von dort aus noch ein ganzes stück bis germany.» Kommentatorin Pollymere meinte daraufhin: «... als ich weiland 1995 nach 10 Monaten USA wieder zurück kam, hatte ich auch eine komplett andere Einstellung zu Distanzen.»

Das war dann das Moment, in dem bei mir die Erinnerung einsetzte, an den Cousin, mit dem ich ein spätjugendliches Jahr an einem entsetzlich tristen, nur von Sonne und nichts als Sonne belebten Ort verbrachte, beherrscht von Menschen, deren überwiegende Aktivitäten darin bestanden, sich die Haare silberblau färben oder sich mit der Sackkarre an Löcher fahren zu lassen, in die sie dann kleine weiße Bälle hineinschubsten. Vermutlich, weil sie nur Zahlen und sonst nichts zu lesen gelernt hatten und schon gar nichts von Tucholsky wußten, der ihnen gesagt hätte, dieser sogenannte Sport sei ein verdorbener Spaziergang.

Damals konnten wir nicht ahnen, daß dieses Krematorium kurz vor Ende der sogenannten zivilisierten Welt einmal von der Jeunesse und deren Kulturfolge(r)n in Besitz genommen werden sollte. Doch selbst oder gerade dann, wenn man uns über diesen Wandel der gesellschaftlichen Strukturen vorab informiert hätte, hätten wir die Flucht ergriffen. Bereits die Abscheu vor dem beschriebenen damaligen und mit Sicherheit dem dann folgenden way of life trieb mich, der ich wußte, daß ich dort mit Sicherheit keinerlei Studien betreiben wollte, zurück unter die Fittiche von Glucke Europa und den Cousin hoch in den Nordwesten, wo er als freizeitgetriebener Küstengardist lieber in die Kälte des Pazifik hüpfte statt sich im Atlanticbeach noch mehr aufzuheizen, ansonsten behielt er kühlen Kopf bei der Betreuung sogenannt schwererziehbarer Kinder, indem er ihnen des öfteren die Köpfe streichelte. Man sah sich erst wieder, als er die Freiheit des Westens gegen die Bedrohung aus dem Osten zu verteidigen hatte. In dieser Zeit lernte er die Alte Welt schätzen, von deren östlichem Rand auch er abstammte. Deshalb besuchte er sie und auch mich nach seiner Zeit als Friedenskämpfer gerne immer wieder mal. Es lag allerdings nicht so sehr am soldatischen Romantic Old Heidelberg und wohl auch nicht an meiner Person, die ihn so oft wie möglich über den Atlantik rudern ließ, sondern das europäische (Musik-)Theater, das es ihm angetan hatte.

So verabschiedete er sich oft mit der Bemerkung, er fahre mal eben nach Amsterdam, Berlin, Mailand oder Paris. Fünfzehn, zwanzig, zu dieser ICE- und TGV-losen Zeit durchaus übliche Stunden Fahrzeit mit der Bahn waren nicht der Rede wert, und nie und nimmer wäre er wegen der paar Miles in ein Flugzeug gestiegen. Auch in die königliche Oper von Kopenhagen wäre er eher geschwommen als zu fliegen.

Das sind eben keine Distanzen für einen US-Amerikaner. Und genau hier setzt die nächste, nicht ganz so weit zurückliegende Erinnerung ein: Als die Freundin in den Neunzigern mit Familie in ein pennsylvanisches Provinznetz zog, wo der Gatte zu forschen hatte, kam auf Manuskriptanmahnungen alle drei Wochen (öfter schauten viele Menschen damals noch nicht in ihren elektronischen Briefkasten) eine eMail an mit der Antwort: Komme doch zu nichts! Hier benötigt man für die Shopping-Anfahrt nach New York doch immer zwei bis drei Stunden.

Nun gut, auch Europäer fahren schonmal fünfzehn, zwanzig oder noch mehr Stunden mit dem Auto. Aber nur einmal im Jahr, den halben Hausrat in der Voiture und, wenn noch Platz ist, auch ein paar Kinder und deren Häschen. Doch fahren ist wohl nicht die korrekte Bezeichnung für diese Tätigkeit. Denn die meiste Zeit stehen sie auf dem Weg zum spanischen Grill in der Ostumgehung von Lyon und schauen sich, bevor Arno Schmidts Helios den Wagen in die Garage schiebt, ein ganzes Weilchen die Plattenbauten im Westen an. Deshalb fühlen sie sich in diesem Stau vermutlich auch so wohl: Es sieht aus wie in der DDR. Da hat man dann Gesprächsstoff während der Standzeit. Mit der Oper von Lyon hat man eher weniger was im Sinn.

