Hoch auf dem Grünen Hügel

Von der Salzburgisierung der Kunstvermittlung am Beispiel Beuys

Angesichts der Hilflosigkeit, die sich allenthalben in unserem Medienpluralismus (oder auch: innerhalb unseres populistischen Geraunes) breit macht, ließe sich sagen: Die nach Breitenwirkung schielende Kunstkritik läuft immer mehr Gefahr, sich von sich selbst zu entfernen, sich mit dem Bauch zu äußern; anders gesagt, sich ihrer eigentlichen Bedeutung zu entledigen: der Beurteilung. Die Kunstkritik beurteilt immer weniger, ergeht sich entweder immer häufiger in mehr oder minder wohlmeinender Beschreibung unter Zuhilfenahme von sprachlichen Allgemeinplätzen, wobei allzu oft die Journalistenpoesie kreist und ein Lüftlein gebiert. Auf der anderen Seite, der der informierteren, aber deshalb noch lange nicht wissenenden Minderheit, durchschleicht sie ihr Opfer in qualvoll schwadronierenden Be- und Umschreibungen, mit denen die Autorinnen und Autoren oftmals eher ihr akademisches Dasein zu belegen trachten, dabei allzu häufig der Faden der Ariadne aus Gummi zu sein scheint, zieht er sich doch schier endlos durch das ‹Labyrinthische› eines Kunstwerkes, weil den Urhebern darob die Orientierung abhanden zu kommen droht.

Positionen werden in der öffentlichen oder auch offiziellen Kunstkritik — also nicht in den Weblogs, die ohnehin meist von persönlicher, auch extrem subjektiver Natur geprägt sind — nur noch selten bezogen, fundierte Stellungnahmen kaum mehr geäußert. Der Platz des Allgemeinen, auf dem die Mehrheit sich wohlig aneinander kuschelt, bietet eben Sicherheit; immer mehr warten lieber ab, was andere dazu festgehalten haben. Die Aufgabe der Kunstkritik, nämlich die, das Kunstwerk in dessen Kontext zu erfassen, zu beurteilen und vermittelnd erläuternde Informationen zu einer Hörer- oder Leserschaft zu transportieren, scheint einem Phänomen geopfert zu werden.

Es ist ein Phänomen, in dem — es scheint mir erheiternd, gerade in der Zeit der Versuche, jedweden Ansatz marxistischer Theologie in den Orkus der offensichtlich endgültig verblichenen Moderne, was auch immer das sein mag, stoßen zu wollen, diesen Namen zu nennen: Herbert (nicht Ludwig) Marcuse. Dessen Bewertung der bürgerlichen Kultur scheint in exorbitanter Weise auf: nämlich als eine affirmative, die Lebenswelt ästhetisierende. Gerade wird wohl im Zusammenhang mit der mittlerweile alles beherrschenden oder in ihrer Einfallslosigkeit alles Alte wiederbelebenden Mode, also der Markt, die Diskussion der siebziger Jahre um den Ich-Bezug, die Ich-Suche, vor dreißig Jahren auch Ich-Seuche genannt, wieder hochgefahren. Man möchte meinen, die Avantgarde wäre zugange. Die Halbwertzeit des Wissens ist zur Führung des Volkes auserkoren worden. Die Rezeption der Kunst schlägt quer durch weite Teile der gesellschaftlichen, heutzutage sich gerne selbst als gebildet bezeichnende Mittelschicht bisweilen abenteuerliche Kapriolen in ihren ästhetizistischen Äußerungen, die das Kunstwerk aus seinem Umfeld, aus seiner Ursache herauslösen und daraus eine anbetungswürdige Reliquie machen, obwohl sie, die Bewunderer der Religion als solcher längst abgeschworen haben, aber so ganz ohne Gebet und Heiligsprechung dann doch nicht leben können. Damit wären wir, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, schließlich doch dort angelangt, was einst die, vielleicht gar nicht so böswilligen, Auguren als antiaufklärerisches Schreckensbild gemalt hatten: daß die Künste, insbesondere die bildende Kunst samt der wiederbelebten genialischen Umgebung in ihrer partiellen Eigenschaft als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben würden.

