Europa und ihr Stier Eigentlich wollten wir über diesen großen deutschen Philosophen nicht mehr debattieren. Doch nachdem Hans Pfitzinger in seinem tazblog uns derart ins Schmunzeln gebracht hatte, mußten wir alle guten Vorsätze beziehungsweise die Erkenntnis, Totschweigen sei die am ehesten funktionierende Negativkritik, dahinfahren lassen: Mit einer Meldung von der Kulturseite: Peter Sloterdijk bekommt den Lessing-Preis für Kritik, und ein Satz aus seinem neuen Buch (hört der denn nie auf?) wird auch zitiert — um zu unterstreichen, daß er den Preis verdient hat? Also sprach Sloterdijk: Lessings Ringparabel sei ein Versuch der «Domestikation der Monotheismen aus dem Geist der guten Gesellschaft».Wie sprach doch unser Hausphilosoph Werner Enke vor vier Jahrzehnten: «Es wird böse enden.» Damit war irgendwie auch das geistig-moralische Deutschland gemeint. Und das ist ja bekanntlich angekommen. Beschreibe ich's mal so: Da kaum jemand Peter Sloterdijk versteht — und damit ist nicht nur sein Genuschle gemeint, lediglich unterbrochen von den Hilflosigkeiten, auch nur einen Satz halbwegs unfallfrei zuende zu sprechen —, er also weiter keinen Schaden außerhalb seiner Jüngerschaft anrichten kann, wurde ihm (für Intellektuelle) besten öffentlich-rechtlichen Sendezeit die Möglichkeit gewährt, einen gewissen Bekanntheitsgrad über sich hinaus zu erlangen. Diejenigen, die bereit sind, sich dieses gegenaufklärerischen Geraunes wegen das Höhrrohr anzulegen, bewahren somit einen Philosophiebegriff, der sich keinen Jota von der Ironie des spitzwegerischen Dachkammerdenkers wegzubewegen gedenkt: der dialogische Austausch der Philosophie verliert sich unterm Regenschirm des vermeintlich Elitären. Das paßt zu diesem Land, in dem das hermetisch vernagelte Kryptische als Synonym für geistige Vollendung steht und das gerne mit Lobpreisungen bedacht wird, gegen die ihre Namensgeber sich nicht mehr wehren können. Nun gut, im Zusammenhang mit Herrn Professor Sloterdijk gehen die Meinungen auseinander. Zwar hatte ich bei Schmoll et copains mal geäußert, es gebe «Bücher, die sollte man einfach nicht mehr in die Hand nehmen. Man sollte sie in den tiefen Kartons auf dem Dachboden des Vergessens belassen.» Aber offensichtlich soll dem nicht so sein, zumal gerade Sloterdijk für ein historisches Bewußtsein plädiert. Und das las sich 1994 bei ihm so: «Der jähe Ausfall von vierzig Millionen Toten hatte die Atmosphäre in Schwingung versetzt, eine mystische Emission, die an den Lebenden zehrte wie eine grenzenlose Schuld.»Manfred Jander meinte daraufhin: «Wenn ich mich nicht irre, bestand der ‹Ausfall› darin, daß vierzig Millionen lebende, teils lebendige Menschen gefallen, verhungert, erfroren sind — oder ohne Umwege ermordet wurden; außerdem kann ich mich nicht erinnern, daß der gewaltsame Tod zwanzig Millionen sowjetischer Menschen in der westlichen Welt eine spürbare ‹Schwingung› verursacht hätte.»In einer Ausgabe des Laubacher Feuilleton waren einige Meinungen zu Sloterdijks Essay Falls Europa erwacht veröffentlicht worden. Zwar ist zur Zeit mehr die Rede von dieser spezifischen Wackelwährung, die zu meinem anhaltenden (Monarchisten-)Bedauern dann doch nicht Écu heißen durfte, aber im Zuge dessen kommt es mehr als marginal, also eher schon zur seitenfüllenden Schreibe über die Sehnsüchte