Und unsereins stöhnt schon, wenn er vierzig Kilometer fahren muß, um von der Stadt ins Dorf und wieder zurück zu gelangen. Deshalb brauche ich für die Autofahrt (wenn's denn unbedingt sein muß!) nach Marseille auch in der Regel gerne eine Woche. Den Weg um Lyon meide ich ohnehin. Es gibt angenehmere Wege — den mittenrein und -durch.


25.05.08 | 159
 
Mi, 20.10.2010 |  link | (3267) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Sucher in der Wüste

«Die Kunst des Ignorierens» sucht jemand bei mir, in meinem insgesamt mehr als dürftig quellenden Quell in dieser Einöde der Angebote. Gut, Kunst und Ignoranz verstehe ich ja noch. Aber Duschvorschläge? Nun ja, ich habe zunächst Duschvorhänge gelesen. Doch ich lese ohnehin ständig (pragmatisch gesteuert oder falsch programmiert?) ziemlich daneben. Allerdings hatte mich das bereits ziemlich gewundert, ist doch bei mir nahezu jeder Konsumhinweis kategorisch ausgeblendet, soweit wie möglich abgeblockt. Ich gehe schon nicht mit einem für irgendetwas werbenden Beutel über die Straße. Das kann sich als schwierig erweisen, möchte man ein Kleidungsstück erwerben. Zumindest teuer wird es in der Regel, um einiges teurer jedenfalls, möchte man nicht wie eine Pappfigur auf dem Ku'damm der zwanziger Jahre wandeln oder wie eine Litfaßsäule herumstehen. Aber nicht einmal mehr die gibt's noch, es sei denn im Eventmuseum für die Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden zweiten Jahrtausends. Dafür keucht heutzutage nahezu jeder zweite hypertoniegedopte Rentner mit (s)einer Fünftausend-Mark-Fahrhilfe (zur Erinnerung: das sind wesentlich billiger klingende 2.500 Euro) mit seinem ihn begleitenden Werbeblock aus alten, vom Konsumismus wiederbelebten Kameraden die sanftmütigen holsteinischen Hügel hinauf, die Kunst des Ignorierens eigens für ihn angelegter Radwege nutzend und in Dreierrehen die Straßen absperrend, weniger gleich einer Demonstration gegen die unterirdische, sondern mehr einer für die Belebung der oberirdischen Binnenwirtschaft ähnelnd. Und sollten sie sich tatsächlich zu einem der Heiligen Berge der Tour de France und nicht doch lieber an den Königs- oder Bodensee begeben, nehmen sie als Sperrgut ihr Wohnmobil und packen auf dem Weg zum landschaftlich reizvollen Mont Ventoux das kostbare Huckepack hintenauf, nach hinten alles abriegelnd. Ich mache das ganz anders: Ich fahre, niemanden weiter und vor allem mich nicht behindernd, im Büro spazieren oder stelle es lieber gleich auf dem Dachboden ab.



Auf daß dem guten Stück nichts geschehe — wie neulich meinem guten alten bleu-blanc-rouge-gefärbten Bauerdamensportradl, das die junge Zellforscherin auch durch den Winter befördern sollte, dann aber unter dem vermutlich weniger entzückenden Hintern eines oder einer Unberechtigten verschwand.

Aber Vorschläge zum Duschen? Das blendet nun wirklich jede Werbevorstellung aus. Oder doch nicht? Ist der Mensch in seiner vollständigen Sinnesüberreizung bereits nicht mehr in der Lage, einfach und ohne weiteren Würdeaufwand ins Wasser zu gehen? Erfordert seine Restphantasie bereits Anregungen für den schlichten Vorgang einer Reinigung von oben? Braucht er mittlerweile einen besonderen Blick? Hat's ihm im Gehirn bereits alles auf schwarz-weiß zusammengestrichen, haben seine Synapsen den Silberblick bekommen, der ihm sogar den Duschvorgang tunnelt? Und sucht ausgerechnet in meiner Wüstenei, sucht Halt in meinem (fast) werbefreien und deshalb so tristen Mikrokosmos? Nun gut, gesucht werden darf. Aber fündig werden dürfte so jemand kaum. Jedenfalls nicht bei mir. Ich für meinenen Teil bin allenfalls für die Kunst des Ignorierens zuständig.
 
