Alles fließt ... Brief in die Ferne Auffallend sei doch, schreibst Du noch in Deinem langen traurigen Brief zu Boubou, die nun unter ihrer Erde weitertanzt und -singt, daß ich Männern insgesamt kaum Beachtung schenke. Ich mußte darüber eine Weile nachdenken, denn es hat mich irritiert, habe ich doch immer wieder mit ihnen zu tun, wenn auch in erster Linie beruflich. So etwas wie Männerfreundschaft ist mir jedoch tatsächlich weitgehend unbekannt. Es mag daran gelegen haben, daß mein nomadisches Kinderleben es dazu nicht kommen ließ. Möglicherweise habe ich mich deshalb auch danach gesehnt und sie zu praktizieren versucht, vielleicht wie andere Zuflucht in einer Kirche suchen, da man ihnen Religion verboten hat. Zumindest eine Zeitlang. Bis ich eben feststellte, daß damit mindestens genau soviel Enttäuschung verbunden ist wie die Trennung von euch, und sei sie vorübergehend. Alleine ihr vermögt mich in ein Austernschaumbad zu ziehen. Du hast also völlig recht. Sie geh'n mir am cul vorbei, die Männer. À propos: Ich mag Männerärsche einfach nicht. Ich mag überhaupt keine Männerkörper. Vielleicht, weil sie uns, wo auch immer, quälend vorexeziert wurden (und werden). Ihr habt schöne Körper! Alles fließt bei euch. Von oben bis unten, von unten nach oben und wieder seitlich herum umschlingt euch mein Wohlgefallen, umfaßt ihr mein Herz, das euch immerfort nur anschauen möchte. Deshalb mag ich wohl auch Tanz. Aber ohne Männer. Wobei die ja meistens ansehnlich sind. Nein. Unsinn. Es gibt auch sehr schöne Männer. Bei Pina Bausch habe ich früher, heute komme ich da ja seltener hin, sogar manchmal welche gesehen, die sich so bewegen, ohne daß ich gleich an Reck oder Barren oder Bodenturnen oder diese neue deutsche Volksbewegung dieses gerne verwandten Mißverständnisses (vergleichbar vielleicht mit diesem) vom gesunden Geist im gesunden Körper denken muß, der dazu Apparaturen benötigt; «Muckibude» nennt sie der kreative Intellektuelle aus Wirtschaft und Finanzen. Aber die sind dann auch nicht diejenigen, die annähernd aussehen wie ihr. Es sind die anderen, die Männer von Frau Bausch. Und das heißt wahrhaftig nicht, daß sie, wie das Volk meint, zwingend schwul sein müssen. Aber selbst wenn sie's waren, diejenigen, die ich kennengelernt habe, waren sie mir immer angenehmer als diese alleine von ihrem fortschrittlichen Denken gestählten männlichen Männer. Aber ihr: Tänzerinnen! Keine Ecken und Kanten. Es sei denn, ihr betreibt Body Building. Dann kommt ihr in meine persönliche Müllschredderei. Wie auch immer — ich liebe euch. Aber meine schönste Tänzerin bist immer noch Du. Du bist meine Primaballerina. Ohne Bühne. Doch! Das bist Du. Ich höre Dich schon wieder protestieren. Keine Tänzerin seist Du. Doch, so etwas ähnliches bist Du durchaus. Ich denke bei Dir immer nur an das Fließen, die Loire ließe sich assoziieren, sie tänzelt auch so dahin, so unspektakulär, wie ein Kind beinahe tanzt sie über die Steine. Doch, Du hast etwas von einer Tänzerin. Allerdings nicht von einer professionellen. Du hast nicht diesen Hochleistungskörper. Du bestehst eben nicht nur aus Muskeln und Sehnen. Bei Dir darf ich noch begreifen. Und Du stakst auch nicht so, so — ohne Musik. Viele können sich nur beim Tanz schön bewegen. Sobald sie aufhören zu tanzen, bewegen sie sich unnatürlich. Man sieht es ihnen sofort an, bereits an ihren geradezu einheitlichen Fußstellungen. Das hat etwas Uniformes, wie bei Mannequins, wie die Models