vieler, wieder in den idyllischen Urwald der Kleinstaaterei zurückkehren zu wollen. (Dabei bin ich geneigt, die modernen Mittelaltermärkte zu assoziieren, die zur Hochsaison vor allem des deutsch eingegrenzten Fremdenverkehrs zunehmend die Zentren der Städtchen illustrieren, in denen es keinen Unrat gibt, der stinkend durch die Gassen fließt, und auch das einfache Volk kunterbunt gewandet voller Glück im Müßiggang vor sich hinschlendert.) Der Prophet Sloterdijk aber blickte seinerzeit zurück auf den Mythos von Europa und ihren hinterlistigen Stier und bot verwirrten Politikern «geschichtspilosophische Information» sowie «klare Orientierung». So möge nicht verlorengehen, was uns offensichtlich mehr noch als vor fünfzehn Jahren beschäftigt, und sei deshalb ins nichts wegschmeißende Zwischennetz nachgemeißelt. In der Anmoderation zur Diskussion von Peter Sloterdijks Buch hieß es: «Was für das Frankreich der siebziger Jahre die Nouveaux philosophes André Glucksmann, Alain Finkielkraut oder Bernard Henri Lévy und andere, ist für die Bundesrepublik der achtziger und neunziger Jahre sicherlich ein Peter Sloterdijk. Kaum jemand unter den jüngeren Philosophen ist so umstritten, löst so heftige Diskussionen aus wie er. Gerade sein Essay Falls Europa erwacht löste eine Flut an Verwünschungen und Vergötterungen aus, es hagelte polemische Verrisse und kotauähnliche Lobhudeleien. Auch innerhalb der Redaktion schieden sich die Geister an den Thesen des in München lebenden Sloterdijk. Deshalb haben wir einige Personen außerhalb unseres Blatts, aber auch Redaktionsmitglieder gebeten, Kommentare abzugeben.» Weil Wolfgang Flatz alphabetisch ganz oben stand, sei um irgendeiner Ordnung willen mit ihm begonnen. Warum hat Peter Sloterdijk seinen Essay nicht Europa erwache betitelt? Warum heißt er Falls Europa erwacht? Begreift er sich als einen jener Pop-Ulär-Philosophen, die die Zeichen der Zeit zwar lesen, verstehen und zu interpretieren imstande sind, jedoch nicht die Rolle des Rufers oder handelnden Einpeitschers übernehmen wollen, sich somit auf die Verantwortung für das notwendig gesagte nur im historisierenden Mahnbereich zurückziehen, um sich mit dieser Haltung nicht mehr als notwendig zu exponieren? Oder hat Sloterdijk Angst, daß ein Buchtitel Europa erwache zu sehr an die Sprachterminologie der Zeit erinnert, die zu jener Absence Europas der Macht-Gestalt und Verantwortungslosigkeit im Weltgeschehen geführt hat, die er in seiner Schrift als Hauptübel und Ursache des der Totenstarre ähnlichen Handlungswillens und -vermögens zuordnet? Womit wir schon mitten im Fall Europa erwacht sind. Die weiteren Kommentare folgen.
Schwarz-weiß-Malereien Am untersten Rand des Linksrheinischen, dort, wo ich in einem Randgäßchen des Reiserummels eine der besten Fischsuppen des Kontinents gegessen und auf dem zentralen Platz manch eine ruhige Boule zum Pétanque geschoben habe, unterhalb der mit über dreihundert Metern höchsten europäischen Klippe, auf der ein glatzköpfiger, seinerzeit in England Bälle fangender und Pfund Stirling sammelnder Fastmarseillais neben altem Adel thronte, amusierte ich mich im vorgerückten Sommer des Jahres 2000 frühmorgens um fünf mal bestens über eine übriggebliebene Restformation des Jubels, die nur noch mit Mühe Allez les Bleus aus den vom tage- oder gar wochenlangen Saufen