Fr, 08.10.2010 |  link | (3342) | 19 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Tanz in den Magen

Photographie: Rhys Alton CC


Die in der DDR akademisierte Dame, die sich in den Westen aufmachte, bevor das global-europäische Schmieröl das Land überschwemmte, die sich fortan um die westliche und die eigene Gesundung sorgen würde, war sich sicher: das im Wonneostseebad Warnemünde, das ist «ein Mexikaner». Er hatte schließlich Tacos im Angebot. Sie ist weitgereist, die Dame, sie kennt sich aus mit Wochenendausflügen nach Übersee und Kurzkreuzfahrten, zum genaueren Hinschauen bleibt nicht mehr Zeit, die wird von der heimischen Gesundheit aufgefressen. Die Anwesenden tanzten eine Habanera, eine süße Merengue oder was auch immer, eine über prächtige dämliche und weniger herrliche Hinterteile versinn(bild)lichte rhythmische Salsa eben, diese köstliche Kolonialisten-Sauce, wenn auch mit einer anderen Leidenschaft, als sie an den Leipziger und anderen nordeuropäischen Kunst-Tanz-Schulen friseusenmeisterlich wie Eiweiß steifgeschlagen wird. Glücklicherweise blieben die mit den eingegipsten Hüften sitzen und mampften ihre Tacos, ohne Salsa. Kein Bésame mucho schluchzte, keine Mariachi tröteten wie beim public viewing in einer Fußgängerzone, kein Guitarrón zupfte, Castro fidelte jungbärtig weit über das DIN-A 0-Format hinaus von den Wänden herunter in die verordnete Freundschaft, die diese beiden Länder verband, bevor das eine kapitalistisch liquidiert wurde. Es dürften Überreste dieser letztendlich vereint menschlich gewordenen Verbindungen sein, die im kühleren Osten geblieben sind und Honecker lediglich leidlich erwärmten, auch wenn Unsere Zeit gar eine «zärtliche Beziehung» im «Atem der Weltgeschichte» festgestellt hat. Da besagte Dame seit je dem Kommunismus kritisch gegenüberstand, ohne weiter aufzubegehren, umkurvte sie auch die Klippen des Wissens, daß dieser Karabik-Staat manch einen Botschafter einer etwas anderen Färbung in den eiweißähnlichen kurz vor sibrischer Kälte entsandte — und ein paar von ihnen eben geblieben sein dürften. Sogar kubanischer weißer Rum stand im Regal, richtiger, kein im Exil gebrannter oder gar in Buxtehude abgefüllter. Aber die Gaststätte mußte «ein Mexikaner» sein. Klar, schließlich gab es Tacos. Wie auf dem Dampfer der Kreuzfahrt kurz vor Venezuela, es kann aber auch Martinique gewesen sein, irgendwie wie an der Außengrenze Europas kam man sich schon vor. Ach, du guter alter Kontinent, du ewiger Bildungsborn.
 
Mi, 06.10.2010 |  link | (1908) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Tanken und beten

Photographie: tpmartins CC

Erst wenn die letzte Shell-Tankstelle geschlossen ist und die letzte Plattform im Meer versenkt, werdet ihr merken, daß Greenpeace nachts kein Bier verkauft.
Aus einem Flugblatt, das Anfang der neunziger Jahre eines vergangenen Jahrtausends in der Mensa der Universität zu Kiel auslag. Heutzutage aber bleibt einem nichts als Tanken & Beten. Von Lisa Fitz habe ich dieser Tage eine bemerkenswert logische Eloge auf ihren alten Amischlitten gehört. Nicht nur, daß sie aufgezählt hat, was die Herstellung eines Neuen an Ressourcen verbraucht, auch der dezente Hinweis darauf, daß man an dem chipfreien Alten auch noch selbst Hand anlegen könne, hat mich gut schmunzeln lassen.

