Pille versus Zauber Eine langjährige Freundin habe ich; hatte ich, denn sie ist mir entschwunden, der Fluß des Lebens hält sich eben nicht immer an die Begradigung, die man ihm als im nachhinein bestimmendes Bettchen angedeihen läßt. Sie hatte es behutsam und, in des Wortes bester Bedeutung, nachdenklich angegangen. Zunächst einmal studierte sie im sogenannt altschulischen Sinn von Bildung alles mögliche, nichts auslassen wollte sie, das ihr das Erfassen oder Begreifen, vielleicht doch besser Verstehen von Zusammenhängen ermöglichte. Als sie meinte, sich in den Bereichen Kunst, im besonderen deren Geschichte sowie der im allgemeinen, Physik, Philosophie und auch den Gesellschaftswissenschaften einigermaßen auszukennen, wozu auffallend viele Auslandsstudien beitrugen, entschloß sie sich zu einer Doktorarbeit in Kunstgeschichte. Die wurde recht umfangreich, aber nicht der Fleiß alleine dürfte ihr eine herausragende Note beschert haben, sondern sicherlich auch das eingebrachte Wissen. Und tatsächlich zeichnete sich eine verdiente Karriere ab. Zunächst übertrug man ihr die Leitung eines Museums, das sie zu einer anerkannten Institution auch der zeitgenössischen Kunst ausbaute. Immer fand sie trotz hohen Arbeitsanfalls Zeit für vielbeachtete Veröffentlichungen, die auch von Nichtfachleuten gerne gelesen wurden. Das hatte seine Ursache sicherlich nicht zuletzt darin, daß sie nie den Kontakt zu den Menschen verlor, oder anders: sie ging schon ganz gerne auch mit sogenannten Nichtakademikern einen heben, und es fiel ihr nicht allzu schwer, sie unter deren Werkbank oder tief hinein in ihre alltäglichen Schächte zu saufen. Am nächsten Tag stand sie dennoch am Pult und erklärte dem Auditorium beispielsweise Adornos leicht apodiktisches Verhältnis zu den Künsten, wobei sie nie zu erwähnen vergaß, dessen Meinung zwar sehr zu schätzen, aber eben mit einer gewissen intellektuellen Distanz, da Götter- oder gar Götzenverehrung ihr höchst widerstrebe. Im Lauf der Jahre diente man ihr mehrfach die Lehre an, es kam jedoch zu Direktionen international renommierter Biennalen, deren Bedeutungen eben nicht nur Schauen waren von Aktien an den Wänden, sondern die die Kunst als gesellschaftliches Phänomen ausleuchteten. Zwar war solches vor einiger Zeit durchaus auch noch innerhalb Europas möglich, aber gezündet haben sie doch eher südwestlich des großen Teiches, wo man nicht so sehr der Kunst als Faktor kapitalistischen Könnens erlegen war. Bemerkt hatten das folglich nur diejenigen, die von der Alten Welt in die einstmals erbeuteten Gebiete hinüberruderten, um wahrzunehmen, was ihre Vergangenheit da alles angerichtet hatte. Dementsprechend gering war die Resonanz in, wie der Frankfurter vom Main spricht: dribbdebach, oder der Kölner: över de schäl Sick. Eine intellektuelle Brisanz wie die durch diese Direktion gegebene sprach man derart abgelegenen Veranstaltungen ab. Der Begriff Aufklärung hatte sich bereits zu wandeln begonnen. Später wurde die Freundin dann Chefin einer der nach wie beachtenswertesten Hochschulen Deutschlands, weniger mit Elite, mehr so mit grenzüberschreitenden Inhalten. Aber das tut nichts (mehr) zur Sache, ist also zweitrangig