Carne vale Heute, nachdem ich vor dem Nickerchen in die Stunksitzung hineingeraten und tatsächlich gelacht habe, als Moses die Heiligen Lobbyisten anschleppte, auf daß der Liebe Gott hoch oben auf einem Turm aus Pfeffersäcken (?) stehend die zehn Gebote neu verkündete und in Stein meißeln ließ, will ich eingefleischter Anti-Faschingst mich beteiligen. Nein. Ich verstehe diese seltsamen Rituale nicht einmal annähernd. Noch immer sitzt der Schock tief in mir, den ich Anfang der Siebziger erlitt, als ich an einem Karnevalsfreitag in Aix-la-Chapelle das Hotel verließ, um gemütlich einen Kaffee trinken zu gehen. Ich hatte die abendlichen Warnungen der Dame an der Reception ignoriert. Diese verzerrten Gesichte anläßlich meines mehrfach geäußerten Getränkewunschs werde ich mein Lebtag nicht vergessen, dachte ich doch, die wollen mich, bevor sie mich runterwerfen in Charons Vorgarten, vorher noch massakrieren. Dabei hatte ich, aus London kommend, meine Bahnfahrt nach Berlin lediglich unterbrochen, um mir die heiligste Architektur dieser Stadt anzuschauen. In die war ich anschließend geflüchtet. Aber selbst dort hatte man Pappen an der Nase und auf dem Kopf und war überhaupt von seltsamer Fröhlichkeit. Nun, ich habe auch nie dieses Cowboy und Indianer gespielt. Ich fand das immer sehr langweilig. Vielleicht, weil mein geologischer Vater sein Söhnlein ein paarmal zu den Indios hinauf in die sieben Berge mitgenommen hatte. Aber nachdem ich bei MelusineB, deren Protokolle zu ihren Gleisbauarbeiten ich ohnehin immer sehr gerne lese, heute deren Maskeraden verfolgt habe, beginne ich wenigstens so langsam zu verstehen, weshalb ich mich von klein an unter Mädchen immer irgendwie wohler gefühlt habe als unter faden Meinesgleichen: „Warum verkleidest du dich nicht als Indianer oder als Cowboy?“, fragte meine Mutter, als ich ihr mein Leid klagte. „Ich will nicht immer an den Pfahl gebunden werden.“ Ich bin kein Mann. Warum muss ich das sagen? Sie weiß es doch. Ich will auch keiner sein. Ich will eine Frau sein, die mit der Faust zuschlägt.“Ich danke für diese wunderschöne Auslegung des Karnevals und verleihe Ihnen hiermit den ortsunüblichen Orden für den tierischen Ernst.
(Musik-)Experten für die Altenpflege Zwar behaupte ich gerne, mit zunehmendem Alter kehre zwischenzeitlich wenigstens meine Langzeiterinnerung zurück. Doch seit ich überhaupt keine Stoffe aus Drogerien mehr zu mir nehme, scheint mich auch noch das Kurzzeitgedächtnis zu verlassen. Irgendetwas drängt mich zunehmend aus der Mitte (des Lebens?). Also nehme ich einfach mal so Altenpflege aus meinem kleinen, um so geschätzteren Lesezirkel in Anspruch. Irgendein abendliches Kunst-TV-Magazin ging gestern aus sich und dem Programm heraus mit einem zweiundzwanzigjährigen Sänger von der Insel der Angeln und Sachsen. Dessen Namen habe ich, wie zu erwarten, bereits wieder vergessen. Sein Vortrag allerdings ist bereits seit den ersten Takten und seiner Stimme wegen in meinen offensichtlich gerade noch verbliebenen Windungen hängengeblieben. Vermutlich eher weniger wegen dessen Musik, sondern mehr, weil sie sofort eine (durchaus positive) Erinnerungsstarre in mir auslöste. Da gab es nämlich einen US-Amerikaner, dessen sinistre Balladen sogar mich der Popularmusik eher Abgeneigten Anfang der Achtziger derart ergriffen, daß ich mir seine beiden Schallplatten kaufte, die ich immer und immer wieder abhörte. Doch nicht nur der Name des Jüngeren ist mir entschwunden, ebenso der dieses Urhebers, den ich nun suche, obendrein auch dessen Vinylscheiben, so daß ich nicht mehr nachschauen kann, wie er hieß. Ja, richtig: hieß. Denn das ist das einzige, das mich an diese Personalie erinnert: Irgendwann in jungen Jahren stürzte er nämlich mit einem Flugzeug ab, dunkel schwant mir, es müsse ein kleines gewesen sein, für das er eigens einen Pilotenschein erworben hatte, er seine Klänge also alleine mit in die Hölle genommen hat, an deren Vorhof ich immer dachte, wenn er mit fast unterdrückter, aber möglicherweise gerade deshalb ausdrucksstarken Stimme seine Klagelieder sang. Vom Klang her wäre eine entfernte Nähe zu Tom Waits zulässig, aber nicht so verraucht-kneipig, denn diese Lieder unterschieden sich in ihrer dramatischeren Erzähltechnik musikalisch erheblich, da waren wesentlich mehr sängerische Kunstfliegereien enthalten. Ob mir jemand zu meiner Erinnerungs verhelfen kann? Und sollte jemand gestern auch an diesem Kulturmagazin hängengeblieben sein, von dem ich eben ebenfalls nicht mehr weiß, welches es war, dann könnte er mir vielleicht auch noch den Namen des jungen Insulaners von der Alten Welt nennen.