früher mal viel schöner nicht nur in Frankreich hießen. Wahrscheinlich ist es Manierismus, gelebter Stil, jener, der mich oft von ihnen fernhält, weil sie diesen Harnisch tragen, der Uneigenes und Eigenes gleichermaßen verbirgt, ein persönliches Gespräch nicht zuläßt. Aber Du bist von oben bis unten und fünfmal rum und wieder zurück Natur. Natürlichkeit. Ich hab‘s Dir schon oft gesagt — Dein Rhythmus wird von der Harmonie bestimmt. Du bist mein Orchester ohne Schlagwerk. Du machst nie Krach. Ich könnte Dich immer anschauen. Ob Du sitzt, liegst, schläfst oder gehst. Dabei muß ich betonen, daß Du in der Bewegung ausnahmsweise mal keine Marseillaise bist. Du seiest aber eben doch eine Marseillaise, darauf hast Du mehrfach beharrlich hingewiesen. Ich meine jedoch Deine Bewegungsabläufe. Dein Gang, der ist anders als der einer Marseillaise. Die schlurfen oder schleichen immer so, zumindest nach Feierabend. Die meisten jedenfalls. Dir aber tut auch ein harter Arbeitstag nichts an. Du schreitest, ohne Attitude. Aber Du bist eben ein Bastard, ein armenisch-persisch-nordafrikanisches Durcheinander. Manchmal meine ich auch, Deine jeminitische Wurzel zu erkennen. Auf jeden Fall komme ich bei Dir immer auf Tanz. Du gehst wie eine Tänzerin. Nur eben nicht so artfiziell. Natürlicher. Eben nicht antrainiert. Ich weiß ja auch nicht, woran es liegt. Und Du wirst mit Sicherheit auch in fünfzig Jahren noch so aussehen. Du bist zeitlos schön. Aber nun bist Du so weit weg, Schöne unter Schönen. Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
Boubou Brief aus Martinique Ich muß Dir erzählen, mein Lieber. Sprechen kann ich das nicht, ich muß es schreiben. Von Deiner, von unserer Freundin. Ich muß es Dir erzählen, weil Du es bestimmt längst vergessen hast, weil wir so lange nicht dort waren, ich soweit weg von zuhause, anderen zu Diensten, heimatlos — in der Heimat von Boubou. Zunächst waret ihr gar keine Freunde. Weil sie immer so laut gesungen hat, aus ihrem «Schreikochloch» heraus, wie Du es einmal unübersetzbar genannt hattest, das kleine Bistrot, nein, die winzige, toilettenkleine Küche, aus der heraus sie fast die gesamte place de Lenche heraus bekocht hat, zumindest alle, die cuisine créole wünschten, «nie besonders», wie Du es damals nanntest, «aber immer gut und preiswert», nicht täglich, aber immer, wenn sie gut gelaunt war und den Chef nicht vermißte, wie sie es nannte, weil er nicht so gerne arbeitete, was dann zu hören war. Sehr böse warest Du auf sie, vor allem deshalb, weil sie sehr gerne Ferré gesungen hat. Verbieten wolltest Du ihr das. Angefüllt mit Wut bist Du einmal zu ihr an ihr Fenster gegangen und hast dort hineingebrüllt, sie solle ihren defekten Lautsprecher abstellen. In den diplomatischen Dienst mußte ich eintreten damals, als sie wieder einmal Deinen Gott laut übersungen hatte. Da mußte ich ihr Deine Erinnerungen und Deine Philosophie zur Musik von Léo Ferré übermitteln. Daß Du in das Hôtel kamest in La Rochelle, als Du den Fernseher eingeschaltet hattest — wie Du es immer machst, wenn Du hineinkommst in ein Zimmer —, an der Fête Nationale 1993, und Du entsetzt warst von seinem Tod und Du dann eine ganze Nacht nur alte Sendungen gesehen hast mit Léo Ferré, und daß alle Zeitungskioske überall in Marseille und Paris gefüllt waren von oben bis unten und um alles herum mit Titelseiten von seinem Tod. Wahrscheinlich wirst Du auch dieses Jahr wie immer alles Feuerwerk ignorieren, eine