Der große (tote) Diktator Ich stimme Verts Apo-Legierung (Titangold: 99 Prozent Gold, ein Titan) quasi hundertprozentig zu. Erst vorgestern hat sich jemand in einer spätabendlichen ARD-Reportage die Mühe gemacht, in Naheinstellungen diese unglaubliche Furchenvielfalt des Gesichtsausdrucks dieses Mannes zu zeigen. Auch meines Erachtens war der eben alles andere als der tumbe Clown, als der er jetzt nahezu allumfassend dargestellt wird — vor allem in den Medien (vor 23.00 Uhr), in denen zudem kaum noch ein Wort darüber verloren wird, wie gerne die meisten sogenannten Spitzenpolitiker seinen Hofstaat gebildet haben. Als am bedeutsamsten empfinde ich es jedoch, wie lapidar in der christlich-jüdischen Blätter- und Fernsehwelt über eine offensichtliche Hinrichtung berichtet wird. Nach westlichem Demokratieverständnis, klärten mich einige Experten auf, wäre es besser gewesen, den Herrn vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Da dreht in meinem runden Kopf, dessen weise Form schließlich von meinem Urdesigner allein dafür geschaffen wurde, dem Gedanken die Richtungsänderung zu erleichtern, einiges durch, dürfen bei mir Assoziationen zum Holterdipolter-Verständnis von Charles Manson aufkommen, der es seinerzeit, nach der mißlungenen Taktik der Polizei von San Francisco, immerhin schaffte, die Presse nahezu einheitlich gegen die Hippies einzuschwören. Dabei liebte im Gegensatz zu diesem geborenen Gesetzesbrecher alle Welt (von einem Teil der arabischen vielleicht abgesehen) den großen Diktator doch fast mehr als den von Charlie Chaplin. Auch dem «bestangezogenen Diktator (der achtziger Jahre)» will ich nicht widersprechen. Dabei denke ich jedoch hauptsächlich an den Verzicht auf die sich wie H&M (die Nachfolger von C&A, in den Sechzigern und Siebzigern auch Clamotten-August genannt) virusähnlich verbreitende Billigheimer-(Sprach-)Mode, wie etwa in der erwähnten Reportage, in der diese wunderschönen Operettenkostüme als «Designer-Uniformen» bezeichnet wurden. Ich weiß, daß es nichts nützt, immer wieder darauf hinzuweisen, trotzdem muß ich als Motzer und Sprachnörgler weiternörgeln, da es schließlich nicht alleine um Applikationen, sondern um Wesentliches geht: Alles wird gestaltet, es sei denn, es handelt sich um die Trachten von Volkskämpfern, aber deren Tücher kommen zu großen Teilen aus den Waffenschmieden der westlichen Welt, die sich seit längerem wieder auf Kreuz- oder auch Kolonialisierungszügen befindet, das zutiefst kommunistische China hat sie längst erobert. Während der allenthalben von 99 Prozent der Kampf angesagt wird, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß letztlich einer von hundert den Sieg davonträgt, mit bedrucktem Papier wedelnd. Mode ist kuhler als die Liebe.