völlig ausgetrockneten Kehlen brachte. Das fröhliche Ereignis war ein marginaler Beleg dafür, daß die Gewässer der Calanques östlich von Marseille nicht nur in diesem von der Mehrheit gespriesenen und deshalb wohl auch ständig abgelichteten kitschpostartigen Turquise bleu oder vert blinken und blitzen, sondern daß die Welt ihrer Palette einige Farbgebungsmöglichkeiten mehr aufgelegt hat als das kompositionell beschränkte Weiß-schwarz-Denken derer, die sich als christlich in sieben Tagen Mitschöpfende nicht nur in Bekannt-, besser Heiratsgesuchen, als Caucasian gerne mehr oder minder klammheimlich nach wie vor als Herrschende über alle anderen empfinden. Frankreich hatte zumindest fußballerisch das beste aus seiner einst fragwürdig erfolgreichen Kolonialpolitik herausgeholt und seine Schwatten Perlen wenigstens zeitweise dem Volk zugeführt. Als altausgewiesener Anhänger und eine Zeitlang auch als Wortführer einer Bastardisierung der Welt freue ich mich über die teilweise positive Entwicklung (endlich) auch in Deutschland. Anfang der Neunziger hat ein lieber Freund selig meine im Land der Dichter und Denker oder auch des christlich-jüdischen Kulturkreises häufig mit hochgezogener Augenbraue quittierten Wahrnehmungen auf meine Bitte hin mal trefflich essayistisch festgehalten. Meine rassisch unreinen Neigungen mögen in der Ursuppe meiner Sozialisation wurzeln, die mich von allerkleinst an mit allen erdenklichen Pigmentfärbungen konfrontiert hat, da meine nomadisch geprägten Eltern mich durch drei Kontinente karrten und ich als gerademal der geistigen Kindheit Enthüpfter ein Leidensjahr im damaligen, zwischen Rassen und Klassen streng trennenden Altenheim der Gutsituierten des Südostens verbrachte sowie den südlicheren später, als ich mich bereits in der Phase des geriatriebedürftigen Gehirns oder auch immer näherrückenden, von manchen als Altersweisheit bezeichneten, also mit über fünfzig, näher kennenlernen durfte oder sollte. Geschadet hat's mir, zumindest was die bisweilen befremdliche Fremdelei vieler anderer betrifft, sicherlich nicht. Mittlerweile stoße ich allerdings gar auf Ablehnung, wenn ich mein ungebrochenes Interesse an der Herkunft unterschiedlicher Menschen kundtue. Immer öfter wird vor allem in Deutschland darauf verwiesen, man sei schließlich Bürger dieses Landes, dessen wurzelnder Flugsamen schließlich bedeutungslos sei. Wenn ich wegen eines nicht ohne weiteres ortenbaren Patois interessehalber nach dem geographischen Umfeld frage, passiert mir das entschieden seltenener. Die mittlerweile assimilierten Integrationsdeutschen haben noch ein wenig Nachholbedarf. Ich hoffe, mir demnächst nicht auch noch anhören zu müssen, sie seien stolz, Deutsche zu sein. Andererseits kommt dann auch schon wieder Verständnis auf, weil Peter Bichsel mich mit seinen Schulmeistereien schmunzeln läßt. Und schließlich lernte ich ebenso einen in Anatolien geborenen Schweizer kennen, der schweizerischer nicht sein konnte als ein Schweizer, der ein Gegenüber mit Todesverachtung strafte, der es wagte, nach der Ursache seiner kleinasiatisch anmutenden Haar- und Hautfärbung zu fragen. Und wer erinnert sich nicht an diesen italienischen Kommunisten Francesco Grimolli alias Claudio Caramaschi, der so gerne schweizerisch blond gewesen wäre wie die weichgezeichneten hochklassigen