ganze Nacht vor dem Fernsehgerät sitzen, weil es nur ein Feuerwerk gibt für Dich, das da still heißt: avec le temps. Von dieser Zeit an hat sie immer erst aus dem Fenster hinausgesehen, ob Du irgendwo sitzt. Bevor sie ihn gespielt und dann mitgesungen hat. Wenn Du anwesend warst, hat sie sich den Mund vernäht mit Nadeln des Voodoo. Das hat sie mir einmal gesagt. Sie wollte nicht Ärger haben mit Dir. Und mit Ferré. Denn sie würde beide lieben, oui, das hat sie mir gesagt. Und die Götter solle man nicht erzürnen, meinte sie. Ein wenig haben ihre Mundwinkel und ihre Augen dabei gezuckt. Da seid ihr Freunde geworden. Gefreut hast Du Dich, sie zu sehen, wohl, weil nicht zu hören. Applaudiert hast Du Madame Boubou, wenn sie über die place de Lenche hineintanzte zu ihrer kleinen Küche, farbenfroh gekleidet, als ob sie nicht zur Arbeit, sondern zu einer afrikanischen Hochzeit, einer ihres Landes, wie sie gerne betonte, ging, ihren Posterieur rhythmisch schwenkend, von dem Du einmal sagtest, sie habe ein Hinterteil, das nach hinten hinaus dauerhaft mit Drillingen schwanger ginge. Sie fragt oft nach Dir! Vielleicht nicht nach Gott. Ich passe mich Dir an: Ich übertreibe ein wenig. Viel. Jedoch sie liebt Dich. Anders als ich. Deinetwegen hat sie sogar begonnen, ein wenig deutsche Sprache zu lernen, weil in so kleinen Wörtern so große Worte steckten. Tatsächlich war Ferré der Auslöser. Einen langen Vortrag hast Du, nicht selten bei Dir, wenn man Dich einfache Dinge fragt, gehalten über seine Interpretation der Coriolan-Ouverture, weil sie Dich gefragt hatte nach der Bedeutung der deutschen Worte, die Ferré am Dirigentenpult zum Schluß fast lauter noch sänge, als sie das könne. Mit Milan Kundera* hast Du es ihr erklärt. Beethoven war Gläubiger eines Mannes. Dieser schuldete ihm, ich weiß jetzt nicht, wieviel, jedoch einige Gulden. Beethoven forderte sein Geld zurück. Der Mann stöhnte: Muß es sein? Beethoven antwortete: Es muß sein! Daraus komponierte er ein kleines Stück, das später zur Grundlage seines letzten Quartetts wurde. Und Kundera kommentiert es dahin, daß er schreibt, diese Worte hätten immer mehr einen solchen feierlichen Ton angenommen, als hätte das Schicksal persönlich sie ausgesprochen. Von Kundera kamest Du dann auf Kant, das erzählte Boubou mir noch vor ein paar Wochen, sie habe das extra nachgelesen und leicht entrüstet festgestellt, daß es bei Kundera stehe und der es von Kant habe. Ich habe dann moderiert und ihr erklärt, wir hätten letzten Endes doch alles irgendwie von anderen, da käme man schließlich manchmal ein wenig durcheinander. Um die Sprache der Metaphysik ging es in diesem Zusammenhang. In Kants Sprache könne sogar ein einfaches Guten Tag zu einer metaphysischen These werden. Er schreibe, die deutsche Sprache sei die der schweren Wörter. Und Du seiest darauf gekommen, weil Ferré auch darüber lacht und sich lustig macht. Kundera gehe einen Schritt weiter in seiner Auslegung. Er beziehe sich auf Permenides, der für einen Übergang vom Negativen ins Positive garantiert hätte, der Schweres in ein Leichtes umgewandelt hätte. Und Kundera schließe mit der Erkenntnis, daß nach Permenides am Anfang eine große metaphysische Weisheit gestanden hätte, aber am Ende eines vollendeten Werkes ein federleichter Scherz. Ah ! Lieber. Wir haben ein paar Male darüber gesprochen, über diese Ironie darin. Du hast es vergessen. Gut erinnere ich mich, daß es einmal mit Boubou war, die damals diesen