Wesentlich dazu beigetragen haben der Der Makler und der Bohémien, um eine der bekannt ironischen Formulierungen von Hans Platschek aus den siebziger Jahren heranzuziehen. Platschek war alles andere als ein Freund des Schaffens von Joseph Beuys. Dessen konzeptionelles, aus Urinstinkten herrührendes Denken war ihm ein Greuel. Wir waren darin uneins, denn ich sah die Kunst immer im gesamtkulturellen, also auch historischen Zusammenhang, den ich mit Beuys teilweise hergestellt sah, für mich war (und ist) er ein Synonym deutscher Kunst, wenn auch aufgerieben vom allfälligen Globalisierungsgetriebe. Für Platschek hatte die Autonomie des jeweiligen Kunstwerkes Vorrang, wobei er eine interdisziplinäre Betrachtungsweise durchaus zuließ. Die Wertung des einzelnen Bildes mag hier unbeachtet bleiben, zumal die beuyssche Kunst- und damit Kulturprojektion längst auf den Kopf gestellt wurde und in dieser verkehrten Form dazu beigetragen hat, das Gesamte zurückzudrängen zugunsten der Solitäre. Ich meine Platschek allerdings so gut gekannt zu haben, daß er sich heutzutage, über zehn Jahre nach seinem Tod, vor Beuys stellen würde, um ihn vor jenen Freunden zu schützen, die aus ihm ein Denkmal prosperierender Kunst gemacht haben, ihn quasi auf dem Grünen Hügel von Salzburg geschleift haben.

Auf Joseph Beuys komme ich beispielhaft zurück, auf dieses Beispiel aus der bereits Geschichte gewordenen künstlerischen Zeitgenossenschaft, an deren Umkehrung die Kunstkritik oder deren Rudiment ein gerüttel' Maß Anteil hat, weil sie sich überwiegend der Mode angepaßt hat und Wertungen vornimmt, vor denen seit den Sechzigern und bis hinein in die Siebtiger, aber auch noch in den Achtzigern gewarnt worden war: Die Wa(h)re Kunst. Beuys führt zwar nicht die Preisliste an, das ist Gerhard Richter; der im übrigen glaubhaft über diese Entwicklung den Kopf schüttelt, gestaltet schließlich er nicht die Preise, sondern der Markt. Aber Beuys' Zeichnungen, die er vor und in den Anfängen seiner Lehrtätigkeit an der Düsseldorfer Kunstakademie ins Volk warf wie Kamelle im Dauerkarneval oder teilweise, jedenfalls die kleineren, für fünf Mark verkaufte, weil Kunst eben nicht teuer sein sollte, wechseln heutzutage kaum unter zwanzigtausend Euro die Besitzer. Beuys steht nach wie vor als Syonym für die bildende Kunst der Aufklärung: für alle. Wer beginnt, sich für sie zu interessieren, aus welchen Gründen auch immer, sei es, daß die Schöne Kunst ihn gestreift hat wie eines Frauenkleides Saum oder meint, mit ihm in ein neues Wirtschaftswunder einsteigen zu können, der wird von diesem einstigen, ursprünglichen Erneuerer nicht unberührt bleiben. Selbst gänzlich Unbeteiligten ist sein Name schon einmal irgendwie untergekommen, und sei es verbunden mit der Frage Und das soll Kunst sein? Wahrscheinlicher ist jedoch der Kontakt zu ihm über die volksbildenden Halbsätze: Jeder Mensch ist ein Künstler, Wer nicht denken will, fliegt raus. Man konnte sagen und schreiben, schreiben und sagen, was man wollte: diese sinnentstellende Zitierei war nicht auszumerzen. Sie war, trotz häufiger Ablehnung jugendlicher Definitionen, auch unter sogenannten Erwachsenen, besonders gerne unter pädagogisch fortschrittlich orientierten, die auch für die «Vereinfachung» von Sprache mitverantwortlich zeichnen dürften, Kult geworden. Doch das ist nicht weiter verwunderlich, waren sie als Sprüche-Kultur doch längst durch Kunstpostkartendruck geweiht und in den Museums-Shops verkauft worden. Es ging zunehmend um den Charakter der Vermarktung, Inhalte kamen unter die Räder von Slogans, die Schlachtrufe der Produktwerbung, die seit den Neunzigern geradezu ungeheuerliche Ausmaße annahm. Zwangsläufig kamen sie auch im Internet weltweit in Umlauf. In den siebziger bis weit in die achtziger Jahre witzelten wir, immer ein Massenblatt im Visier, das mittlerweile offensichtlich auch in höchsten Geisteswelten als kulturell meinungsbildend geschätzt wird: Millionen von Fliegen können nicht irren.