Nicht Ado-, sondern Oboleszenz lautet der kryptische, genauer lateinische Begriff für einen alles andere als jugendlichen Scherz, auf den unter anderem in meinem Blütensternengärtchen mal hingewiesen wurde. Das könnte auf jenen Publikumsanteil zielen, der sich zumindest in den Wunschvorstellungen von Strasbourg tummeln dürfte, verdeutlicht vielleicht über das eigenwerberische, zwischenreingespielte Filmchen, in dem frische, weiß gewandete, mich an eine wahrhaft komische Szene der Schweizermacher erinnernd, mit dem italienischen Kommunisten Francesco Grimolli alias Claudio Caramaschi, der so gerne schweizerisch-germanisch blond gewesen wäre wie die weichgezeichneten hochklassigen Heroen samt Gespielinnen zu Pferde, ungefähr so, vielleicht etwas blonder, wenn auch nicht ganz so arg teutonica, in dem junge Menschen, vermutlich allesamt mit Abitur versehen beziehungsweise mindestens mit einem Bachelor ausgezeichnet, wenn hier auch ohne «realitätsferne» Weichzeichnung, das Bild von Wald und Flur durchhüpfen oder -laufen, als ob Clementine samt männlichen Partnern einer Verjüngungskur unterzogen worden wären (und vielleicht von den Verbänden der plastischen Chirurgie schleichend beworben wird?), die bei mir immerzu die Assoziation fröhlicher, vorwärtsstrebender Spermien hervorruft. Ein hervorragendes Beispiel für diese auch mich gefangennehmende Programmatik ist das Magazin Global. Ich muß wohl vor mir selbst eingestehen, daß ich die Sendung vermutlich alleine wegen der entzückenden Emilie Aubry einschalte. Bei ihr, mit ihrem pariserischen Charme erlebe ich die Welt nachts um halb eins nicht wie die, die in Deutschland morgens um sieben gerade noch in Dortmund ist, sondern mit ihr schwebe ich in den lieux saints, den heiligen Orten des immer kritisch betrachteten Konsumrauschs. Es ist zwar schon eine Weile her, daß das geäußert habe, aber wie nicht anders zu erwarten war, hat sich daran nichts geändert, im Gegenteil, die fairen Ritter und Jungfern des Kaufrauschs haben sich vermehrt, nicht nur virtuell, also unter Nutzung sämtlicher EiPossibilities. Aber in dieser Glaubensgemeinschaft ruht mein Gewissen nunmal sanft in beinahe okzitanischer Liebeslyrik. Ach Emilie. Einfach wunderschön. Halt, ich muß meinen wonnehaften, am Thema vorbeifliegenden Schwebflügen durch die schöne Bourgoisie (da kann diese eine, das muß ich noch loswerden, die sie so gerne abbildlich repräsentieren würde, wahrlich nicht mithalten) Einhalt gebieten, es geht schließlich nicht um Ado-, sondern Oboleszenz. Sollbruchstelle hatte ich das vermutlich hier zum ersten Mal genannt, was selbstverständlich nicht korrekt war, hat die doch eine andere Funktion als die von mir erwähnte, in der es um das vermutete ganovenhafte Treiben der Elektroindustrie ging, nämlich die, wie mir einmal mehr Wikipedia erklärt: «Eine Sollbruchstelle ist ein durch konstruktive oder mechanische bzw. physikalische Maßnahmen oder Auslegungen vorgesehenes Konstruktionselement. Im Schadens- oder Überlastfall wird dieses Element gezielt und vorhersagbar versagen, um hierdurch den möglichen Schaden in einem Gesamtsystem klein zu halten oder eine besondere Funktion zu erreichen.» Schwachstellen muß es richtig heißen, genauer: um eine von der Ganovenindustrie «geplante Produktionsstrategie». Auch hier Wikipedia: «Beim Herstellprozess werden in das Produkt bewusst Schwachstellen eingebaut, Lösungen mit absehbarer Haltbarkeit oder Rohstoffe von schlechter Qualität eingesetzt. Das Produkt wird schnell schad- oder fehlerhaft, kann nicht mehr in vollem Umfang genutzt werden. Der Kunde will oder muss es ersetzen.» Das war bei meinem EiMäck G5 der Fall. Seit gestern bin ich sicher. Im Magazin Kontrovers des Bayerischen Fernsehens wurde unter anderem darauf hingewiesen, daß besonders in diesem elektronischen Apfel ein Wurm sein Unwesen treibt (Da ist der Wurm drin war der Titel einer Sendereihe im BR der früheren Hörfunkjahre, in denen noch nicht jeder beliebig glotzte, sondern öfter mal hinhörte). Auf gezielt schlechte, dadurch zur Schadhaftigkeit neigende Lötstellen war beispielsweise hingewiesen worden, ein ziemlich wütender Mensch (namens Hartmut ..., den ich leider nicht finde), der im Internet Reparaturtips geben soll, nannte gar einen Kondensator, dessen verbesserte Qualität lediglich ein paar Cent koste, aber vom Apfelzüchter, in meinen Worten, gemieden werde wie die Pest der Langlebigkeit eines Produkts. Als ob ich's geahnt hätte. Ich glaube, ich fange lieber an zu glauben, schaffe diesen ganzen Elektroschrott komplett ab, greife wieder zur Füllfeder und kleckse in die papierne Kladde. Ein nicht mehr gartelnder und deshalb auch nicht mit dem seit ein paar Tagen wieder unheilvoll durch die Medien geisternden, alles vernichtendem Gebräu namens Glyphosat handwerken müssender Stubenhocker hat schließlich Zeit, dem Unkraut (es gebe keine Unkosten, rief mein Steuerberater so lange aus, bis auch ich's begriffen hatte und meine Kostenbelege fortan nur noch Kraut nannte) von oben beim wachsen zuzuschauen. Ich gehe besser Mittagsheia machen, sonst fällt mir noch ein Unheil ein.
