Sirren, nicht Sirenen Heute erinnert er sich gut an den neben ihm stehenden, ihm bekannten Galeristen, der ihn gefragt hatte, ob ihm nicht gut sei und ob er ihm helfen könne, sich dabei allerdings nicht vom Fleck rührte. Ein anderer, den er bereits seit einiger Zeit prüfend beobachtet hatte in der Vermutung, es könne sich dabei um einen lange nicht gesehenen und auch langerwarteten Freund halten, wiederholte die Frage des Untätigen, wurde allerdings sofort aktiv, als er die Instabilität des Körpers bemerkte, mit einem Griff unter die Arme, ließ ihn sanft zu Boden gleiten und legte seine Füße auf die Fußrasten des von einer hinzugeeilten Frau herbeigezogenen Barhockers. Das Gesicht des Galeristen, bei dem er unter fester Beobachtung stand, so wurde ihm später berichtet, sah dabei aus, als ob dieser gleich einen Kreislaufkollaps erleiden würde. Im Nachhinein hätte er ihn gerne gefragt, ob man besser die Plätze tauschen solle; eine solche Bemerkung hätte dessen Hautfarbe sicherlich leicht aufgerougt. Die seine muß zusehends transparenter geworden sein, und immer häufiger vernahm er, wenn auch sich zusehends entfernende Rufe wie «Warum kommt denn da keiner» oder «Mein Gott, brauchen die aber lange» oder «Das sind ja jetzt schon zwanzig Minuten». Wie lange die tatsächlich gebraucht haben, daran kann sich niemand erinnern. An soviel dann aber doch: erst kamen Rettungssanitäter, und der (im Haus anwesende) Arzt brauchte dann nochmal so lange. Nein, nicht der Wein, der am Stand ausgeschenkt wurde, war schlecht (wurde er nicht ohnehin ausgetauscht auf seine Anmerkung hin, der Chardonnay des vergangenen Jahres sei besser gewesen?). Sicher, von Beginn der Veranstaltung an hatte er ihn ja ständig verkostet oder auch weidlich genossen. Aber er war's nicht, auch nicht das Glas Champagner zwischendrin. Auslöser vielleicht, aber nicht Ursache. Die saß in seiner Schaltzentrale oben, wie sich herausstellen sollte. Möglicherweise ein bereits bei der elterlichen Fertigung ungewollt angelegter Defekt, wie beim sogenannten Montagsauto vielleicht, ein von wochenendübermüdeten Arbeitern nicht korrekt verlegtes oder bereits zuvor schadhaftes winziges Kabel, dessen überdies zu dünne Isolierung infolge eines zu bewegten Lebens blankgescheuert worden war und den unvermeidlichen Kurzschluß verursachte. Der Motor kündigte mit einigen Rucklern die bevorstehende Abschaltung an. Ein Omen hatte es ja gegeben. Am frühen Morgen hatte der Radioplauderer darauf hingewiesen: Man möge vorsichtig sein mit dem Gasgeben, denn es sei Freitag, der 13. Doch er neigte nicht unbedingt dazu, solchen Lebensweisheiten Beachtung zu schenken. Er hatte, Platitude hin oder her, Glück im Unglück insofern, als ihm nichts besseres geschehen konnte, als vom irgendwann dann doch hinzugekommenen Arzt (einen Herzinfarkt hätte er nicht überstanden) in eine Art Schlachthaus überführt worden zu sein. Magengeschwür hieß es, eine Magen-Darm-Spiegelung wollte man dann vornehmen, drei Ärzte wedelten dem sich im Dämmerzustand Befindlichen mit einem Papier vor dem Gesicht herum. So etwas wie eine Einverständniserklärung dafür, daß man ihm in all seinen Innereien herumwühlen dürfe, wie der Ausprobierergeist lustig sei, das weiß er heute. Kein Kopfschütteln war es, sondern ein eher kraftloses Hin und Her des Kopfes, das offenbar dennoch als