Heroen samt Gespielinnen zu Pferde, die er mit lustglänzenden Augen von der stinkenden Hühnerfarm aus beobachtete, auf die er geflohen war wegen seiner mißglückten Einburgerung, der sich dann glücklicherweise doch seiner ursprünglichen Geisteshaltung erinnerte und wieder italienischer wurde, indem er die Grenze zur anderen Seite hin überschritt. Vorgestern strahlte mein geliebter (und deshalb bisweilen frozzelnd attackierter) Yakmist-Sender einen Beitrag über deutsch-US-amerikanische Beziehungen aus, dessen Auswirkungen ich teilweise persönlich, sowohl in Deutschland als auch in den USA der sechziger Jahre, einige Male erleben mußte oder durfte: Brown Babies. Nie aus meiner Erinnerung zu tilgen sein wird diese wunderbare, köstliche Frau, die Anfang der Achtziger, als sie in der weiß-blauen Landeshauptstadt ein liebesbezogenes Gastspiel gab, wegen ihres mehr kaffebraunen als milchigen Teints ständig englisch angesprochen wurde, aber nicht eines Wörtchens dieser Sprache mächtig war; man verstand sie anfänglich ausschließlich dann, wenn man diese guttural anmutenden Laute einigermaßen zu orten wußte, weil man schonmal in den Dörfern zwischen Kötzting und der tschechischen Grenze unterwegs war, wie ich beispielsweise, da zu dieser Zeit noch nicht alle Künstler ein Atelier in der Nähe des kentischen Siebeneichen oder bei Hàwenàu im Elsaß gekauft hatten, sondern als Mieter gerne alte Bauernhöfe in Niederbayern und der Oberpfalz umbesiedelten. Sie war als Nachlassenschaft der seinerzeit noch nicht ganz so ausgeprägten deutsch-amerikanischen Freundschaft eines der glücklicheren Kinder, da ein Kleinbauer die junge Mutter trotzdem zur Frau nahm, obwohl sie bereits einen Bastard in die Welt gesetzt hatte und den um nichts in der Welt zur Adoption ins Land des Erzeugers freigegeben hätte. Letzterer war bereits in seine Ku-Klux-Klan-Heimat geflüchtet, während die Frucht noch heranreifte. Möglicherweise lehnte sie deshalb dessen Sprache so vehement ab und weigerte sich, Gummi zu kauen und diesen süßen Dunkelseich zu trinken, der als Synonym für Kapitalismus und Lifestyle dann (auch) deutsche Lande zuschütten sollte. Dunkelbraun bin i doch scho selba, Broúda, pflegte sie der Verwunderung über diese Ablehnung zu entgegen. Deshalb bevorzuge sie ein Helles, gerne durften's auch mal zwei oder drei oder so sein, und wenn sich ein Bärwurz oder Blutwurz in Ausschanknähe befand, dann wurde auch der nicht lustlos gekippt, und manchmal warns auch zwei oda so, dann aber am liebsten im heimatlichen Weiler bei Bogen, in dem sie dann blieb und sich hauptsächlich ihrem großen braunen Freund widmete; wahrscheinlich, weil sie für den nicht auch noch Germslang lernen mußte und der lieber Hafer kaute als Chewing gum. Kaugummi und Friedenskampf im Nachkriegsbayern wurde Anfang der Achtziger durchaus sehenswert von Marianne S. W. Rosenbaum thematisiert. Die Dame neben Konni Wecker, von dem damals alle nur noch Willy hören wollten, obwohl er schon ein bißchen mehr draufhatte, ist übrigens keine Schauspielerin, sondern die Kostümbildnerin Ute Hofinger. Aber in diesem Film mußte jeder irgendwie ran, sogar ich als einer von irgendwas mit Medien, und zwar auf dem Münchner Theaterfestival, wo der Stoff als Bühnenstück präsentiert worden war. Nur der seinerzeit nahezu honorarfrei arbeitende Peter Fonda war