Bereits am Tag des Todes von Beuys habe ich als öffentlich-rechtlicher Nachrufer, zu Zeiten, als ich «Kulturbeutel», wie mich der Redaktionsleiter des aktuellen tagespolitischen Magazins gerne nannte, wenn er mal wieder wütend geworden war, weil ich auf die mir vertraglich zugesagte Sendezeit bestand, in einer Zeit also, in der die ausführlich erklärte Kunst noch in die Nacht verinsuliert war und Namen von Privatgalerien tabuisiert waren wie der Begriff Prostitution oder das Wort Scheiße, seit je also habe ich begonnen, darauf hinzuweisen, was er nie gemeint hatte: Jeder Mensch sei Maler oder Bildhauer et cetera, sondern immer: Jeder Mensch habe kreative Fähigkeiten, die er innerhalb der Gesamtheit des Lebens einbringen könne beziehungsweise solle. Und dieses Wer nicht denken will, fliegt raus, das von manch einem immerhin noch, wissend oder ahnend, vor allem auf seinerzeit den Verkaufserfolg versprechenden ‹Kunst›-Postkarten, mit ahnungsvollen Auslassungspünktchen ... versehen wurde, bezog sich schlicht auf einen Studenten, der nicht begriffen hatte, was Beuys meinte, als er sich schlicht in Rage geredet hatte: Jeder Mensch ist ein Künstler, aber du bist keiner. In anderen Worten: Jeder mag etwas von Kunst verstehen, aber du siehst sie erst gar nicht. Das hat seine Ursache mit Sicherheit darin, daß Kunst, siehe oben, als mythisches, mystisches oder einfach rätselhaftes Chiffre, auf die Ebene der Ersatzreligion gehoben wird, in der die Aufklärung als Widerpart der Romantik dasteht, von der heutzutage allerdings nur noch das klägliche Überbleibsel geblieben ist, das in Dinner at candlelight oder Valentinstag aufgeht. Beuys hingegen, das weiß mangels ästhetischer Schulung kaum jemand, war einer der kämpferischen Romantiker, die es durchaus mit den anderen weltgeistig illuminierten Größen aufnehmen konnten.