Nein erkennbar war. Daraufhin hatten sie ihn völlig bekleidet, einschließlich der Schuhe, in ein Bett gelegt, neben einen frischoperierten alten Mann, den man unverrichteter Dinge wieder zugeklappt hatte angesichts der Metastasen. Endstation? Für forschende Experimente unbrauchbar? Immerhin schlossen sie ihn an irgendwelche Flaschen mit irgendwelchen Flüssigkeiten an. Als er nach einer Weile aus dem Dämmern erwacht war, überkam ihn eine schreckliche Furcht vor dem, was da kommen könnte. Sie gab ihm die Kraft, sich aufzubäumen und zu fliehen aus diesem Krankenhaus, ins Hotel. Von dort aus rief er eine fachkundige Freundin an. Ob sie ihm bitte die Kanülen entfernen könne. Sie forderte ihn auf, sich umgehend in ein Taxi zu setzen, hin zu ihr. Dort setzte sie ihn auf ihr Sofa, befreite ihn von den noch an ihm hängenden Kabeln und Ösen und bereitete ihm einen Tee. Als er die Tasse zum trinken ansetzte, rutschte er nach unten weg. Der Rest ist Erzählung der Retterin: Der Notarzt sei quasi in Sekundenschnelle dagewesen. Die Fachkenntnis der Freundin hatte sie die richtige Telephonnummer wählen und entsprechende Vorabinformationen liefern lassen. Hatten ihn die Krankheitstransporteure am Tag zuvor noch liegend bewegt, wurde er nun, nachdem man ihn einigermaßen zurückgeholt hatte, in einen Rollstuhl gesetzt, da solche Fälle vorsichtshalber grundsätzlich aufrecht transportiert werden sollten. Nicht schneller als zehn, maximal fünfzehn Stundenkilometer fuhr der Krankenchauffeur, bei eingeschaltetem Blaulicht, jedes Schlagloch umkurvend, um, wie er der neben ihm sitzenden Freundin erklärte, «kein eventuelles Blutgerinsel auf den Weg zu bringen». Dann erinnerte er sich selbst wieder, anfänglich wie aus weiter Entfernung, Jahre danach immer näher: an dieses einige Male auftretende Sirren, das, wie auf der Freundin Sofa, jedesmal erneut das Loch ankündigte, in das er jeweils anschließend gleiten würde; an diese freundlichen Ärzte, an diese liebevollen Krankenschwestern, an die fröhlichen allmorgendlichen Besuche der Freundin, die ihm immer ein kleines Präsent vorbeibrachte, bevor sie in der Neurologischen Klinik nebenan ihren Dienst antrat; an seine flehentlichen Bitten an den leitenden Arzt, in die Heimat zu dürfen, an dessen Hinweis, es sei zu gefährlich, an das anschließende Wohlfühlen, nachdem die Einsicht Einzug gehalten hatte, bedingt auch durch die vielen Besuche; an den Flug nachhause, Wochen später, bei dem die eigens angereiste ehemalige Gefährtin ihn umsorgte wie nie all die gemeinsamen Jahre zuvor, an die fast komisch anmutende Fahrt im Rollstuhl übers Rollfeld zum extra nahe geparkten Turbopropellerflieger, obwohl's problemlos auch zu Fuß gegangen wäre, an die ihn nachgerade umturtelnden behutsamen und sorgsamen Stewardessen, auch wenn sie mehr als vorbereitet, vielleicht besser «geimpft» worden waren über die Ex- und dafür nun Wiedergeliebte mit ihren unverkennbaren Bühnengenen; an das Hotel in den Voralpen, in das er gebracht werden wollte, da er Sanatorien nicht ausstehen konnte, wo ihm dann ein Aufenthalt wie im Sanatorium bei personeller Dauerpräsenz samt einem Winter wie auf der Kitschpostenkarte beschert wurde, der einer Verfilmung eines Mannschen Stoffes gleichkam. Nie tat ihm irgendetwas weh, keinerlei Schmerzen hatte er während dieser seltsamen Vorgänge in seinem Kopf. Aber ein Loch befand sich darin, das mit Erinnerung aufzufüllen sehr, sehr lange dauern sollte. Die schönste, die allerdings immer vorhanden war, ist dieses Sirren. Es Sirenen zu nennen, wäre profan. Zumal es ihm einmal das unvergeßliche Bild ankündigte, sich von oben zuschauen zu dürfen, wie andere ihn zurückzuholen sich bemühten. Es gelang zwar, aber alles sollte sich ändern. Er hatte fortan eine andere Perspektive eingenommen beim Betrachten der Welt.