geworden, nicht nur, weil ich das erstrangig anders bewerte, sondern weil das Leben sich ohne Kanalisation seinen Lauf selbsttätig mäandert. Hauptsache ist, daß die ehemalige Freundin nicht nur meine war, sondern auch eine der Wissenschaften und deren Bedeutungen. Dazu gehörte die Schulmedizin. Der vertraute sie auch, solange sie sich innerhalb Europas aufhielt, als sie sich von Wirrnissen im Gehirn heimgesucht sah. In gewisser Weise tat sie das zunächst ebenso, als ihr zuhause nicht so recht geholfen werden konnte, in dem Land, in dem sie sich gleichwohl ohnehin sehr wohlfühlte. Im Denken europäisch geschult konsultierte sie zunächst eine schulmedizinisch höchste Kapazität, versehen mit Ämtern an Kliniken und Universitäten weit über die Grenzen von São Paulo hinaus. Als alles nichts half, entledigte sich dieser Herr seiner feinen Gewänder und zog Derberes über. Gemeinsam gingen die beiden in den Wald. Zu Beginn dieser dreitägigen Wanderung durch recht dichtes Gestrüpp offenbarte er ihr, nicht nur zu wissen, sondern auch zu glauben. Deshalb sei er, quasi im Nebenberuf, auch Priester. Und als solcher habe er, immer dann, wenn nichts weiterginge in der Schulmedizin, sich auch die höchsten Meriten erworben. Immer häufiger kämen die Kranken alleine seiner kleinen Nebentätigkeit wegen zu ihm. Das sei nun in seinem Land keine Seltenheit, da die modernen Wissenschaften und die Zauberei eine durchaus fröhliche Koexistenz führten. Als eine Art Multikulti würde man so etwas in Europa bezeichnen, habe er gehört. Ob es allerdings mit diesen Menschen vom Kernkontinent des Wissens funktioniere, habe er bislang noch nicht ausprobiert, doch da sie sich allem Erdenklichen gegenüber immer offen gezeigt habe, wolle er es eben ausprobieren; drei Tage Vodou ohne Musik versus Wissen oder so ähnlich. Seitdem war sie wieder klar im Kopf. Einige Zeit später hatte sie mir ihre Erlebnisse ausführlich geschildert, allerdings erst, nachdem ich ihr von meinem von ziemlichen Klagen begleiteten Problem berichtet hatte, bei dem es um die Unordnung in meinem Kopf ging, ausgelöst von einer höchst seltsam anmutenden Krankheit, die über mich gekommen war, deren Symptome der ihren im nachhinein auffällig ähnelten. Als ich, unter anderem mit ihrer Unterstützung, Jahre später Gelegenheit finden sollte, zweimal je ein Semester in diesem zauberhaften Land Gast sein zu dürfen, suchte also auch ich diese schulmedizinische Kapazität auf. Nach Sitzungen auf der Couch und Untersuchungen mittels wissenschaftsgestützter Gerätschaften schlug er auch mir eine Bresche durch den sehr, sehr dichten Wald. Doch bereits im Verlauf des zweiten Tages machten wir kehrt. An mir würde jeder Zauber abprallen, da mir jeder Glaube fehle, meinte er in seiner tiefgreifenden und weitreichenden Diagnose. Ich solle es doch am besten, wie bereits die Zeit zuvor, weiterhin mit der Pille versuchen. Sie habe als Placebo offenbar so festgemacht in mir, dagegen helfe auch kein Vodou mehr. Seitdem gelte ich als gesundet, jedenfalls solange ich meine Pillen nähme. Aber die Freundin ist trotzdem entschwunden. Sie ist irgendwann im Urwald des Lebens untergetaucht. Dagegen half auch kein Placebo.