Hier tut sich unter anderem auch das Dilemma auf: das ganz offensichtlich zunehmende Spezialisiertwerden bereits durch die curricularen Systeme aber auch aufgrund des enormen Zeitdrucks, der nicht zuletzt durch die wirtschaftsfreundliche Nachplapperei, den Aktualitätenwahn der Medien entsteht. Das meint auch den Konkurrenzdruck der Journalisten, die auch aus beruflichen Nöten aus allen erdenklichen Bereichen zur Kunst stoßen oder dorthin gesandt werden, weil es sich ohnehin nur noch um einen Event handelt. Die Berichterstattung läßt sich sich vor den Karren der eigenen Hilflosigkeit spannen und bedient sich der vorformulierten Sprache des Hofes. Die eigene ist ihr genommen worden. Die Kunstvermittlung hat aber als erfahrene Erkunderin sich vor die vorderste Reihe zu begeben und dort die Feder, die in der ruhigen Nachbetrachtung gewetzt zu sein hat, zu schwingen; das will heißen: aus der Gesamtsumme der Informationen Herausgefiltertes, in die Wesentlichkeit der Aussage Gebrachtes in die hinteren Reihen zu transportieren. Die Kritik hat also als Vermittlerin integrierter Bestandteil der künstlerischen Avantgarde zu sein und nicht — die Zeiten haben sich nun mal geändert — wie weiland im 19. Jahrhundert Katalysator einer sich gebildet gerierenden Gesellschaftsschicht, die damit rechnet, daß sich auf Dauer die Seele als Organ des Kunstverstandes in einem geheimnisvollen Prozeß und trotz aller Irrungen durchsetzt.

Irrungen oder das Gegenteil von Avantgarde: Für viele sehr weit hinten, also arrière-garde, in der Nachhut, um im Militärischen zu bleiben, aber für mich eben nicht so lange zurück liegt das Beispiel, das heute noch Gültigkeit haben darf, weil es (auch) die Fehleinschätzung des in den falschen Film geschickten Experten belegt: die Debatte um den Ankauf der beuysschen Arbeit zeige deine Wunde durch die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus. «Nicht das Gebastelte», schrieb der nicht nur in München angesehene Theater- und (ergo) Kulturkritiker Armin Eichholz, «ist das Ärgernis [...], sondern der schmuddelig investierte Intellekt.» Eichholz hätte es damals, 1980, lieber gesehen, «der Beuys-Rummel wäre eine grandios aufgezogene Satire von Pardon, und das ganze endete nicht, wie freilich zu erwarten, in einem neuen Kapitel vom Wesen der deutschen Kunst, sondern einem Weltgelächter für den bisher erfolgreichsten Narren des Kunstjahrmarktes».

Einmal davon abgesehen, daß Armin Eichholz als führwahr gebildeter Kunst- oder auch Kulturkritiker die Rolle des Narren bei Hofe — möglicherweise rhetorisch-manipulativ — nicht näher erläutern wollte: Zu einem Weltgelächter wurde Beuys nie, erfolgreich indessen sehr wohl, jedoch nicht als Narr eines Jahrmarktes, sondern, zu Lebzeiten, als Künstler, der, ebenfalls zu Lebzeiten, auch auf dem Markt erfolgreich war, obwohl er in seinen Intentionen damit alles andere als etwas am Hut hatte.