Tiefer Fall 6. Fortsetzung. «Lola war sein langer kleiner Tod.» Mir fällt ein, daß ich den Tisch freimachen wollte, auch für ein nicht eben üppiges Mahl. Ich habe schließlich Besuch. Schnell schiebe ich die Bücher zusammen — und stelle dabei fest, daß hier offenbar seit Jahren keines dieser Staubmäuse verjagt worden war. Schon wieder ist mir peinlich, was mir ansonsten schnurzegal ist. Naziza steht in der Tür und beobachtet, wie ich einigermaßen fassungslos vor dieser sich auf dem Tisch angesammelten Banalvergangenheit stehe und mich bemühe, sie zu kaschieren. Ich sehe sie zu spät, um ihrem Spott noch entgehen zu können. Ob ich Kitsch produzieren wolle, fragt sie, wir hätten wohl zuviel über Kundera gesprochen, fügt sie noch an. Aber da hatte sie bereits den Lappen in Betrieb. Meine Geistesnahrung gehöre jetzt ins Abseits, da auch der Magen mal was zu tun haben müsse. Mein fadenscheiniger Protest gegenüber der Fertigmahlzeit, gehörte sie doch längst zu meinem häuslichen Alltag, verhallt, zumal sie anhängt, das sei schließlich ein italienisches Spitzenprodukt und außerdem ohnehin die Liebe der beste Créateur. Liebe? Das gab mir Gelegenheit, das Geschehen dann doch wieder ein wenig literarisch-weltmännisch zu ironisieren. Ach. — Und nun gab er im Weiler, auf dem Lande/uns eine Sonne. Sei der Ort gepriesen,/wo solche Frau das Licht der Welt geseh'n! Vergebens. Ob er das geschrieben habe, auf daß ich es ihr eines Tages so schön sage? Meine Entgegnung verpufft, der Italiener habe vermutlich geahnt, daß ich mich eines Tages nach einer Laura sehnen würde. Dann läge ich falsch, kontert sie lapidar. Laura sei blond und sie schwarz, irgendwas von so schwarz wie meine Seele schickte sie noch hinterher. Vor allem aber verblüffte mich diese Äußerung und ließ mich sie fragen, woher sie als nordafrikanisch-vorderasiatische Wüstenblüte denn bitte das herhabe, das mit der renaissanceblonden Laura inmitten der Provence. Ja, diese französische Romanze sei ihr bekannt. Aus dem Italienischen. Sie bugsiert zwei Schüsseln auf den mittlerweile einigermaßen bücherbefreiten und notdürftig gereinigten Tisch. Offenbar stört es sie nicht weiter, daß ich den Tisch nicht gänzlich freigeräumt habe. Das ist mir nicht nur angenehm, sondern auch ausgesprochen sympathisch. Denn die sogenannte Tischkultur, vor allem die, wie sie überwiegend in französischen Restaurants für Touristen obligatorisch und allerorten verbreitet ist, gehört nicht in meinen Vorstellungsbereich besseren Lebens. Wie? Du hast Canzoniere im Original gelesen? «Canzoniere? Rerum vulgarium fragmenta! Bon, neu — Canzoniere. Nun, einigermaßen ein wenig ich kann italienisch. Ich brauchte es für das Studium, und die Arbeit benötigt es ebenso. Ich kann es sogar recht gut sprechen und auch schreiben. Zuhause spreche ich es oft, und nicht nur mit meine geliebte Touristes. Auch mit