Interessant sind die sprit(z)igen Preise, die der scherzende Künstler in sein obiges Bild hineingezaubert hat. Möglicherweise greift das randeuropäische Portugal mittlerweile auch auf global Gedenglishtes zurück und nennt es handyleicht ebenfalls Flatrate-Tanken. Aber zum «Aufnahmedatum» Juni 2009 kostete auch dort der Liter Benzin durchschnittlich einen Euro dreißig. Hier dürfte es sich also um ein retrospektives Traumbild handeln — das mich an die gute alte Zeit erinnert, als ich mir mit meinem sich kurzzeitig in meinem Besitz befindlichen Oldsmobile Cabriolet während der zwanzig winterabendlichen Ku'damm-Runden die dreißig Liter à fünfzig Pfennige noch leisten konnte. Aber damals (!) hieß ich auch noch Student und nicht Studierender. Vielleicht hätte ich doch etwas Anständiges lernen sollen. Kabarett zum Beispiel. Oder Comedian, wie die vielen Nachkommen von Heinz Erhardt sich heute polyglott zu nennen pflegen. Klar, der Urvater war auch immerzu klamm und sein Publikum bereitwillig lustig vorgestimmt. Aber bei den vielen und hohen Gagen wäre ich vermutlich nie Entenpilot geworden.
 
Mi, 08.09.2010 |  link | (1589) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Schweizerdeutsches

Die Dame Damenwahl verkündet, sich in der Schweiz niedergelassen zu haben. Nun gut, dort wird es sich etwas anders leben als in den USA, in Tunesien oder auch im Kongo. Und schon setzt sie Hilferufe in die Welt ab, um der Vereinsamung zu entgehen. Aus ist's mit den gemütlichen Buschfeuern in Wien oder Washington. Schleichend wandelt sie sich um, die Sehnsucht nach menschlicher Wärme in glanzlose Kaufräusche in gigantomanischen Supermärkten, den Wahrzeichen einer Nation des Geldes. Und dann diese Blicke an den Kassen. Schon wieder so eine, die so seltsam spricht.

Photographie: pizzodisevo CC

Vert riet ihr vor zwei Tagen, sich nicht «unterkriegen» zu lassen, und verwies dabei auf einen Pressetext des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), dessen Schlagzeile lautet: «Germanophobie in der Schweiz». Die Deutschen, so eine Studie des WZB, «belegen [...] den vierten Platz nach den Migranten aus Ex-Jugoslawien sowie arabischen und türkischen Einwanderern». Gleich gar von «Anfeindungen» Deutschen gegenüber ist die Rede, auch unter gut ausgebildeten Schweizern. Dazu heißt es unter anderem: «Das widerlegt die in der Migrationsforschung bislang im Vordergrund stehende These: Je gebildeter Menschen sind, desto weniger fremdenfeindlich sind sie.»

Mir stellt sich jedoch zunächst einmal die Frage: Wer ist ein «gebildeter» Mensch? Das hat spätestens seit der Ausrufung Bolognas zur neuen europäische Bastion gegen eine Art neuirdischer Intelligenz eine enorme Perspektivenverschiebung erfahren; man erlebt es über studierende Kinder oder in der direkten Konfrontation an den Hochschulen. Nun ist Bildung nicht mit Intelligenz gleichzusetzen. Aber Klaus Jarchow hat vor ein paar Tagen im Stilstand eine bemerkenswerte und einiges klarstellende Verbindung hergestellt, der ich mich gerne anschließe: «Das Bild, das sich inzwischen zeigt, bietet eine Erklärung dafür, weshalb so viele junge Menschen bei formal hoher Qualifikation trotzdem dumm und unflexibel bleiben.» Eine besondere, «private» Bezeichnung hat er für sie und führt aus:

«Nun stelle man sich einen jener Ölprinzen vor, der von seinen ‹Eislaufeltern› schon im Kindergarten auf Erfolg und Anpassung an das Bestehende gedrillt wurde. Er ist von Anfang an unter Ähnlichen, er lernt, dass es nicht Anbetungswürdigeres gibt als den Erfolg, der sich wiederum in Schulnoten ausdrückt, er besucht eine Eliteschule, wo er von allem Divergierenden ferngehalten wird, er studiert mit dem Ziel eines möglich raschen Einserexamens, was er auf leichtem Wege erlangt, indem er die bestehenden Welterklärungsmodelle seines Jura- oder BWL-Professors möglichst Eins-zu-Eins rezipiert und in dessen ‹Frames› zu denken lernt. Sein Gehirn wird dadurch auf eine bestimmte Art ‹verdrahtet›, das Alte reproduziert sich, nur das ist richtig, was seine Synapsen künftig feuern lässt, alles ist andere falsch. Die Folge: Alternative Denkmöglichkeiten sterben ab, zumindest sind sie nicht ohne weiteres mehr im Denkraum aktivierbar.»

