Stützen der Gesellschaft ![]() Kunst bildet nicht die Wirklichkeit ab, sie macht (das Unsichtbare) sichtbar. Paul Klee
Kunst und Handwerk Ein Tusch für alle Trittauer auf der ganzen weiten Welt. In einer eMail von gestern schrieb mir ein Autor, zu dem ich nach fünfzehn Jahren (endlich!) wieder Kontakt aufgenommen hatte: «ihre mail ist ein sturz zurück in vergessene zeiten. diese geschichten waren für mich sehr wichtig. ich hab da erstmals knapp zu schreiben versucht. wenn ich so was heute wieder mache, kriege ich die versammelten klugscheißer auf den hals. grad bescheinigte mir einer, meine alte geschichte über die edelweißpiraten sei grob und holzschnitzartig geschrieben. der arme wicht suggeriert natürlich, holzschnitte wären das schlimmste, was es geben kann. was da die alten holzschneider sagen würden, die ich so schätze? die expressionisten, und die mittelalterlichen und erst recht der reutlinger hap grieshaber?» Der Zufall will es, gerade erst vor einer Woche auf diese alte Technik gestoßen zu sein. In Trittau war es, einem Städtchen im Hamburger Speckgürtel, wohin ich mich von meiner Kulturreiseführerin Frau Braggelmann auf einen dieser obligatorischen, vermeintlich dem Erntedank gewidmeten Herbstmärkte schleppen ließ. (Kann man ja mal machen, hieße es bei Frl.deVille.) Zu einem Bratwurststand ließ ich mich quasi um die Ecke bringen, ein ganz bestimmter mußte es sein, meinte die Fachfrau für den Verzehr nach und von diesen seltsamen Lukullitäten. Die Kurve kriegend tat sich mir mit einem Mal eine Fata Morgana auf. Ich konnte es nicht glauben, aus diesen ganzen Tinnef-Büdchen und -zeltchen ragte ein kleines hallenartiges, geradezu angenehm lichtes Gebäude heraus, das bald ein Stück von Herrn Nannens Emdener Kunsthalle assoziierte. Darin eine etwa 100 mal 150 Zentimeter große Holzplatte, die derart beschnitten dalag, als ob sie gleich losdrucken wollte. Holzschneider, da sagen Sie was, darauf werde ich meinen alten Bekannten hinweisen müssen. Das Publikum, wenn es sich nicht überhaupt abwendet von diesem schrecklich modernen Ding, das sich wahrscheinlich Architektur oder so ähnlich nennt, und lieber unter dem später angeklebten klassizistischen Giebel in die gemütliche fachgewerkte Wassermühle aus dem sehr frühen 18., fast noch 17. Jahrhundert tritt, ob es denn weiß, welch alte Technik da angewandt wird? Die sich allerdings in zeitgenössischem Gewand zeigt: Vexierspiel* ließe es sich nennen, was von der Platte runter auf die großen Papierbögen gedruckt ist, das mit jeder Bewegung des Betrachters immer neue Formen annimmt, sogar, wenn die Phantasie es zuläßt, figurative, weil man ja sonst nichts erkennt. Ohne die didaktische Maßnahme des Vorzeigens der Holzplatte aus dem Baumarkt funktionierte das wohl auch nicht. Das Interesse wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch dann rasch enden, wenn demnächst die eigens gekaufte Druckpresse aufgestellt sein wird, wenn die Technik erklärt ist. Das Produkt selbst, das man ansonsten für so eine Pinselei halten würde, erregt nicht unbedingt das Interesse der Öffentlichkeit. Man wendet sich lieber dem Herbstmarkt und dessen Produkten zu: tönern glasierte oder gläserne Kugeln oder eherne rostige Verbiegungen, die das gute alte Handwerk suggerieren. Daß diese versammelten Kunsthandwerker ihre Vorgartenverletzungen in der Regel aus einer chinesischen Fabrik für den europäischen, ach was, für den globalen Dekorationsmarkt beziehen, das ist nicht von Belang. Hauptsache, es ist schön. Bereits seit 2006 steht dieses verhuschte Teilchen dort, das an eine Moderne erinnert, mit der die Post nicht unbedingt zu tun hat. Des öfteren war ich an diesem Platz, und sei's, um das bei mir immer übrigbleibende Weißbrot — meine Herkunft verlangt immerzu Frisches — von den Schützern der Tierwelt ungerngesehenerweise zu verfüttern. Auch bei mir bricht die Idylle sich manchmal Bahn. Nie habe ich dieses Gebäude wahrgenommen. Vermutlich deshalb, weil ich immer beglückt den Enten zugeschaut habe, wie die sich prügelten, als ob die Trittauer sie allesamt schützten, indem sie ihnen nichts zu fressen gäben, also immer