Marseillaise et Marseillais. Im Restaurant, auf der Straße. Ich lese auch Zeitung und Bücher. Doch es reicht nicht immer für diese Langue cultivée. Mais, ich habe eine zweisprachige Ausgabe. Italo-allemand! Sie ist mir geschenkt worden von einem wunderbaren Mann. Es ist wunderschön. Ich lese sehr gerne und sehr oft darin. Es ist manchesmal — es kommt an auf meine Disposition — noch schöner als die pornographique partie du bible. Fürwahr. Es muß ein guter Mann sein, der solches verschenkt. Es gibt Männer, die Süße spenden. Par exemple exquis vin doux aus Maury. Wie? Ich verstehe nicht. Dein Vater hat dir den Petrarca geschenkt? Enorm. Finde ich großartig. Non, mon trésor. Sein Gendre — wie heißt das deutsch? Ich muß nachdenken. Es fällt mir nicht ein. Mein Französisch ist, trotz ständiger und andauernder Reisen in dieses Land, miserabel. Die Mutter hat mit ihren Einpeitschungsversuchen dem Kind eine Mauer vor die eigene Sprache gebaut. Mühsam und seit ewigen Zeiten versucht das mittlerweile Jahrzehnte ältere Kind darin eine Lücke zu finden, um hineinschlüpfen zu können in diese Sprache, die es für die schönste überhaupt hält. Die sich ihm aber nach wie vor hartnäckig verweigert. Gendre? — Ich greife in das Regal, das sich unter der Decke um den gesamten Flur zieht. Es ist zu weiten Teilen den Sprachen reserviert. Auf den sechs, vielleicht acht Bänden Wörterbüchern liegt ein kleiner Robert, den ich am liebsten benutze, wenn es schnell etwas nachzuschauen gilt, denn er ist sehr ergiebig. Doch ich komme nicht hinauf, ich muß den Steighocker holen. Ich will ins Zimmer nach nebenan gehen. Sie hält mich zurück. Wohin willst du? Hier, es gibt etwas zu essen. Ich habe dir doch gesagt, daß ich keinen Hunger habe. Dann sitze mit mir. Ich mag nicht alleine hier sein. Oh, Naziza. Ich will nachschauen, was Gendre heißt. Ah! Assez de paroles! Es ist der Sohn von einem Vater. Beau-fils. Der Sohn eines Vaters ist der Sohn — ah, ich verstehe. Du meinst Schwiegersohn! Oui. Sitz, essen, trinken. Schwiegersohn. Nun kehren mit einem Schlag alle langsam entwichenen Bedenken zurück. Jetzt fängt sie schon wieder damit an, obwohl sie eigentlich versprochen hatte, es zu unterlassen. Und sie macht dabei ein völlig unbeteiligtes Gesicht. Sie hat es offensichtlich nicht aufgegeben, mir auf die Nerven gehen zu wollen. Es war so angenehm ohne dieses leidige Spielchen. Und nun geht es von vorne los. Naziza. Du hattest mir versprochen ... Ich habe nichts versprochen. Ich habe nur ein wenig geschwiegen. Nie würde ich etwas versprechen, das ich nicht kann halten. Es gibt etwas, von dem ich sprechen muß. Und das ist das. Nicht nur über den Schwiegersohn eines Vaters, der du bist. Ich muß über dieses lustige Deutsch dann doch lachen, das sie immer dann spricht, wenn Erregung in ihr aufkommt. Glücklich schätzte ich mich allerdings, ich spräche auch nur annähernd ein solches Französisch. Naziza, ich ... Fermez-la! Ich rede. Sie wird schier unglaublich bestimmt. Ihr zartes, langgestreckt ovales Gesicht drückt wilde Entschlossenheit aus, ja Härte. — Ich nehme mir nun doch — Betretenheit? — ein paar Nudeln aus der Schüssel, die ich mit etwas Sauce beträufele, stochere aber nur darin herum. Es ist gut. Esse. Bien. Du willst mich gerne haben. Sagst du. Ich bin hier. Du könntest mich haben. Ich bin willig. Jedoch du