Träume verjagen ![]() Der Schlaf ist eine Mutter, der Traum ihr Gebieter. Lars Gustafson (???) Das wärmste Heilpflaster der Erde, der Schlaf, hat sich verschoben, und die Nachtluft der Erinnerung wehet wieder deine nackte Wunde an. Jean Paul Ich bin nur noch müde. So schlafe ich mich eben erstmal ein paar Tage aus. Hoffentlich ohne Träume. Und ohne Dachdecker. Die trampeln mir nämlich mittlerweile auch schon im Traum auf dem Kopf herum. Tag- und Nachtmahr das. Ich will endlich wieder meine Ruhe wie da oben.
Resonanzkörper Gerade bescherte mir france musique mit Gerd Albrecht eine Geschichte. Zu Zeiten war's, als das Leben dem jungen Mann noch übel mitspielen konnte. Aus der noch recht frischen Ehe war er geflohen, einfach so, sich ins Auto setzen, wie zum Zigarettenkauf, und nicht mehr wiederkommen. Bis hin zur Vermißtenanzeige durch die Verlassene. Was er sehr viel später erfuhr. Tagelanges zielloses Herumfahren. Quer durch Nordeuropa. Immer auf der Suche nach Gründen. Für ein verpfuschtes Leben. Endlose Trauer. Oder Selbstmitleid. Damals wußte er noch nicht, daß es so etwas gab. In einer Backfischehe lernt man solches nicht. Das Bedürfnis, sich mitzuteilen, vielleicht eher, etwas über sich zu erfahren. Aber wem gegenüber? Freunde hatte er keine. Deshalb hatte er ja wohl geheiratet. Dann fiel ihm, irgendwo frierend am Skagerak stehend und die Kopulation von Ost- und Nordsee beobachtend, die Dame ein, die ihm mal Blumen geschenkt hatte. Einfach so. Ihm, einem Mann, Blumen. Für solche Ereignisse hatte er keine Vase parat. Mit schlichten Blumen wußte er nichts anzufangen, die kannte das Großstadtkind nicht. Zuhause gab es nur edle exotische Gewächse zur standesgemäßen Dekoration. Sie aber hatte auf einer Wiese einen bunten Strauß gepflückt und ihm diesen mit einem liebevollen Lächeln in die Hand gegeben. An sie erinnerte er sich mit einem Mal. Er fuhr ins winterlich vereinsamte Städtchen und radebrechte, unter Zuhilfenahme von scheinbar dänisch parlierenden Händen und Füßen, die Frage nach einem Telephon zusammen. Es war schwierig. Entweder gab es nur im Sommer Fernruf oder man schätzte seine leicht mitgenommene Anwesenheit nicht. Oder es lag am Sand, den er überall hineintrug in die gewohnt blitzsauberen Stuben. Dann fand er ein kleines Hotel. Da er sich nicht getraute, einfach nur nach einem Telephon zu fragen, mietete er ein Zimmer. Von dort aus rief er in die fast tausend Kilometer entfernte Ferne. Er hatte den Eindruck, mit seinem Anruf nicht unwillkommen zu sein. Fast sah er durch die Leitung dieses Wiesenblumenlächeln, das ihn dann auch noch daran erinnerte, daß sein Geburtstag bevorstünde. Schon damals überraschte es ihn, wenn Menschen sich so etwas merken konnten. Das Gespräch floß so dahin. Es würde sicher sehr teuer werden, war kurz sein Gedanke, der jedoch hinweggewischt wurde von ihrer Frage, ob er sie nicht besuchen wolle. Er setzte sich über die Frage hinweg, woher sie denn wissen könne, worum es ihm ging, und antwortete, durchaus gerne, aber er habe noch einiges zu erledigen und wann es denn recht sei. Komm halt her, kam es weich und warm aus dem Telephon, sie sei immer da, sie müsse sich ja um die kranke Mutter kümmern, und der Vater sei auch nicht mehr der Jüngste mit seinen siebzig. Und Platz genug sei auch im großen Haus. Er erneuerte seinen Hinweis auf zu erledigende Dringlichkeiten, ging an die Rezeption, zahlte Zimmer und Ferngespräch, achtete nicht auf die Kosten, setzte sich ins Auto und fuhr in Richtung Süden. Wieder wurde