Geisteswissenschaft

Lernen für Klausur. Dafür hätte ich wieder zwanzig Seiten oder vierzig Minuten gebraucht.

Ete kritzelt
 
Fr, 06.02.2009 |  link | (590) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen



 

Doppelter Lorbeer

«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»

Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001


«Das Wort besitzt die unschätzbare Gabe, die Faszination des Möglichen hervorzurufen und aufrecht zu erhalten», so Francis Vanoye in seinem Buch L’image et la parole, im Kapitel über Eric Rohmer.

In Filmen, in denen Liebe Bestandteil der Handlung ist — und wo wäre das nicht der Fall, irgendwie?! —, bei denen und für die ich ins Schwärmen gerate, findet, wie in jedem wirklich guten (Dreh-)Buch, Sexualität in der Phantasie, nicht auf der Leinwand oder auch dem Bildschirm statt. Es bedarf ihrer Schilderung nicht. Ich benötige keinen Hinweis auf einen Vortrag über die Beschaffenheit dieser feinsten, dünnwandigen Blutgefäße, in denen der Stoff- und Gasaustausch mit den Körperzellen erfolgt, die Bindeglied sind zwischen Arterien und Venen, ich will keine Lichtbilder vom Danach, wie es sich frühmorgens aus dem Bett quält — mir ist bekannt, welch' poetische Schlacht zwei Neiglein eines zehn Jahre alten Champagners über die Krieger Kapillaren in den Teilen jener Körper hat toben lassen, die sich bereits für die Praxis im Arbeitstag präpariert hatten.

Der mehr gehauchte denn ausgeführte Kuß reicht mir — und damit meine ich ohnehin nicht die meist schmatzende, gewalttätig, nachgerade kannibalistisch wirkende und sich wohl bald auch im Nachmittagsprogramm weiter unten fortsetzende Penetration. Ich weiß, wie er aussieht, wie er ihm ins Gesicht geschrieben steht, der kleine Tod des Mannes (nach dem das Leben der Frau gerne noch ein bißchen weiterginge; aber ach ...). Er ist mir auch assoziativ Finale genug. Denn ihm voraus gingen Bewegungen, Blicke, Berührungen, Wörter und Worte, ausgeführt und gesprochen von Schauspielern, denen ein schlüssiges Drehbuch und eine einfühlsame Regie sanfte Herausforderung ihres Darstellungsvermögens sind. Dieses Drehbuch ist vorbereitet wie die Menschen, die eine gute (durchaus schlichte) Handlung zum Höhepunkt treiben: Es ist immer wieder überarbeitet, oft von mehreren Autoren, die im Leben stehen und nicht hinterm Schreibtisch sitzen und auf Quoten schielen, auf seine Authentizität (so heißt das ja heute), seine Schlüssigkeit, seine Tragfähigkeit hin geprüft. Die Regie hat gemeinsam mit dem Besetzungsbüro die Darsteller ausgesucht. Sie haben mit ihnen Gespräche geführt, aus denen klar ersichtlich wurde, daß hier zwei die Rollen derjenigen spielen müssen und das auch tun, die unterschiedliche Charaktere bedeuten, beispielsweise in solchen Szenen:

Da der Literaturwissenschaftler, der während er die Crème löffelt und mit einem 89er Grand Cru aus Saint-Emilion hinunterspült, seiner Tischnachbarin bedeutet: «Wer das Gefühl reiner herausfiltern will, dem geht die Vorrenaissance einer in hundert Anspielungen lebendigen Antike verloren»* und überdies vergißt, welche Schande und wieviel Blut in diesen Liedern fließt. Und dort seine neben ihm sitzende, aufmerksame, sich auf ihn konzentrierende Zuhörerin, der er zum Kaffee in die Bibliothek gefolgt ist und die ihm dann das Gefühl rein herausfiltert, die ihm, quasi mit den Augen vorlesend, verdeutlicht, daß sie auch trotz solcher oder gerade mit solchen, dem Petrarca-Band entnommenen Worten sich ein paar Kinominuten später an seinen Körper schmiegen wird:

«Dich ihr, mit klugen Schilden (hinter denen
Euch weder Qual noch Mitgefühl entfärben)
gen Amors stets umsonst gespannten Bogen ...»


Und wieder ein paar Kinominuten später wird er vielleicht mit allem, das ein guter Film und sein Talent an Glück ihm ins Gesicht malen konnte, daliegen wie jener bäuerlich gewordene Max in Alain Tanners nach wie vor zauberhaftem und immer wieder gerngesehenen Film Jonas qui aura vingt-cinq ans en l'an 2000 (Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird), sozusagen zwei Lauras — die er sich zum Geburtstag gewünscht und die er bekommen hat — in einer neben sich, eine blonde und eine brünette, und wird die Kennerschaft wegwischen wie den Arbeitsschweiß der letzten Stunden (aber dabei bedacht sein, den Duft an sich haften zu lassen!**), die auf der Leinwand lediglich einen Umschnitt gedauert haben wird, er wird sich um nichts, aber auch gar nichts mehr scheren und den Krieg verherrlichen: «Ihr seht, wie tausend Tode ...» — er extemporiert noch, denn es ist (letztendlich) ein französischer Film, in dem nunmal immerfort gequasselt und abgewichen wird, fügt kleine ein, also:

«Ihr seht, tausend kleine Tode mich verderben:
doch nie hat Euer schönes Auge Tränen,
nein Zorn mir und Verachtung zugezogen.»