Zu einem Teil dürften sich darunter diejenigen «gut ausgebildeten Deutschen» befinden, die, wie es zur Studie heißt, «seit Ende der 1990er Jahre in großer Zahl in die Schweiz eingewandert sind». Ich begründe meine Vermutung auf persönliche Erfahrungen. Einige Jahre war ich sowohl privat als auch beruflich mit der Schweiz verbandelt. Auch wenn die Bandeleien etwas ausgeleiert sind, so ist der positive Bezug zum Land nach wie vor vorhanden, auch wenn ich mittlerweile in bestimmten Ländern von ganz bestimmten Leuten als grundsätzlich verdächtig ausgemacht werde, wenn ich meine schweizerische Kreditkarte vorlege. Aber vom Monetären völlig unabhängige Freundschaften sind mir geblieben, vielleicht nicht nur, weil nicht alle Eidgenossen dort einen Geldsack haben, wo bei anderen das Gehirn sitzt, eher wohl deshalb, da ich nicht wenige Schweizerinnen und Schweizer als hellwache, kritische und ausgesprochen humorvolle Geister kennengelernt habe. So manches Mal habe ich gedacht, die Ursache für beispielsweise soviel gescheite Kunst könnte darin liegen, weil es ein wenig eng ist im Land und damit in den Köpfen der meisten. Ob es stimmt, habe ich bis heute nicht herausgefunden. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Es ist es so einfach wie überall. Ein wenig Bereitschaft, sich einzufügen, hier eben an die schweizerischen Eigenarten, und es fließt einem die versammelte klassische Intelligenz entgegen. Frau Damenwahl wird bald in diesem angenehmen Plätschern stehen.

Als ich zum ersten Mal via Äther normal theatralisch über die Schweizer kam, sprach die Schulfreundin der Gefährtin in etwa so (ich bin leider des Bärndeutschen nicht mächtig, aber dazu muß man ohnehin in einem Graben geboren sein): Das mag ja alles sehr klug klingen und auch alles richtig sein — aber der spricht ja Bühnendeutsch. Genau, ich bin schließlich schluß- — nein, das haben die Deutschen, völlig vorurteilsfrei, ebenso von dort geklaut wie weitere leichte, nicht nur sprachliche Verunfallungen, etwa das anderswo mittlerweile strafbewehrte Wegschmeißen von Zigarettenkippen oder Papiertüchlein —, letztendlich deutsch kultiviert worden. Da bleibt ein gewisses Knarzen oder Schnarren nicht aus. Und wenn sie etwas nicht ausstehen können, darin sind sich die im europäischen Meer quasi verwarften Insulaner einig, dann das. Wenn sie dann kommen, und es knarzt und schnarrt wie bei den alle Weisheit in sich vereinenden Ölprinzen, dann werden sie leicht sperrig. Daß sich die Franzosen und Italiener leichter tun im Land als die Deutschen, dürfte nicht alleine daran liegen, daß auch diese Sprachen zur Eidgenossenschaft unterschiedlichster Berg- und Talvölker gehören. Wenn es auch komisch auf mich wirkt, wenn die Bernerin über den Röstigraben hüpft und als dorthin Umgezogene dann auch den zuhause Gebliebenen lieber Briefe in einem zum Worterweichen schlimmen Französisch schreibt. Das erinnert mich dann ein wenig an die deutsche Bahn, die ihren Germslang talgenden Usern ihre Internationality demonstraten will, was sicherlich viele ziemlich cool finden. Aber welche Sprache spricht denn der in die Schweiz Rübergemachte außer seinem Bühnendeutsch und eventuell seinem Terminienglisch? Schwäbisch vielleicht, aber mit Sicherheit nicht Rätoromanisch. Überhaupt ist dieses Land ein köstlicher Sprachen- und damit Mentalitätentopf. Gut, überkochen tut er eher selten, allenfalls wenn man ihm an die Würze der Eigenheiten will. Und wie fleißig und vernünftig geht, das wissen die Schweizer selber. Aber diese vermehrt übers Ländchen kommenden Nachbarn meinen nur zu gerne, die Regeln dafür erfunden zu haben — und die dann anderen, vor allem auf die Schnelle, erklären zu müssen. Ich kenne diese Krankheitssymptome — an mir.