Noblesse oblige ![]() Vor zwei Tagen bezeichnete mich jemand als Adelsexperte. Nun gut, ich hatte mich unglücklicherweise «enttarnt», indem ich ihm davon erzählt hatte, daß ich eine Zeitlang in einem blaublütig durchseelten Haus Wein gesoffen habe und dessen Produzenten auch noch sympathisch fand. Da muß man dann eben mit ätzender Ironie leben, vor allem, wenn sie von jemandem verspritzt wird, der sich wissenschaftlich mit dieser Degeneration beschäftigt. Nur gut, daß ich nicht darüber berichtet habe, wieviel wohler noch es mir erging bei diesen Florentinern in ihrem Palazzo, nicht nur, weil die noch um einiges besser kochten als die rheingauische Gräfin. Ach, was soll's, Adlige sind auch nur Menschen. Das dachte ich jedenfalls bis gestern abend. Da plazierte sich eine Frau mittenrein in mein Gedankengut, von der ich zuvor noch nie gehört und auch nicht gelesen hätte, wäre ihr Name nicht just während dieser brieflichen Frozzelei gefallen. Normalerweise schaue ich mir so etwas nicht an, aber während des Switchings blieb ich an einer Talgshow (das ist fränkisch und heißt Fernsehunterhaltung) hängen, weil ein Reizname fiel. Da saß dann ein weibliches Wesen, das auf den ersten Blick auf mich wirkte wie eine Anja-Tanja, die sich aus Mümmelmannsberg hinaus hinauf an den Rand dieser besseren Gesellschaft gearbeitet hat — nein, das wäre eine schiefe Metapher, das Hasenbergl käme dem näher, stammt der Name der Dame doch aus Bayern, der von der Anna von Bayern. Sie hat ihresgleichen heftig oder auch vehement verteidigt, da ihm das offenbar selber nicht mehr gelingen will, jedenfalls vor keiner rigorosen Prüfungskommission mehr. Sich die Frage zu stellen, warum auch sie an dieser Runde teilnehmen mußte, ob es an der intensiven Freundschaft zum Delinquenten oder an dem Buch gelegen haben mag, das sie über ihn geschrieben hat, ist vermutlich ebenso müßig wie die Frage nach dem Wahren, Guten und Schönen innerhalb eines dokumentarischen Filmchens innerhalb der Sendereihe Deutsche Dynastien. Da gilt offensichtlich auch nur das dauerhaft oder auf ewig gültige winckelmannsche Edle Einfalt, stille Größe, vielleicht auch: innen zwar hohl, aber es glänzt so schön. Auf jeden Fall wurde ich an den Satz erinnert, den dieser wirkliche Adelsexperte mir noch zukommen ließ und den ich leicht abwandele: «Außerdem bietet diese Form der filmischen (im Original schriftlichen) Erinnerung dem einzelnen auch die Möglichkeit der nachträglichen Sinngebung des gelebten Lebens und somit die Einbindung in den kollektiven Prozeß bürgerlicher Identitätsbildung.» Wenn ich dem Bürgerlichen noch ein kleines Spießchen hinzufüge, dann verdeutlicht das möglicherweise die Lage einer Nation. Ach was, die Lagen vieler Nationen! Wir wären doch allesamt so gerne auch von blauem Blut, allen voran die Franzosen, die möglicherweise etwas zu voreilig dem Adel den Kopf abgeschnitten haben. In Deutschland wurde der edle und erhabene Geist zwar hundertwanzig Jahre später geköpft, nein, das macht man dort nicht, man schafft auf andere Weise ab, aber auf jeden Fall steckt er dennoch tief in uns, in unserem Blut eben. Man muß doch nur mal in unsere Wohnungen schauen. Überall prangen die Seh(n)süchte, selbst unter eine für Germanen viel zu tiefe Decke paßt immer noch irgendwie ein Kronleuchter, zu dem aufzublicken wäre. Teil dieser knapp einem Prozent der jeweiligen Bevölkerung wollen wir sein. Gestern fiel im Rahmen der allgemeinen Erregung irgendwo der Vorschlag, am besten gleich allen einen Doktorgrad mit auf den Lebensweg zu geben. Ergänzend hinzufügen möchte ich: Alle in den Adelsstand erheben. Dann wär' vielleicht endlich Ruh'. Oder auch nicht, müßten sich nach einer solchen Massenveredlung doch die Echtblütigen was einfallen lassen. Einfach einen Titel zurückgeben? Wenigstens ein «von» aus dem Namen tilgen, wie die gestern abend ebenfalls anwesende, neben dieser Anna-Tanja sitzende Freifrau das getan hat. Die hätte ich übrigens am liebsten geknutscht, so wunderbar spöttisch hat die gekuckt.
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