Worauf sie aus dem Bett hüpft, ihren schönen Körper kurz zeigt und, als italienische Einwanderin aus Bologna, lächelnd ‹singt›:

«Vivrommi un tempo omai, ch'al viver mio
tanta virtute à sol un vostro sguardo;
et poi morrô; s'io non credo al desio»


(Noch leb ich nun ein Weilchen — solche Freude/vermag ein Blick von Euch mir zu erregen;/und sterbe, wenn ich von der Sehnsucht scheide.)

Womit Buch, Regie und Schauspieler beweisen, wie man erotische Spannung sowie sexuelle Unangestrengtheit hält — und auch noch intelligent-witzige historische Volten reitet, ohne den Zuschauer zu düpieren, der von der Konkurrenz der Städte Bologna und Avignon im 14. Jahrhundert nichts weiß, die Anspielung auf den zweifachen Lorbeer des Wissenschaftlers in der Person der ‹doppelten› Laura aber ahnen kann; er hat ja, ohne jede Herablassung, jene erotische Poesie, die er als Phantasie mit nach Hause oder ins Bett nimmt — und die ihn, im nicht minder schönen Fall, möglicherweise auf einen sexuell-ekstatischen Zenit schießt.


* Petrarca, Franceso: Canzoniere, zweisprachige Gesamtausgabe (Interlinearübersetzung von Geraldine Gabor; ins Deutsche gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer), Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1989, hier: Nachwort von Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer, S. 1056; daraus auch die Verse; siehe auch: Unterschiedliche Ansichten

** Napoleon schrieb in einem Brief an Josephine, sie möge sich nicht waschen, er komme (in zwei Wochen) heim.

 
Do, 05.02.2009 |  link | (4946) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kamerafahrten



 

Grenzgedanken

Vom südpfälzischen Wörth weg führt eine kleine Straße, ein Schleichweg, wenn auch ein recht flott befahrener, nahezu ausnahmlos von Einheimischen auf dem Weg zur oder von der Arbeit und auch zum Einkauf. Er endet in Lauterburg. Ein paar Meter weiter heißt es Lauterbourg, das Kaff, weil es mit einem Mal französisch ist. Getrennt von der Grenze. An dieser stehen wir. Frankreich hat mal wieder zuviel Personal. Sie kontrollieren. Oft kommt es nicht vor hier. Meist sind es deutsche Uniformierte, die lächelnd-gelassen und extrem unauffällig in ihren Fahrzeugen an dem ehemaligen Grenz- und heutigen Blumenhäuschen sitzen und dann hinausspringen, wenn sie meinen, im Rückspiegel einen Illegalen aus Afrika erkannt zu haben.

Anderswo kommen Kontrollen öfter vor, etwa an der spanischen Grenze, von Perpignan aus an der Küste entlang, wenn ich mal wieder Walter Benjamin in Port Bou oder auch Portbou meine Aufwartung machen möchte, wohl, weil Afrika nur noch tausend Kilometer entfernt und damit bedrohlich nahe liegt und man den verbrüderten und längst auch verschwesterten deutschen Kollegen da oben im Norden die Arbeit erleichtern möchte. Oder sie mit Langeweile martern will (weiß man's)? Hier hat man mich das letzte Mal vor etwa achtzehn, neunzehn Jahren angehalten. Das war allerdings noch mit der höheren Klasse der Automobilisierung, als die Voiture wegen der extrem hohen französischen Luxussteuer noch etwa eine gute Million Francs kostete. Ein Bekannter hatte mir das später mal vorgerechnet, weil ich doch sehr erstaunt war darüber, ständig angehalten und kontrolliert zu werden. Er meinte, solche Autos führen eben außerhalb von Paris nur Waffenschieber oder Drogendealer. Man konnte damals noch durch das kleine stadttorähnliche Haus in den Ort hineinfahren. Oder kam zwangsläufig durch, wie man eben irgendwo herauskommt auf der immerwährenden Suche nach Pfaden abseits des Breitgetretenen. Heute ist es abgeschirmt. Seit wann, weiß ich nicht. Ich bin dann immer über den regulären Übergang gefahren, neben dem das Zollhäuschen stand, in dem sich heute ein Blumenladen befindet. Blumiges Schengen-Europa. Ich erinnere mich gut und angenehm daran — der ältere Uniformierte machte damals diese lässige, sehr knapp gehaltene typische Handbewegung französischer Zöllner oder auch Polizisten, die in der Regel einen sofortigen Halt zur Folge hat. Wenn man Franzose ist. Deutsche mögen so etwas überhaupt nicht. Sie müssen immer ganz locker zeigen, wie wenig Obrigkeit ihnen bedeutet. Ich weiß nicht, weshalb mir ausgerechnet jetzt Alain Finkielkraut dazu einfällt, der meinte, die Deutschen seien höchst problematisch, nicht weil sie Auschwitz verdrängten, sondern weil sie permanent daran dächten. Hannah Arendt hat er dann noch zitiert, die gesagt habe: Auschwitz sei nicht der Gipfel, sondern die Zerstörung der deutschen Tradition.*