die Weite des Sees im Blick. Deshalb wohl blieb mir die dortige, in Trittau angekommene Tragweite der Moderne bislang verborgen. Es brauchte also eine verrostete Bratwurst, um mir zu beweisen, daß das Jahrhundert des Lichts auch dort zaghafte Durchsetzungsversuche unternahm. Sicherlich ist das Industriearchitektur, die dort steht (und die obendrein, auch das ist bemerkenswert, studentisch entworfen ist). Aber das ist ja kennzeichnend für die Moderne (nicht unbedingt das Studentische); sogar ein Sheed-Dach ist angedeutet (was wiederum auf eine erfreuliche Beobachtungsgabe aufs Historische schließen laßt). Und daß der glasfreie Teil des Gebäudes verklinkerter Beton ist, ließe sich in freundlichem Wort als landschaftsangepaßt bezeichnen. Jeder Häuschenbauer dieser Region macht das so — ohne Klinkerlitzchen geht hier gar nichts. Béton brut? Widerlich. Da steckt ja bereits das Brutale drinnen, die Brut des Bösen. Nun ja, Napoleon hat's in diese Ecke irgendwie nicht mehr so recht geschafft, und so richtiges höfisches Leben gab's auch nie in der Gegend. Sonst könnten sie's anders aussprechen: brü, ein wenig wie [ʒyː], aber dahinter dann ein sanftes, dennoch deutliches t. Brut wie roh, auch rein, etwa wie wirklich guter trockener blitzsauberer, also echter, nach solchem schmeckender Champagner; den man hier verständlicherweise auch nicht so mag. Art Brut wäre noch zu erwähnen, nicht die Kapelle, sondern die Kunstrichtung, nach der die sich genannt hat. Und dann eben Béton brut. Womit wir wieder bei einer Kapelle wären. Die von Ronchamp wäre beispielsweise zu erwähnen, gebaut von Le Corbusier, dem gerne nachgesagt wird, er hätte die(se) Brutalität erfunden. Im Gebäude zeigt man ein wenig davon, wie schön dieser Baustoff sein kann, mit dem bereits die alten Römer die Gegend verschandelt haben. Deshalb wollen die meisten ihn nicht sehen, diesen häßlichen Kasten. Weshalb man auch nicht hineingeht. Wenn man ihn überhaupt bemerkt in seiner Zurückhaltung. Fast verschämt steht er im Gärtchen, nahezu verdeckt von der guten alten Zeit namens Wassermühle. Nichtmal eine Photographie dieses Gebildes kriegen sie ganz vorne auf ihre Seite gestellt, winzig abgebildet ist ein wenig Innenleben des Alten, das Neue zeigt sich auch nach gut drei Jahren seiner Eröffnung noch in Form einer Zeichnung, und nach der dann, endlich, ganz am Ende, unter den Honoratioren, zwei dürftige Bildchen, an die gelangt man allerdings auch nur über quasi monetäre Umwege. (Und ich war ja auch zu faul ... Nein, ich begründe das jetzt mal mit dieser Natur, die zur Zeit noch überall im Weg herumwächst. Aber dann, wenn sie erstmal beseitigt ist von der Natur!) Nun, so ist es eben im Leben: Wer immer nur auf den Ameisenpfaden seinem Gewerk nachgeht, dem bleibt das Meiste verborgen. Zum Beispiel der angenehme Kontrast, der Nachweis, daß das Alte mit dem Neuen korrespondiert, wenn es behutsam eingesetzt wird (und konveniert). Sicher, so richtig getraut haben sich die Trittauer nicht, sonst hätten sie es nicht verklinkert. Aber das ist ein Kompromiß, mit dem sich leben läßt, zumal der Blick nach Ostfriesland den Gedanken trägt. Auch die kleinen Fehler sind läßlich, wenn man nicht gerade Künstler ist und dort eingemietet arbeitet. Die Sonne, die ab mittags die drei Ateliers heftig bescheint, gehört eigentlich ausgesperrt, des Artisten Licht ist das aus dem Norden, weil gleichbleibend und schattenfrei. Aber, na ja, wann scheint dort schonmal die Sonne. Doch vermutlich, werte ich jetzt mal zugunsten des Objekts überhaupt und somit positiv, war das planerisch nicht durchführbar. Im Alter wird man vermutlich kompromißbereiter ... Und somit: Ohne jeden Zweifel ist das Licht angekommen in Trittau. Die Sonne ist aufgegangen. Ex oriente lux. Und das im Westen. * Sie möge mir bitte verzeihen, die (dort eingemietete) Künstlerin, deren schöne Arbeiten wir gesehen und mit der wir lange gesprochen haben, deren Name mir jedoch entfallen ist und den die wassermühlige Informationsseite nicht preisgeben will. Aber die erwähnten Arbeiten sowie die schattenspielenden Malereien auf Plexiglas habe ich noch in Erinnerung ...