er mit Blumen empfangen, keine von heimischer Wiese, denn dazu war nicht die Jahreszeit. Er brauche gar nicht groß auszupacken, eröffnete sie ihm nach einem oder zwei Gläsern Weißwein, es mögen auch mehr gewesen sein, denn morgen ginge es direkt weiter in südlicher Richtung. Sie müsse dringend in ihr Haus nach San Valentino alla Muta. Und er würde doch sicherlich gerne mitkommen. Sie legten sich schlafen, und nach einem wohligen Traum fuhren sie los. Die weiteren achthundert Kilometer schreckten ihn nicht. Er war seit frühester Kindheit an Entfernungen gewohnt. Sie kamen den Hohlweg gerade noch hinauf, und das, obwohl er seit frühen Jugendtagen ein geübter Schnee- und Eispilot war. Dann würde man das Auto nicht mehr benötigen, meinte sie erleichtert, denn ab sofort erledige man alles zu Fuß. Zwar würde der Bauer den Weg morgen so gut es gehe freiräumen für die weiteren Besucher, aber insgesamt werde man die nächsten drei Wochen so leben wie die Menschen, die vor dreihundert Jahren dieses Haus aus Holz zwischen die Felsen gesetzt hatten. Die am nächsten Tag Anrückenden schafften es dann doch nicht, mußten ihre Autos unten im Ort stehen lassen und zu Fuß den Hohlweg hinaufgehen. Aber der Bauer lud das Gepäck, die wertvollen Musikinstrumente vorsichtig lagernd und alles kälteschützend abdeckend, auf den Anhänger und zog den mit seinem Traktor hinauf. Er war etwas verstört angesichts der vielen Musikanten, hatte er doch auf das ruhige Vorspiel der Cellistin gehofft. Doch allesamt waren sie angenehme Menschen. So kam er zwar nicht dazu, seinen Lebensschmerz loszuwerden, aber die allgemeine Fröhlichkeit heiterte ihn dann doch irgendwie auf. An einem der nächsten frühen Abende bat seine Gastgeberin ihn, hinunterzugehen zu den beiden Alten vom Wirthaus. Der Wein sei ausgegangen, und ohne ginge ja wohl gar nichts hier, das wäre ja wohl einzusehen, und die anderen seien alle so beschäftigt, da müsse er wohl ... Zwar war er nicht eben begeistert, aber weniger der knapp zwei Kilometer langen und recht kalten Strecke, sondern ihrer Dunkelheit wegen. Er fürchtete sich. Aber dann nahm er allen seinen Mut zusammen sowie die große Weinkanne und stapfte hinunter ins Dorf. Dort stellte man ihm zunächst mal ein Glas Wein hin, es würde etwas dauern. Es dauerte dann doch drei Gläser lang, bis das bucklicht Männlein, der jüngere Bruder der beiden Schankwirte, es geschafft hatte, wieder aus dem Keller hervorzukommen. Der kräftige Südtiroler Rote gab ihm Kraft, das sich hinauf zu den Felsen ziehende Dunkel zu besiegen. Nach etwa der Hälfte des Weges vernahm er für die nächtliche Natur ungewöhnliche Klänge. Er schaute hinauf zu den Lichtern des abgelegenen Bergbauernhauses, von dorther schienen sie zu kommen. Und tatsächlich, als er davorstand, meinte er vor einem riesigen Klangkörper zu stehen, die kleinen Fenster wirkten wie die Schallöffnungen des Korpus einer Violine, eines Cellos oder einer Bratsche. Wie verzückt fühlte er sich, umgeben vom dunkelbläulichen Schnee und dessen Klängen, alle Kälte war gewichen, die Musik wärmte ihn, als ob sie direkt aus dem jahrhundertealten Kamin käme. Dann endete das Spiel, aus einer der Öffnungen des Resonanzkörpers lehnte seine Gastgeberin sich heraus und bat ihn, ins Haus zu kommen. Dort angelangt, erhob sich das kleine Orchester, die erste Geige streckte kurz den Bogen nach oben, gab einen Ton vor, dann sangen sie ihm a capella zum Geburtstag, dirigierten ihn zu einem Stuhl mittendrin und begannen wieder zu musizieren. Er war Musik.