bereits wieder in den wilden Westen entschwunden, um den stumpf gewordenen Sattel seiner Karriere aufzupolieren, was sich als keine leichte Aufgabe erwies, da man dort Frieden und Niederbayern nicht nur geographisch nicht so recht einzuordnen wußte. Ein oberbairischer Schauspieler kriecht dann noch durch meine sich zusehends öffnende Langzeiterinnerung, der lange nach Toxi (Achtung: nackte Minderjährige) eine Zeitlang als Alibineger der deutschen Mattscheibe diente. So manches angenehme Gespräch hatte ich mit dem sympathischen Zeitgenossen, und ich war lange fest davon überzeugt, auch er sei solch ein braunes Baby. Bis er mir eines Tages mit leicht erhöhten Augenbrauen, aber nicht unsanft erklärte, er sei der Sohn eines senegalesischen Diplomaten. Als ich ins Grübeln kam und ihn nach seinem Alter fragte, war mir klar geworden, daß er nun wirklich nicht in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte gehörte. Ursprünglich wollte ich eine völlig andere Geschichte erzählen, eine von einer jungen, herrlich milchkaffeebraun pigmentierten und hochintelligenten Kurdin, die Anfang der Neunziger auf den Fluchtwogen vor ihrer strenggläubigen Familie bei mir angeschwemmt worden war. Aber dann wurde ich von einer Logorrhoe-Strömung erfaßt und abgetrieben. Also erzähle ich das ein andermal.
Energieromantische Pendlereien Immer wieder offenbart mir meine offensichtlich unerschöpfliche Ausgrabungsstätte, mein Archiv, Sachverhalte, nach denen ich garantiert nicht gesucht habe. Geforscht hatte ich nach Unterlagen zu Frau Braggelmanns Pendlerinnendasein. Das Landei seit Geburt mußte sich nämlich schon wieder ein neues Automobil zulegen, weil der öffentliche Nahverkehr auf ihre Dienst- und sonstigen Versorgungszeiten, schon gar nicht auf die Bedürfnisse der unmittelbaren Verwandtschaft näher einzugehen gedenkt. Dabei stieß ich unfreiwillig auf die Äußerung einer Dame, die ich sehr frei nach Kandinsky einordne: «Deswegen ist das [...] Grün im Farbenreich das, was im Menschenreich die sogenannte Bourgeoisie ist; es ist ein unbewegliches, mit sich zufriedenes, nach allen Richtungen beschränktes Element.» «Viele Pendler werden am Mittwoch eine Flasche Sekt aus dem Keller geholt haben. Denn der Bundesfinanzhof hat entschieden: Es ist verfassungswidrig, dass nur wer mehr als 20 Kilometer zur Arbeit fährt, 30 Cent pro Kilometer von der Steuer absetzen darf. Diese Regelung galt seit Januar 2007.Was ist daraus eigentlich geworden? Denn: «Und das ist gut so», ließ Annette Jensen in ihrem Taz-Sachkommentar vom 24. Januar 2008 die Leser noch wissen. Fast möchte unsereiner meinen, die Regierendenliebe habe dabei ein wenig mitformuliert, weil der sich einst Enthüllende dringend und gerne noch ein paar Provinzler hätte, die Berlin steuerlich aufforsten helfen, auf daß das Riesenloch nicht am Ende gar ein grünes, schwarzes oder beides werde? Auf jeden Fall hat da mal wieder jemand geschrieben, der oben auf dem Berliner Grünen Ausguck hockt und übers Land blinzelt und nur runtersteigt, um allenfalls mal rauszufahren nach Lübars zum Familienkaffeekochen. Es war und ist unterm Strich, teilweise seit Jahrzehnten, auf jeden Fall schon seit langem teurer, auf dem Land zu leben. Die miserablen, teilweise nicht (mehr) vorhandenen Infrastrukturen gingen immer in irgendeiner Form ans Portemonnaie der