Muttersöhnchen Martin Da ich anderen ihre Schiffstagebücher nicht unentwegt vollkritzeln möchte, plaziere ich nach beinahiger Themenverfehlung meine ohnehin verspätete Antwort in die eigene Kladde. Zur Rezeption seiner Bücher, vor allem dem vorletzten (?), habe ich mich nach der Elegie schonmal geäußert; das sollte reichen. Doch ich will ohnehin zunächst einmal die Gelegenheit für eine Retourkutsche nicht ungenutzt lassen, ein bißchen was aufzuwärmen, vor allem, nachdem ich dieser Tage mal wieder dem litarischen Quartett gelauscht und zugeschaut habe: Auch oder gerade der «Heim-ins-Reich-Ranitzky», wie Udo Steinke ihn mal nannte, mit seinen nicht weniger mehr oder minder zwischen Buchdeckeln versammelten Postghettodünkeln («Bäckersohn»; der Metzgersohn Franz-Josef Strauß: Haben Sie überhaupt Abitur?), mit seinen von kaum jemandem ernsthaft gebremsten oder auch zu stoppenden Vorliebereien zu einer seinerzeit noch recht jungen, aber geistig bereits seit langem verbeamteten Lyrikerin, deren egotherapeutischen Ergüsse (für mich) mindestens so langweilig zu lesen waren (es gab eine Zeit, da mußte ich das tun) wie andere sich von Walsers Spermaprosa anjejackert fühlten: «Hat Goethe es verdient», fragt Laura, «daß man ihm so etwas an den faltigen Hals dichtet: ‹Aber da zwischen den weich und nachgiebig werden wollenden Lenden, sein Geschlechtsteil, das ein Leben lang den Ehrgeiz hatte, das Ganze zu sein. […] Er sollte nur noch wünschen und tun, was dieses Teil wollte.› Warum meint ein alter Mann, er könne sich prima in Goethe hineinversetzen, seine Gedanken denken, seine Ideen, seine Sprache nachformulieren? Soll Herr Walser doch ein Buch über seine eigene Altersgeilheit schreiben!»Dieser Kritikerfürst oder -papst oder -könig mit seinen um ihn gereihten Hofschranzen, allen voran diese bereits als Adoleszenter zum Herrenwitz tendierende, Jungfleischeslust gewordene Humorlosigkeit, dieser unaufhaltsam Eitelkeiten ausspuckende Zeremonienmeister des Guten, Wahren und, meinetwegen, Schönen — ich weiß nicht so recht. Ich habe meine Gedanken nochmal ein paar Runden durch meine Hirnschale drehen lassen: Warum soll ein altgewordener Mensch nicht lieben und übers Jenseits schreiben, weshalb soll er sich nicht, offenbar scheint das ohnehin in der Natur vieler Menschen zu liegen, über Glaubensfragen, über eine gegebenenfalls damit verbundene Theologie der Hoffnungslosigkeit Gedanken machen und die festhalten? Allein die Tatsache, ein berühmter Schriftsteller zu sein, zwingt ihn ja nachgerade dazu. Zum einen wäre da die Frage, ob er ausreichend geklebt hat, und zum anderen wäre eine Verlagsleitung betriebswirtschaftlich schlecht beraten, einen bekannten Namen nicht zur Mischkalkulation zu nutzen. Mich interessiert das nicht sonderlich, hinzu kommt. daß in meiner Gedankenwelt sprituelle Bedürfnisse und aufgeklärte Menschen ohnehin Widerparts sind. Aber ich, der ich alles andere werden