Allerdings habe ich mich durchaus gerade dort immer wieder mal belehren lassen: Es gibt viel zu tun — warten wir's ab. Beispielsweise wie Madame Damenwahl das angeht.
 
Sa, 20.02.2010 |  link | (2610) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Gewaltige (An-)Triebe

Kein Text-, mehr so Ideenklau. Die Inspiration als Archäologin meiner verschütteten Erinnerungen.

Als ich mit Peter Rühmkorf Ende der siebziger Jahre im tiefen Keller des nicht ganz so altehrwürdigen Münchner Rathauses ins Gespräch kam — ich meine, mich an diesen Anlaß zu erinnern —, da ich ihn zu diesem und jenem befragen sollte und als erstes seine Meinung zu diesem «jugendlichen Autoren» wissen wollte, sagte er mir, «Junge, bevor wir weiterreden, erstmal eins: hör bitte mit diesem Autoren auf. Du sagst doch auch nicht: Du kannst mir mal den Motoren reparieren.»

Wie komme ich denn bloß darauf? Sprachwandel? Ach nein, das muß jetzt nicht sein. Der Anlaß ist ein Anlasser, der sich im niedlichen französischen Automobil meines damaligen Pferdemädchens befand und der den Motoren anlassen sollte. Das tat er aber nicht so oft. Deshalb mußte man, wollte man beispielsweise zu einer Beerdigung fahren, die Motorenhaube öffnen, den immer unterm Fahrersitz parat liegenden Hammer nehmen und draufhauen. Auf den Anlasser. Denn gewaltlos ließ der nicht an. Das schien lange Zeit die einzige Möglichkeit zu sein, bestimmten West-Automobilen Antrieb (oder heißt das Vortrieb?) zu verschaffen. Manchmal, das schien eine weitere Variante der vielfältigen französischen Krankheit zu sein, versagten auch die Antriebswellen. Das klang so lustig. Wenn es bei meinen drei R vier vorne taktvoll klackerte, dann wußte ich, das waren nicht die Zikaden rechts und links der Autoroute, sondern die Rufe der Werkstätten. Die hatten die seinerzeit in Massen vorrätig. Die Massen fuhren allerdings auch nicht mit diesen antriebslosen Franzosen. Jedenfalls nicht rechtsrheinisch. Verständlich. Denn denen gegenüber hatte man nicht nur seine historisch bedingten Vorbehalte. Denn wer Frösche frißt, der baut auch keine soliden oder auch ordentliche Autos. Da ist was dran. Weshalb es auch nicht ohne weiteres möglich war, geeignete Reparateure zu finden.

Bevor ich es mir leisten könnte, die Schnauze gänzlich voll zu haben von wirtschaftlichen Formeln pseudopatriotischer Art und für längere Zeit bis hin zu reumütiger Rückkehr auf deutsche Wertarbeit aus Wolfsburg und dann — schließlich! — aus Untertürkheim umzusteigen, war ich beharrlich und vielleicht auch ein wenig halsstarrig weiterhin confortable, also gemütlich unterwegs. Zur Gemütlichkeit gehörte lange Zeit die Nordsee. Die mochte ich schon immer, wie jedes Wasser eben, aber während meiner 504-Epoche tat sich eine verstärkte Freundschaft zu diesem gewaltig getriebenen Meer auf, als es ein mit mir befreundetes kulturkatholisches oberbayerisches Paar in die eigentlich unvorstellbare Diaspora verschlagen hatte, nach Husum, in die protestantisch graue Stadt am grauen Meer, dennoch lange Zeit größter Viehmarkt Europas und deshalb wohl versehen mit einem geradezu ungewöhnlich belebten farbenprächtigen Flugplatz für Bordsteinschwalben aller erdenklichen Typen. Es schien so eine Art Entwicklungshilfe oder: bayerische Ärzte — mittlerweile dürfte mein merkwürdiger Hang zu Medizinern ja bekannt sein — ohne Grenzen retten die nordfriesische Menschheit vor den Spätfolgen dieses Tsunamis der Sittenlosigkeit.