Wegen dieses in mittlerweile nicht mehr ganz so jungen Historie wurzelnden Selbstwertgefühls achteten west- und dann auch gesamtdeutsche Regierungen lange Zeit peinlichst genau darauf, daß bundesrepublikanische Uniformträger aussehen wie etwas salopp gekleidete Nachwächter. Das hat sich geändert. Seit deutsche Soldaten friedensmissionarisch wieder marschieren, sehen sie, vor allem aber Polizisten anders aus. Nicht schmissig deutsch wie einst, als sie die Heimatfront in Ordnung hielten, aber doch recht schneidig. Man hat sich angepaßt an die deutsch-amerikanische Freundschaft, ist quasi in der Freunde Haut geschlüpft. In den Anfängen der neueren Maskerade war ich einst am Jungfernstieg nicht sicher, doch in New York oder in einem dieser vielen schlechten US-amerikanischen Filme gelandet zu sein. Jetzt schauen sie endlich wieder wie Gesetzeshüter aus, die Freunde und Helfer. Nun weiß man wieder, woran man ist. Aber irgendwie waren mir die Nachtwächter angenehmer. Nun denn, der immer geschniegelten französischen Uniform hatte die jüngere Geschichte ja auch nicht eine solche Fehlfalte ins Hemd gebügelt.

Allerdings führt die zivil gekleidete deutsche Bevölkerung, gerne die in ihrer gen Spanien bewegten mobilen Ferienwohnung, sich immer wieder mal so auf, als ob sie die Schnauze eines Kriegsfeldwebels auf Heimaturlaub aus Polen sei. Häufig werde ich dabei an Tucholsky erinnert, der wie immer treffsicher notierte: «Der französische Soldat ist ein verkleideter Zivilist, der deutsche Zivilist ein verkleideter Soldat.»** Zu Zeiten des real existierenden Sozialismus hat das viele Westdeutsche viel Zeit gekostet. Manchmal auch viel Geld. Strafzeiten und -gebühren für zu weit aufgerissene Klappen in der DDR. Die Berliner kannten das. Deshalb hielten sie sich an die Zeichensprache der Grenzer. Wie der Franzose. Der hält an, er kann's ohnehin nicht ändern, also hebt er sich seine Energie für den nächsten Streik auf. Er wird — in der Regel — freundlich begutachtet. Mit einem kurzen Blick ins Gesicht und in den Fond wird festgestellt, daß es sich um keinen Wirtschaftsimmigranten oder Fluchthelfer handelt. Und dann macht diese Hand die nicht minder typische leichte Vorwärtsbewegung. Und man reist unbehelligt mit sanfter Anfahrt ein. Der zivile Feldwebel wartet eben noch ein Weilchen.

Es kommt die knappe Handbewegung. Man hält an. Mein Anhalter wendet sich ab. Der Kollege auf der anderen Seite übernimmt. Aha. Es sitzt eine für das deutsche Kennzeichen doch wohl etwas zu fremdartig aussehende Person auf der Beifahrerseite. Diese Person klappt mit einem freundlichen, aber deutlichen Attention-Pardon das Entenfenster nach oben. Sie wird um die Pässe gebeten. Sie zeigt den ihren. Der Douanier blättert in ihm herum. Er schaut die Ausweisinhaberin an, spricht sie an, dabei auf mich deutend. Et Monsieur? Passeport? Pardon. Coffre. Entschuldigung, Kofferraum. Soll ich? Ob ich der Halter des Vehikels sei. Oui. Auf der anderen Seite schauen die Deutschunifomierten grimmig aus ihrem Wachgefährt. Der Ente wegen, die nach wie vor mit Drogen zu assoziieren ist? Auch wenn sie, zumindest in Deutschland, längst als zweitwagiges Wochendmobil für individualistische Sparkassenfilialleiter dient? Tarnfahrzeug eines Steuer-flüchtigen? Nach Frankreich? Weshalb sie also so greinend dreinschauen, ist mir nicht klar. Ich antworte mit einem Lächeln und fahre französisch gelassen an. Aber erst, nachdem die sanfte Handbewegung und das merci, bonne route dazu aufgefordert hat.


*Alain Finkielkraut: Nachhilfeunterricht in Post-Romantik, Interview von Werner Bloch, Süddeutsche Zeitung Nr. 37 v. 14. Februar 2001, Feuilleton, p 19
** Kurt Tucholsky: Schnipsel, zitiert nach: Reclams Zitatenlexikon, Stuttgart 2002 (5. Aufl.), p 127

Die Photographie des niedlichen Grenzübergangs von Cerbère nach Portbou oder andersrum, wo man selten spanische, dafür des öfteren französische Kontrolleure antrifft, stammt von basheem
.
 
Mi, 04.02.2009 |  link | (3041) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches



 







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