Neu- und altgierig Da's ein Thema für sich zu werden droht, kommt's auf Seite 1. Mit der nach Wissen strebenden Gesellschaft meine ich zunächst einmal das, was ich gerne Klappentext- oder auch Kreuzworträtselwissen nenne. Bei Bouvard und Pécuchet gibt es hübsche Parallelen insofern, als die beiden meinen, dadurch zu höherem Ansehen zu gelangen, zumindest zu gewinnen: «Wissen ist Macht, nichts wissen macht nichts — doch wie macht man sich das erworbene Wissen zunutze? Wenn man weiß, daß man nichts weiß — woher weiß man, was man wissen soll, und wie kommt man an das Wissen heran? Schließlich kann das Gefühl von Unwissenheit enorm nagend sein.» Nimmt man heutige Quiz- oder Wissenssendungen, schaut nach den gefragten Titeln im Buchhandel, scheint das in diese Richtung zu laufen. Es ist noch nicht so lange her, als der Geschäftsführer eines Zeitungsverlages mir gegenüber äußerte, das sei der neue Trend — und verwies auf die Ausschlachtung aller Zeitungsartikel des Hauses, eingepackt von Buchdeckeln, alles so geistig edel wie das führende Blatt des Hauses selbst. Dann überrollte ihn das Internet wie ein mit Makulatur beladener LKW; Papier hat enormes Gewicht. Aber nicht nur davon kann man überrollt werden, wie die Literaturliste zu Dummheit, Irrtümer et cetera belegt, was die beiden Nachfahren der Encyclopédistes ja auch dazu bewegt, die Welt korrigieren zu wollen. Allerdings sind die Korrekturen selbst längst vom US-Großscanner digitalisiert, so daß auch wirklich jeder die Fehler des anderen aus dem Internet ab- und und in den Qualitätsjournalismus hineinschreiben kann. Walter Vitt hat das mal thematisiert, einige Zeit vor dem aufrechteren Gang von Wikipedia, wo allerdings ohnehin nie wirklich niemand abschreibt, und es später in ein Büchlein binden lassen.* Doch zurück zu der nach Wissen strebenden Gesellschaft und den ganzen Rätseleien. Es ist auch kein Wunder angesichts der aktuellen curricularen Systeme, die zumindest im Hochschulbereich genau das beabsichtigen, was man zuvor eigentlich nur von den juristischen Repetitorien kannte: Auswendiglernen; schulisch beispielhaft bekannt als das vielzitierte 333 — Issos Keilerei. Aber weshalb und wieso es zur kriegerischen Auseinandersetzung kam, das Wissen um Zusammenhänge fand in Benotungen kaum Niederschlag (schon gar nicht in Bayern, wo der aus der Fremde hinzugezogene Abiturwillige als erstes einen Malus einidruckt bekam). Und so sieht's heute bei den Universitätsabgängern aus. Nicht nur bei den Bachelors. Da habe ich einiges an jüngsten Erfahrungen. Wobei auch diese Neuheit ein alter Hut zu sein scheint, wie ich hier erfahren mußte, bezugnehmend auf die «eingeschränkte Halbwertzeit», nach der beispielsweise für viele Kunsthistoriker die Geschichte der Kunst, mit, sag ich mal, bei Beuys beginnt. — Hintergründe zum Dilemma sind auch in Somlus Welt angerissen. Und genau das scheint viele Menschen wißbegierig werden zu lassen, aus dem mittlerweile ein ebenfalls sprachlich reduziertes neugierig geworden ist. Was dann entwicklungstechnisch den Nagel auf den Kopf trifft: altgierig ist nicht cool. Außerdem müßte man da möglicherweise komplette Bücher lesen. Wofür keine Zeit ist, denn die benötigt man für die zwei oder drei Jobs; zum Beruf hat's die ökonomische Ausrichtung des Studiums nicht kommen lassen; möglicherweise lag's am reinen Auswendig- oder am Zuweniglernen. Pech gehabt. Mit den aktuellen Ereignissen kam mir auch leicht Vergangenes in Erinnerung. Kürzlich ärgerte sich die junge Frau in der Familie sehr darüber, daß die Note für die Diplomarbeit wegen ein paar Zehnteln nicht für den Höchstwert gereicht hatte. Aber bereits Mitte der Neunziger nahm der Freund eine geradezu ungeheuerliche Rigorosum-Schlacht auf sich, um den Doktor auf den Schild eines auch wirklich nicht mehr besser zu bewertenden summa cum laude zu heben. Andererseits — was nutzt die ganze wißbegierige Leserei, wenn's einem so ergeht wie unseren beiden Helden Bouvard und Pécuchet (die in die Kommentare verbannt sind): * Walter Vitt: Palermo starb auf Kurumba. Wider die Schlampigkeiten in Kunstpublikationen. Köln/Nördlingen 2003. — Vitt beklagt die vielen biographischen und sachlichen Fehler, die in Künstler-Lexika und Katalogen zu finden sind und durch unkritisches Abschreiben dann in der Häufigkeit ihres Aufscheinens zu «Wahrheiten» mutieren. Der Autor vertraut der Verläßlichkeit lexikographischer Arbeit im Kunstbereich nicht mehr. Mademoiselle Mimi gehört zu ihm. Aber man darf unter CC.
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