wollte als ein Muttersohn und es auch nicht wurde, nicht zuletzt, weil die Mutter dem Sohn ausreichend Gründe dafür lieferte, es nicht zu werden, kann mir durchaus vorstellen, daß ein lebenserfahrener Mann zu diesen Themata etwas umfassender beizutragen vermag als ein jungenhafter Pirat. Ich habe Walser eine Zeitlang recht gerne gelesen. Aber alt bin ich jetzt selber, und das bißchen, das ich lese, kann ich mir mittlerweile selber in mein Erfahrungsbüchlein schreiben. So alt, daß ich mich wundere, wieviele junge Menschen sich trotz massenhafter Kirchenaustritte zusehends mehr für Spirituelles (und Predigten?) interessieren, obwohl Habermas mir spätestens seit den Achtzigern deutlich gemacht hat, die Moderne sei unvollendet; und damit bleiben die Fragen nach ihrer Bedeutung. Doch auch der ebenfalls im Ruhestand schaukelnde Sozialphilosophen-Papst schien bereits 2007 derart das Ende auf sich zukommen sehen, daß er in der Welt-Betrachtung kurz davor war, um einen atheistischen Rosenkranz zu bitten. Von wegen «postsäkulare Gesellschaft». Doch glücklicherweise habe ich gerade noch ein Rudiment wahrgenommen: «Ist die Renaissance der Religion eine Herausforderung für das säkulare Selbstverständnis der Moderne?» Trotzdem mag ich seither auch Habermas nicht mehr lesen, jedenfalls nicht diesen nach einem neuen (Gegen-)Theismus klingenden. Ich scheine anders zu altern als andere. Manche nennen das gerne Altersstarrsinn. Es ließe sich jedoch auch als Haltung bezeichnen. Weshalb sollte ich mir den Rücken krummdenken lassen von Antworten derer, denen die geistige Osteoporose angesichts des herannahenden Endes das Gehirn brüchig gemacht hat, deren späte Fragen nach dieser Art von Sein mir obendrein vor längerer Zeit bereits beantwortet wurden. Aber vielleicht liegt's auch an der möglicherweise kurzsichtigen Sicht, die mir ein Spezialist vermittelt hat mit seiner nachgerade enttäuscht klingenden Erkenntnis, ich hätte die Gebeine eines Fünfundzwanzigjährigen. Dabei bin ich voller Hoffnung, nicht ständig hoffen zu müssen oder Trost zu suchen oder gar zu spenden wie Martin Walser, jedenfalls nicht so alt zu werden wie er oder Habermas. Ich habe ohnehin den Eindruck, daß die meisten das Immer-Älterwerden verwirrt. Manch einer kommt dabei auf Gedanken wie etwa das Bergsteigen, Drachenfliegen oder Gummiseilhüpfen mit neunzig oder vielleicht bald mit hundert. Andererseits gibt es in dieser Altersgruppe noch solche wie Heiner Geißler, die immerhin attac beitreten. Nun könnte ich also an Hoffnung denken. Aber ich bin eher hoffungslos wie die von mir bevorzugten Romantiker. Nach den strengen wissenschaftlichen Kriterien eines bekannten Volkskundlers und Genforschers ist das vermutlich erbmassig bedingt: Nicht nur mein Vater wurde steinalt. Jedenfalls nannte man das Mitte der Sechziger so, als ich zwanzig geworden war und er neunzig.
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