mußt mich nicht haben wollen. Du hast mich! So ist das. Oder was glaubst du, warum ich hier bin? Um mit einem mir ganz wilde fremde Mann in einer noch schlimmeren Stadt ... Was soll das jetzt? Ich habe nie behauptet ... La ferme! Tais-toi! Es mutet mich seltsam an, wie ich kusche. Sie schaut mir fest in die Augen, wie in die eines Kindes, das bei einem üblen Streich ertappt wurde. Ich fühle mich auch so. Das Kind weiß zwar nicht, was es ausgefressen hat. Aber da es immer irgendetwas ausgefressen hat, schweigt es vorsichtshalber erstmal. Du hast mich verlassen. Und ich bin eigentlich weit gefahren, um aus Wut zu wissen, warum ein Mann von mir geht, der mich begehrt hat, wie nie ein Mann das zuvor je hat gekonnt. Und den ich geliebt habe wie nie eine Mann zuvor. Nicht einmal meinen Papa. Und jetzt bin ich nicht mehr hier, um das zu wissen. Jetzt bin ich hier, um wieder mit ihm zu sein. Denn ich sehe, daß er mich liebt wie damals in unsere kleine Paradis. Er sitzt neben mir, aber er ist nicht bei sich. Er ist ein wenig gestört vielleicht. Es ist etwas. Ich weiß nicht, was es ist. Jedoch ich weiß, daß er nicht spielt, denn er ist nie eine grand Comédien gewesen. Und nun will ich wissen, was es war, was es ist. Und vielleicht es ist besser, ich packe diese Mann in mein Tasche und nehme ihn ... Und verfüttere ihn an die Krabben im Vieux Port de Marseille? Ich wundere mich über meine Gelassenheit. Oui. Ich nehme ihn mit an den Alten Hafen von Marseille und zeige ihm, wo er mich das erste Mal hat beleidigt, weil ich wollte, daß er mich nimmt, in seinen Arm, und mich küßt und mich säugt, jedoch gesagt hat, bonsoir Madame, ich freue mich, morgen Sie zu sehen. Notre-Dame ist Zeuge! Sie hat gegenüber gestanden. Wir an die Treppe zur place du Lenche. Didier Risacher. Das war vor baldige vier Jahre. Ganz Marseille ist vor unsere Liebe paradiert, la armée, la police, les pompiers haben gezeigt mit ihre Finger an die Stirne. Le quatorze juillet 1998. Sie spuckt mir ein paar Krümel italienischer Europa-Nudeln ins Gesicht. Sie merkt es, aber es ist der ansonsten überaus höflichen und gesitteten schönen Frau offensichtlich völlig schnurz. Ich wische mir ostentativ die aus diesem offenbar wutschnaubenden Mund kommenden Partikel vom Nasenrand. Doch es zeigt keinerlei Wirkung. Contenance. Madame, sage ich, so gelassen wie möglich. Merdemerdemerde. Contenance. Je n'en ai rien à foutre ... Je faire ... Die Furie springt auf und zischt ins große Zimmer, an den Ort unserer ersten Kämpfe. Es ist mir unklar, weshalb ich immer ruhiger werde. Normalerweise bin ich derjenige, der mehr als leicht schnell erregbar ist und sofort oben ist. Empfinde ich das gar als angenehm, wenn sich über mich jemand so aufregt? Das kann nicht sein. Wenn, dann muß es an dieser Frau liegen. Sie muß der Grund dafür sein, daß ich mir das, ohne mit der Wimper zu zucken, bieten lasse. Und mich auch noch seltsam wohl dabei fühle. Sie kehrt fliegend zurück, baut sich vor mir auf und schüttelt etwas in der rechten Hand. Es ist unschwer als französischer Reisepaß zu erkennen. Was ist das!? Monsieur Risacher. Es sieht aus wie ein Ein- und Ausreisepapier der Grande Nation République Française. Sie macht nun ein fast abfälliges, geringschätzendes Gesicht. Sie sieht beinahe vulgär aus. Das gefällt mir nicht. Ich nehme mit betonter