Donner hat gegeben. Mit ihrer Stimme. Du wütend geworden warest. Du warst ganz Beethoven. Aber danach hatte Boubou dann ihre Lippen zusammengehalten und Dir Marseille von Ferré aufgelegt. Für Deine Mélancolie, für Deine Ruhe, hat sie gesagt. Du hast dann selbst gelacht. Bei Boubou eben. Oft sie hat ihn gespielt. Und wieder mitgesungen. Laut. Sie hat bei la violence et l'ennui das Maschinengewehr nachgemacht und schrecklich laut les anarchistes gerufen. Da hatte sie ihr Versprechen wieder vergessen. Lange Gespräche wieder. Zu Bergson sind wir gekommen: Wenn die Töne der Musik stärker auf uns wirken als die Natur, dann kommt es daher, daß die Natur es dabei bewenden läßt, Gefühl auszudrücken, doch die Musik sie uns suggeriert ...** Boubou ist damals wieder nachhause zurückgekehrt, nachdem das Bistrot geschlossen worden war. Sie habe Marseille geliebt, erzählte sie mir kürzlich noch. Aber ohne Arbeit gehe es ihr in ihrer Heimat dann doch besser, selbst bei so extrem schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, wie sie seit einiger Zeit hier herrschten. Und ich sei ihr schließlich auch gefolgt. Daß ich nach Martinique gegangen war, weil ich zuhause keine Arbeit mehr hatte, in Martinique aber wohl, das wollte ich hier dann nicht sagen. Denn sie war meine einzige Freundin aus der Heimat. Ja: war. Deshalb schreibe ich das. Gestern haben wir sie in ihrem Dorf bei La Trinité begraben. Bis heute weiß ich nicht, wie alt sie war. Aber jung war sie immer. Voie française Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
Kinderfernsehen? Manchmal produziert die Europäische Union, zumindest eine ihrer bastardischen Frühgeburten, auch positiv Bemerkenswertes. Damit meine ich nicht unbedingt Schlagerwettbewerbe. Mir fällt da eher Zeichentrick ein. Habe ich mich früher bereits köstlich amüsiert bei Noahs Insel, ist es nun seit einiger Zeit Pitt & Kantrop. Meist kommen solche Filme aus Frankreich, auch wenn andere Namen oder Länder (da-)vorstehen. Denn dort befindet sich nunmal die europäische Wurzel dessen, das heutzutage Cartoon oder Animation genannt wird. Es ist die Zeichensprache, die mich darauf hinweist, die ich zu erkennen meine wie eine französische Handschrift. Wohl am typischsten dürfte mein über alles geliebter Titeuf sein, den ich seit den Neunzigern mit le miracle de la vie kenne, nach dem ich auch meinen Sohn nennen würde, würde mir nochmal einer zugeflogen werden von so einem klapprigen Großschnäbler, und den es seit einiger Zeit auch als Fernsehserie gibt (allerdings ist er aus den deutschen Kinderkanälen entschwunden, wahrscheinlich war er zu literarisch, zu philosophisch für das eher pragmatisch denkende deutsche Kind). Vermutlich hat der Erfolg solcher Machenschaften unter anderem damit zu tun, daß Kinderserien dieser Art offensichtlich gar nicht für die Kleinen hergestellt werden, sondern von den Zeichnern und Produzenten für sich selbst und ihren Freundeskreis. In Frankreich gehört solches ohnehin zur Hochkultur. Allerdings kann man es auch so sehen: Die kleinen Kinder haben ihren Spaß auf ihrer Ebene, unter anderem an den teilweise sehr komischen Bildern, und für die großen sind die Texte bestimmt. Zur Zeit lache ich mich jedenfalls regelmäßig kringelig über die satirischen Spiegelbilder der Erwachsenenwelt aus der kindischen Perspektive bei Pitt & Kantrop. Titeuf ist entsprungen: dvdrama avec TF1; © zep (Glénat).
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