Über Hamburg fuhr man dorthin. Hatte man es, wie der oberbayrische Medicus, sehr eilig, wieder an Labskaus und Nordschnaps in Teetäßchen zu kommen, bretterte man über die Autobahn Richtung Flensburg bis Schleswig und bog dann links ab auf die Rennstrecke, die die Schleswig-Holsteiner zwischen Ost- und Nordsee hin- und herwirft wie die Wellen trekken an Strand. Man kann aber auch, wenn man eher so ein Gemütlicher ist wie ich, den Weg über Heide nehmen und dann über die Dörfer weitergondeln. Ausgegondelt hat sich's allerdings, wenn das Franzosomobil, wie anders in solcher Landschaft, vor allem aber bei solcher Küche, antriebsschwach ist. Bereits in Hamburg hatte dem 504 alles nicht so recht behagt und es ihn fiebergleich durchgeschüttelt. Zwei voneinander unabhängige Essyaisten der Motorentechnik hatten jeweils ein bis zwei Stunden recht rat- oder auch herzlos am Froschfressermobil herumgeschraubt. Danach bewegte es sich wieder etwa drei bis vier Kilometer, um sich im Anschluß daran erneut geradezu epileptisch zu schütteln. Ein dritter schaffte es schließlich, dem Gefährt soviel Antrieb dranzudrehen, daß es es bis Rendsburg schaffte — man hatte uns geraten, vorsichtshalber diesen Weg zu nehmen, da der andere über die Dörfer noch franzosenfeindlicher sei. Dort neuerliche Schraubversuche. Wieder ein paar Kilometer weiter. Diesmal bis Schleswig, wo ich eigentlich links abbiegen wollte, um bald ein Täßchen Aquavit mit einem Schuß Tee und pralle oberbayrische, mit ersten platten Plattversuchen durchsetzte Töne genießen zu können. Das klang nämlich mindestens so komisch wie die Versuche der mitreißenden bernerischen Gefährtin, wenigstens in fremdem Sprachgebiet endlich als Münchnerin anerkannt oder sicherlich auch des Nichtberners, im Berner Oberland nicht als Tourist identifiziert zu werden.

Im niedlichen Städtchen an der Schlei schüttelte man in der Fachwerkstatt — es waren allesamt Werkstätten des französischen Löwen! — bedauernd die vielen fleißigen Köpfe unter der Motorhaube, wo einer nach dem anderen an irgendeinem Schräubchen drehte. Es täte ihnen leid. Der einzige, der dem Einspritzer die wiederbelebende Spritze setzen könnte, sei bereits ins Wochenende entfleucht. In Flensburg allerdings, dort gebe es vielleicht noch eine Chance. Man rief sogar an dort. Ja, aber bitte Beeilung, es sei kurz vor Sonnabend. Nun denn, also rasten wir ruckelnd und durchgeschüttelt bis beinahe nach Dänemark. Was wir nicht fanden, war die Werkstatt, der wir avisiert waren.

Eine andere, zufällig ins Blickfeld geratene sollte behilflich werden, wenn auch nicht so technisch, sondern mehr bei der Wegbeschreibung. Wo denn das Problem läge, fragte der Herr, der auf seinen Status mit Kopf und Händen hinwies, der auf einem geradezu riesigen, noch recht frischen Transparent über der Halle prangte: Meisterbetrieb . Da könne man doch sicherlich hier im Sinne des Preisleistungsverhältnisses, von dem ich jetzt nicht mehr weiß, ob es solch Markantes vor fünfundzwanzig Jahren schon gab, eher helfen als in dieser französischen Apotheke. Bis in den Abend hinein dauerte die Operation. Drei schlimmer als je zuvor verruckelte Probefahrten später: Resignation meinerseits. Der Meister wollte jedoch nicht aufgeben. Erneute Untersuchung. Diagnose: Das Getriebe sei zerstört. Man müsse es in Hamburg bestellen, vor Montag sei nicht damit zu rechnen. Hotel? Zwei bis drei Tage oder länger im reizvollen Flensburg? Mehrere Übernachtungen zuzüglich der geschätzten sechs- bis achthundert Mark Reparaturkosten. Dann vielleicht doch besser die bereits angefallenen dreihundert Märker bezahlen und lieber das andere Abenteuer eingehen, das Wagnis, die totkranke Voiture nach Husum zu schütteln und ihr dort, fern der Biegung des Flusses, ein feines Seemannsgrab zu suchen; eine ihrer herausragenden französischen Eigenschaften, das Rosten, hätte ihr ein sehr rasches Eingehen in ihre natürliche Herkunft ermöglicht. Recycling war zu dieser Zeit noch ein Fremdwort.