Lässigkeit das Weinglas und einen nachgerade überdosierten Schluck. Ich hatte ja sowieso vor, mich ein bißchen zu betrinken. Vielleicht hatte ich jetzt Grund dazu, denn das zarte Pflänzchen Hoffnung auf Liebe, das in mir zu keimen begonnen hatte, scheint sich bereits wieder in sich zurückzuziehen. Adieu le paradis sur terre. Das war's denn wohl. Nun denn, wenn sie sich jetzt so aufführte, würde es mir nicht allzuschwer fallen, sie rauszuschmeißen. Aber traurig machte es mich doch. Ich nehme schnell noch einen gewaltigen Schluck, trinke das Glas leer, stehe auf, um es in der Küche nachzufüllen. Als ich zurückkomme, steht sie immer noch da. Wie Notre-Dame de la Garde. Doch die Härte verschwindet aus dem Gesicht, es erhält zunehmend seine fragile Zartheit zurück, die Augen öffnen sich weit, sie werden sehr groß, noch größer, da die Augenbrauen sich weit zur Stirn hin aufheben. Sie intensivieren sich fragend. Hartnäckig hält sie den Reisepaß in der Hand. Was steht hier darinnen. Monsieur Risacher?! Es irritiert mich jetzt doch sehr, daß sie mich nicht mehr duzt, nein, schlimmer, mich offensichtlich bewußt unpersönlich anspricht. Gleichwohl sie nicht mehr so schäumt wie noch vor vor wenigen Augenblicken. Ich nehme an, Ihr Name, Madame, Ihr Geburtsdatum ... Oui. Monsieur Risacher. Mein Geburtsdatum, meine Name. Und wie ist meine Name? Ich weiß es nicht. Naziza. Mehr weiß ich nicht. Sie waren nicht höflich genug, sich mir mit Ihrem kompletten Namen vorzustellen. Es kommt mir gerade — das hätte ich nicht von Ihnen gedacht. Sie schlägt den Paß auf, biegt in um, auf daß er eine einigermaßen plane Fläche bekomme. Sie kommt auf mich zu. Sie drückt mich sanft auf den Stuhl. Sie beugt sich zu mir hinunter. Ihr Gesicht rückt extrem nahe an meines. Sie riecht gut. Nicht wie Parfum. Wie ein Mensch. Nein, wie eine Frau. Mit Innenleben. Ich lasse es mit mir geschehen. Sie legt den Paß auf den Tisch. Schaue hinein, Monsieur Didier Risacher. Hier steht geschrieben, wie ich heiße. Ich will mich erheben. Non. Arrêt des émissions. Sitz. Ich hole deine Brille. Aber du wirst sie nicht benützen müssen. Er steht groß genug dort, der Name. Und du kennst ihn sehr gut. Du hast ihn sehr oft gesagt in deinem Leben. Einmal mit eine sehr kräftige Stimme. Dans le mairie de Marseille. Sie geht dennoch flugs ins Zimmer an den Tisch, neben dem ihre schöne Handtasche steht, aus dem sie ihren Paß geholt hat. Sie kommt mit meiner Lesebrille zurück, schaut sie kurz an, nickt, sagt kurz: Ah, bleu, comme Maman Risacher. Sie reicht mir die Brille und lächelt dabei. Mir ist nicht ganz geheuer. Ich spüre, daß Unheil im Anzug ist. Sie ist mir zu selbstsicher. Ich schaue in den Paß. Ich lese Al Arfaoui. Na ja, war irgendwie klar: Araberin. Schöner Name. Paßt gut zu ihr. Klingt irgendwie so, wie sie aussieht. Wie eine schöne orientalische giftige Narzisse. Naziza Al Arfaoui. Nein, halt — née Al Arfaoui. Lieu de naissance: Arles. Jour de naissance: Septembre 16, 1960. Ich schaue weiter. Ich lese. Ich stocke. Ich fühle mich seltsam. Ich hätte mein Medikament doch nehmen sollen. In meinem Kopf melden sich Anzeichen eines sirrenden Kreisens. Wie damals, zu den ersten Anflügen eines Gefühls, das ich damals noch nicht kannte und das ich später als elysisch bezeichnen und das ich des öfteren herbeisehnen sollte. Ich weiß nicht, ob es das wieder ist. Ich wünsche es mir. Ich möchte wieder verschwinden wie damals. Denn es steht Unfaßbares in diesem Paß. Es steht geschrieben: Naziza Latifa Marietta Taline Risacher, née Al Arfaoui. Ich verliere mich. Ich spüre gerade noch, wie ich vom Stuhl rutsche. Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