Angesichts und mittendrin von Kirchen und Friedhöfen gerate ich immer wieder in Gefühle der Zwiegespaltenheit. Besonders im deutschen Raum, der nunmal gut vierzig Jahre meines Lebens in Beschlag genommen hat. Allen voran gewisse protestantische Örtlichkeiten, die auch ich immer wieder einmal aufzusuchen mehr oder minder gezwungen bin. Ob Taufe oder Totenfeier, das ist dort alles überwiegend von einer Tristesse, die mit Traurigkeit nur unzureichend übersetzt ist, da sie ästhetische Hintergründe hat; wobei letzteres nicht das Formale meint. An keinen Jubel, an keine Klage kann ich mich erinnern, die mich in solcher Umgebung tatsächlich ergriffen hätte. Eine Ausnahme mögen meine Besuche, ich war gerade intensiver mit Bayern in Berührung gekommen, der Konzerte des Münchner Bach-Chores gewesen sein, wobei ich mir nicht mehr sicher bin, ob es die durch Karl Richter interpretierte Musik war oder die Rothaarige in der ersten Reihe, deren Stimme ich meinte herausgehört zu haben. Sicher bin ich mir auf jeden Fall, daß es nicht des evangelischen Heiligen Markus wegen war, daß ich die Kirche aufgesucht habe. Die stand meines Erachtens im krassen Widerspruch zur Musik und der inbrünstigen, nachgerade altgläubigen (Sanges-)Schönheit einzelner Damen. Glücklicherweise sind dann gewisse Empfindungen in der Lage, Ansichten auf graues Grausen zu verdecken und die Sinne zu fokussieren. Völlig anders hingegen meine Ergriffenheit, als ich zum ersten Mal Notre-Dame-en-Saint-Mélaine in Rennes betrat. Kaum hatte ich mich ein wenig staunend umgesehen, auch hinaufgeschaut, was aber der architektonischen und keiner anderen Höhe geschuldet war, als der Organist begann, das noch neue Instrument zu bespielen. Da habe sogar ich mich auf eine Bank gesetzt, habe nur noch hineingelauscht, mich in diese Umgebung sinken lassen. Nun ließe sich hier herauslesen, ich sei dem Katholikentum zugewandt. Das bin ich ganz sicher nicht. Auch die Orgel gehört nicht zu meinen Lieblingsinstrumenten. Sie erinnert mich immer irgendwie an Bach und an diesen angewandten Protestantismus (gegen den beispielsweise Ennoch zu Guttenberg immer wieder andirigiert hat). All das gehört nicht eben zu dem, dem ich zustrebe, womit Religionen, welcher Art auch immer, gemeint sind. Aber ich bin mir im klaren darüber, daß es ohne diese Vergeistigung diese Bauwerke, die Musiken nicht gäbe. Sogar dem Fliegenfänger Henryk Górecki bin ich einst auf den Leim gegangen. Nein, das wäre jetzt ungerecht. Denn der Pole ist wohl tiefgläubig, das muß der Maßstab sein, auch ein historischer, aber nicht im Sinne von Rückblick, sondern in dem eines anhaltenden Zustandes. Außerdem war es vermutlich nicht er, sondern wiederum eine Sängerin, deren Stimme ich hingebungsvoll verfallen war und es in gewisser Weise bis heute bin, nicht zuletzt deshalb, da ich sie anderenorts und zu anderen musikalischen Ereignissen erleben durfte: Dawn Upshaw. Dennoch war sie es, die eine Grundstimmung vermittelt hat, ohne die es eine nicht nur europäische Kultivierung nicht gegeben hätte. Aber daraus ging eben auch dieses Protestantische hervor, bei dem ich ästhetisch fast austrockne, weil mir offensichtlich dann doch etwas von dem fehlt, das die tiefe Einkehr kennzeichnet. Da müssen Rudimente in mir vorhanden sein, anders kann ich es mir nicht erklären. Am anschaulichsten wurde das, als ich in den Achtzigern auf einem Friedhof nahe der schweizerischen Grenze einen Verwandtenbesuch machen sollte. Im unteren Bereich war er von einem herauspolierten Glanz, der tausende Jahre Geschichte hinfällig zu machen schien. Sogar die Grabsteine hatten eine Formenrichtung angenommen, wie sie ein ostholsteinischer Steinmetz im Akkordlohn anstreben dürfte, wenn auch mit etwas weniger Applikation. Je weiter ich allerdings den Friedhofshügel hinaufging, um so mehr fanden sie zurück in ihre alte Sprache, die auszusterben scheint. ![]() ![]() Vollends wiedergefunden hatten sie sie erst weiter oben, von Bäumen umstanden, in der unverrückbaren Vergangenheit einer Kultur, die sich, wie alle anderen Kulturen auch, aus dem Glauben entwickelt hat, an welche Götter auch immer. Und denen ich, obwohl ich nicht an den Glauben glaube, diese Wirklichkeit zuzugestehen habe. Aber protestantisch gegen die Kirche protestieren, das hätte ich mit Sicherheit nie getan. Ach, was bin ich doch für ein herrloser Ästhetizist.
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