Seltsame Polyglotterie Die Frau spricht französisch und italienisch wie deutsch. Sie spricht aber nur mit Franzosen französisch und Italienern italienisch. Oder vielleicht mal mit einem welschen Schweizer. Aber Französisch den Franzosen. Und Italienisch den Italienern. Das Spanisch nicht zu vergessen, das sie mit mit den Spaniern, und das Spanisch, das sie mit den Latinos des lateinischen Amerika spricht. Auch mit den Brasilianern weiß sie sich zu verständigen. Wie sie dort übehaupt grundsätzlich in diesem singenden Portugiesisch angesprochen wird, weil sie vom Typus und den Bewegungen her wie eine im Land Geborene und Aufgewachsene wirkt, also mit dieser eigenen Art, die irgendwie mit Südeuropa zu tun haben könnte, auch dann oder weil Blond sich kringelt. Wie das überhaupt immer sehr rasch geht: Kaum ist sie in einem Land, in dem Ureuropäisch gesprochen wird, beherrscht sie den jeweiligen Dialekt bald darauf soweit, daß man sie zu sich nach Hause einlädt, um sich mit ihr zu unterhalten. Englisch spricht sie, weil es ohne Englisch eben nicht geht. Aber die sonstige Leidenschaft ist nicht zu spüren. Es sei denn, die Bewohner Bostons hätten eine solche. Dann schätzt man sie als eine Indigene der letzten gut zweihundert Jahre ein. Das liegt wohl am Resteuropäischen, das man sich dort erhalten hat. Wie die Canadier sich ihre französischen Rudimente des 18. Jahrhunderts. Im Deutschen verhält sich es sich etwas anders. Nicht, daß man heraushörte, wie sehr sie sich in diesem Land über viele Jahre bemüht hat, die Spuren ihrer anderssprachigen Herkunft zu verwischen. Das ist ihr nämlich durchaus gelungen. Nur der Geübtere nimmt wahr, wie sehr da immer etwas sperrt. Das ist einfach nicht der Sprachgesang, der ihr Französisch zum Pariserischen, ihr Italienisch zum Florentinischen macht. Dann nimmt das Oberbayerische oder das Berlinische immer wieder mal versuchsweise Platz, weil sie sich dort aufgehalten hat und dort und eingeborenes Sprechen nunmal jeweils sofort aufgenommen wird, aber man spürt doch deutlich, daß es auf Besuch ist. Und nur wer genau hin- beziehungsweise wer einmal hineingehört hat in dieses Phänomen, der vernimmt diese frappierende «ursächliche» Sprachverwandtschaft zum alten Griechenland. Homers Odysee wurde von Albert Meyer ins Bärndütsch übertragen: «Loset guet, syner Värse sy schöni Hexameter! Wie sie ansonsten so konsequent alles Fremde aus einer jeweils gesprochenen Sprache heraushält, erstaunt mich immer wieder und nötigt mir allen erdenklichen Respekt ab. Immer wieder habe ich darüber nachgedacht, woran das liegen könnte. Ich vermute, es liegt am Respekt, den sie mehr oder minder unbewußt den Sprachen erweist. Sie, die wahrhaftig in der Welt Herumgekommene, muß einen Anglizismus, einen Fremdeinfluß nicht vermeiden, er gerät ihr einfach nicht hinein in eine andere Sprache. Sie spricht entweder englisch oder französisch oder italienisch oder portugiesisch oder spanisch oder eben bärndütsch (und damit quasi altgriechisch). Vom Verdacht irgendeiner nationalen Tümelei ist sie frei, da sie keiner Nation angehört, auch wenn sie einen «Rotkreuz-Paß» besitzt, wie familienintern gewitzelt wird. Sie hat wohl immer sofort die kulturellen Wurzeln der jeweiligen Sprachheimat verinnerlicht. Lediglich ins Deutsche schleichen sich ständig fremde Einflüsse ein. Da gewinne ich bisweilen den Eindruck, sie wäre in eine Kunstsprache hineinerzogen worden, die keine eigene Kultur hat. Dann kauderwelscht sie, als sei ihr das ansonsten vorhandene Sprach- und Selbstbewußtsein gänzlich abhanden gekommen. Als ob sie immer noch versuchte, das Fremde zu vertuschen. Für Ratlose • Für Geschichtsinteressierte
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