Linien Was hat die seit den Achtzigern in Paris lebende Freundin aus Israel — selber eine wunderbare, köstliche Chaotin von genetischen Gnaden, die freundlicherweise nicht ans Lenkrad darf — mal wieder geschimpft auf «diese Franzosen». Die können alle nicht Autofahren! Schau mal, wie die da stehen. Alle kreuz und quer! Es geht nicht voran! Richtig. Alles steht kreuz und quer. Im 1. Arrondissement von Paris ebenso wie in dem von Marseille. Und es geht, meiner Meinung nach, dennoch wunderbar voran. Keiner regt sich auf. Es wird auch weitaus weniger gehupt, als das rechtsrheinisch kolportiert wird. Manch einer weiß es vielleicht nicht: Das ist alleine das Privilig der Italiener. Und da die Deutschen die italienische Lebensart bevorzugen, machen sie's gerne nach. Irgendwie bewegt es sich dann doch. Mit oder ohne Linien. Die man in Deutschland immer benötigt. Und dennoch nicht vorankommt. Wenn man den Deutschen keine Linien auf die Straße malt, machen sie ganz schnell aus drei zur Verfügung stehenden Spuren eine. Franzosen halten sich grundsätzlich nicht daran. Alle Linien sind runter-, abgefahren, da sie als Maßregelung gelten. In Deutschland gibt es überall, aber wirklich überall Fahrbahnmarkierungen. Wo auch immer du hinschaust. Alles ist zugemalt mit diesen weißen Strichen. Es gibt keinen Winkel mehr, in den nicht ein Fahrbahnmarkierungskommando geschickt würde. Wenn keine vorhanden sind, bei einer neuen Asphaltierung beispielsweise, darf man nur noch Schrittempo fahren. Vermutlich weil sie sich sonst verfahren. Neue Fahrbahndecke — Dauerstau. Weil sie keine Hilfslinien haben. Deshalb kracht’s auch dauernd. Das Überfahren einer durchzogenen Linie ist verboten und wird nicht unter bestraft. Und wenn du Dein Auto nicht innerhalb einer solchen Markierung parkst, also das Heck ein bißchen über eine dieser Linien hinausreicht, kleben sie dir ein Knöllchen an die Windschutzscheibe wegen Übertretung der Parkzone. Mehr als einmal ist mir das passiert. Hier in Paris klemmen sie einem auch ständig Zettelchen hinter den Scheibenwischer, doch sie benötigen dazu keine Markierungen. Denn es gibt schlicht keine Parkplätze. Zumindest keine freien. Dafür braucht es also keine Linien. Also, wie auch immer — ich empfinde es ohne diese zugestrichelten Straßen als angenehmer. Es lebe die unlinierte Zone. Ob der Verkehr nun steht oder rollt. Und wenn er dann wieder läuft, macht es mir Spaß, an der Place d’Italie herumzuzischen, und daß es meistens bei Handzeichen bleibt, wenn's mal ein bißchen schabt am Kotflügel. Wie meinte bereits 1926 unser Freund über sein geliebtes Paris, von dem aus er seit zwei Jahren nach Berlin korrespondierend telegraphierte: «Hier fahren die Autos glatt und schnell. Und geraten sie wirklich mal aneinander mit leichtem Buff, dann sagt keiner: ‹Dir hol ick jleich runter vom Bock, du oller Mistkutschenfahrer, pass mal uff ...!›»* * Kurt Tucholsky: Pariser Dankgebet, Gesammelte Werke Bd. 4, p 446
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