Landbewohner. Eben deshalb ist der größte Teil der Landbevölkerung gezwungen, das Auto zu benutzen, da in vielen Landstrichen Bus und Bahn so gut wie nicht mehr unterwegs sind, viele gar nicht wegkommen aus den Dörfern, geschweige denn wieder nach Hause. Draufgezahlt hat der Landler (in den strukturschwachen Gebieten) ohnehin immer, jedenfalls in den letzten zwanzig Jahren. Es sei denn, er war, im Lebensmittelbereich, Selbstversorger. Doch den gibt's ja auch kaum noch. Die klassischen Bauernhöfe sind EUroglobalistisch plattgemacht worden; begleitet von heftigem deutschen Regierungsnicken und bücklinghaftem, vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Lebensmittelindustrie. Und die Reihenhäusler bauen längst keine Keller mehr, sie lagern ihre preisgünstigen Nullachtfuffzehnkartoffeln aus Chile oder China bei den Großbilligheimern ein und holen sie bei Bedarf quasi gegen (letztlich teures) Korkengeld ab. Also zahlen alle gezwungenermaßen die Preise, die von den in ländlichen Regionen angesiedelten sogenannten Discountern gefordert werden. Wobei die oftmals über den städtischen liegen, zumindest im Bereich der sonstigen Verbrauchsgüter. Deshalb steigen sie wiederum ins Auto, um sich städtisch behumsen zu lassen. Daß auf dem Land alles billiger sei, ist eine Meinung, die nur von Menschen übermittelt werden kann, die ihre Informationen aus der Adenauer-Zeit beziehen. Das mit den Grundstückspreisen beziehungsweise der Stadtflucht hat seine Gründe in einer seit langem bekannten Tendenz. In zehn Jahren sind die unvermeidlichen Siedlungshäuser, die nicht nur von den Agrar-Banken wider besseres Wissen in hohem Maße kreditiert werden, allenfalls noch die Hälfte wert. Aber der Bauernsohn, der schon lange keiner mehr ist, muß nunmal (Häusle) bauen, (Buchs-)Bäumlein pflanzen, (Kindchen) zeugen. Das steckt nunmal in seinen verwabbelten Genen. Das alles ist leicht nachzulesen, man muß dann allerdings bereit sein, sich klugmachen zu wollen, bevor man schreibt; unsereins nennt das Recherche und ging dafür zu journalistischen Steinzeiten ins Archiv; teilweise wurde die Stadtflucht aus den genannten Gründen bereits öffentlich-rechtlich thematisiert. Fazit dieses Kommentars ist jedoch: die Flucht vom Land findet alleine der Energiepreise wegen statt. Und deshalb ist dieser taz-Text blasiert zu nennen, es ließe sich auch sagen: stümper-, na ja, lehrlingshaft. Denn Annette Jensen argumentiert alleine aus der energiepolitischen Gartenzwergperspektive. Überdies stellt sich ja wohl auch die Frage, was mit den Menschen geschieht, die beziehungsweise deren Familien seit Generationen, Jahrhunderten in den Dörfern angesiedelt sind. Aha, mag sich unsereiner bei einem solchen Text denken: die dummen Bauern sollen jetzt alle (wie in China) die Stadt ziehen. Am besten nach Bitterfeld oder ähnlich. Bloß nicht auch noch nach Berlin. Da sind ja wir schon, wir Altberliner aus Bargteheide, Bielefeld oder Untertürkheim. Und wir solchigen Berliner wollen dann nämlich endlich mal wieder durch die Natur, durch dann menschenleere Dörfer gondeln können, um ein paar von der weit draußen auf der letzten Warft hockenden Bio-Bäurin persönlich gelegten Eier einzukaufen. Selbstredend mit dem Fahrrad (auf dem Autodach), weil's so energieromantisch ist.
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