Wir haben es geschafft. Der äußerst kommunikative Medicus, der, wohl nicht zuletzt dank seiner skurrilen Fremdsprachenversuche, bereits als ein bißchen einheimisch gehandelt wurde, kannte eine Art Geistheiler französischer Löwen in der grauen Stadt am grauen Meer. Nach einer Stunde schnurrte unsere mittelklassige Katze wieder genüßlich. Und sie sollte es noch eine erhebliche Weile tun. Ohne je wieder aufzumucken. Der Operateur mit winziger Werkstatt ohne zugehörige Approbation hatte seine klinischen Jahre in einem französischen Automobilwerk verbracht gehabt, das in der Heimat einer Schwalbe stand, die mal in Husum gelandet war, aber der Küche wegen wieder nachhause nach Sochaux ins schöne Département Doubs wollte. Aber wie das eben manchmal so ist mit der Liebe, die durch den Magen geht. Jeden Tag zweimal ranmüssen mit jeweils mehreren Gängen — das bremst den Trieb eines Nordfriesen doch gewaltig.


Jetzt habe ich, wie eigentlich beabsichtigt, die Geschichte mit dem freundlichen Gesetzeshüter und dem Alkohol wieder nicht erzählt. Aber das Internet ist ja freundlicherweise sowas von geduldig.

Ach ja, daß es doch zu dieser kurzen Reisenotiz kam, ist dem Wetter zuzuschreiben. Da es recht schwierig geworden ist, mich über die Nebensträßchen zu erreichen, läßt man mich vorsichtshalber im Schnee liegen.

 
So, 14.02.2010 |  link | (3325) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 







Werbeeinblendung

Jean Stubenzweig motzt hier seit 5814 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



... Aktuelle Seite
... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis)
... Themen
... Impressum
... täglich
... Das Wetter

... Blogger.de
... Spenden



Zum Kommentieren bitte anmelden

Suche:

 


Letzte Kommentare:

/
Migräne
(julians)
/
Oder etwa nicht?
(jagothello)
/
Und last but not least ......
(einemaria)
/
und eigentlich,
(einemaria)
/
Der gute Hades
(einemaria)
/
Aus der Alten Welt
(jean stubenzweig)
/
Bordeaux
(jean stubenzweig)
/
Nicht mal die Hölle ist...
(einemaria)
/
Ach,
(if bergher)
/
Ahoi!
(jean stubenzweig)
/
Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut.
(einemaria)
/
Sechs mal sechs
(jean stubenzweig)
/
Küstennebel
(if bergher)
/
Stümperhafter Kolonialismus
(if bergher)
/
Mir fehlen die Worte
(jean stubenzweig)
/
Wer wird schon wissen,
(jean stubenzweig)
/
Die Reste von Griechenland
(if bergher)
/
Richtig, keine Vorhänge,
(jean stubenzweig)
/
Die kleine Schwester
(prieditis)
/
Inselsommer
(jean stubenzweig)
/
An einem derart vom Nichts
(jean stubenzweig)
/
Schosseh und Portmoneh
(if bergher)
/
Mit Joseph Roth
(jean stubenzweig)
/
Vielleicht
(jagothello)
/
Bildchen
(jean stubenzweig)






«Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.»



Suche:

 




Anderenorts

Andere Worte

Anderswo

Beobachtung

Cinèmatographisches + und TV

Fundsachen und Liebhaberstücke

Kunst kommt von Kunst

La Musica

Regales Leben

Das Ende

© (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig





pixel pixel
Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2

pixel pixel