Beuys hat selbst, wie oben erwähnt, immer versucht, die Preise für seine Arbeiten so niedrig zu halten, daß sie, im Kontext seines anderen Kunstbegriffes, für jeden erschwinglich waren. Genaue Beobachter des sich ankündigenden Marktes haben, als Eigentümer oder auch als Besitzer Beuysscher Arbeiten diese wohlweislich markttypisch verknappend zurückgehalten. Einer meiner Bekannten verfügte gar über ein großes Paket mit Zeichnungen. Aber ihm war an ihnen, nicht am Marktwert gelegen; über zwei Jahrzehnte hatte er sie leidenschaftlich gesammelt und gebündelt. Heute allerdings erfährt beispielsweise das Multiple als einstmals verklärender Träger des ursprünglich demokratrischen Gedankens vom vielfach zu verbreitenden Kunstwerks eine neuerliche, diesmal jedoch alleine vom Monetären geprägte Renaissance. Für fünfundvierzig, es mögen auch fünfzig Mark gewesen sein, aber nicht teurer, wollte Beuys eine im Remscheider VICE-Verlag angebotene multiplizierte Arbeit verkaufen, was in einer Auflage von 12.000 Exemplaren auch geschah. Kurz nach seinem Tod ging dieses Holzkästchen auf einer einen unvergleichlichen (Jahr-)Markt ankündigenden Auktion für über 70.000 Mark über den Tresen; heute wird die Intuitionsbox für einen «Preis auf Anfrage» immer noch und immerhin für tausend Euro und mehr verkauft. Auf jeden Fall hatte der Markt den Avantgardisten gefressen. Damit hatte sich auch eine Entwicklung abgezeichnet, die die Ausstellungspolitik der Museen verändern sollte. Waren die Museen zuvor darauf konzentriert, was in der Natur ihrer Konstruktion liegt, konservativ (im Sinne von conservare, also: bewahren) zu agieren, hielt zusehends die zeitgenössische Kunst Einzug in den Musentempel. Die Ankäufe durch die Museen im Bereich der Gegenwartskunst irritierten kaum mehr (mittlerweile auch nicht mehr die Verkäufe); wenn nicht ein Groß-Händler ohnehin den «Vorzug» bekam oder solch ein gutes Stück beim Auktionator über den Tresen ging, getrieben von einem telephonischen Preisflüsterer, der sich oft genug als Aktienhändler erwies. Das mag auch an den immer kürzer werdenden Intervallen liegen, innerhalb denen die Be-, manchmal auch Aufarbeitung der Moderne, weiters Postmoderne ff. oder auch, analog dieser Entwicklung, der neuerlichen Götzenanbetung Post-Postmoderne geschieht: Halbwertzeit des Wissens.

Der Museumsbedienstete namens Konservator heißt zwar immer noch so, doch seine Tätigkeit als Wissenschaftler gerät seit den Achtzigern zusehends ins Hintertreffen, nicht zuletzt angesichts der eben frisch von der Kunstakademie oder von sonsther Gekommenen, die endlich ihre Retrospektive haben möchten. War die Kunstkritik zuvor, im Hinblick dessen, was in Kunstvereinen, später in Kunsthallen ausgestellt wurde, Projektion zukünftiger Museums-Inhalte, hatte sie sich dann, jetzt als Bremser zu betätigen, da ihr die Urteilskraft abhanden gekommen war. Ich habe dabei keine Erhaltung des Hierarchischen zum Ziel. Mir ist lediglich die einstmals bedächtige Entwicklung verloren gegangen. Zu viele junge, besser: noch nicht bekannte Künstler versuchen, Stationen schlicht zu überspringen. Manch einer wird dabei von Kunstverkäufern zum König ausgerufen. Dieser Atemnot Tribut zollend geht die Kunstkritik, eine weitere Folge, nicht mehr ins Atelier (viele behaupteten voller Stolz, sie seien nie dort gewesen), sondern in die Galerie; wo sie das eine ums andere Mal die Konservatorin trifft, die sich gerade hat von der Galeristin erzählen lassen, wohin de Zoch jeht.

Galerien gibt es seit den neunziger Jahren bald mehr Boutiquen in den Siebzigern. Der Preis für eine künstlerische Arbeit eines jüngeren Künstlers wird seit langem kaum noch von ihm selbst bestimmt. Den übernimmt die Galerie. So der Künstler denn eine findet, die sich seiner annimmt. Meistens lautet die Absage: Paßt leider nicht in unser Programm. Das Programmatische an diesem Programm der Nachfolgerinnen der Boutiquen ist jedoch allzu oft das rein Markttaugliche. Und markttauglich ist nunmal das Massentaugliche. Davon abgesehen, daß die sogenannten Kleinen da ohnehin nicht hinreichen, aber häufig gerne so tun, als ob sie's täten, weshalb sie sich an der Dogmen der Päpsten der Religion Markt orientieren. Wie der Journalismus eben, der ohnehin zum verlängerten Arm der Öffentlichkeitsarbeit von Anzeigenkunden degeneriert zu sein scheint. Wer für bunte Blätter schreibt, der darf sich auch für fähig halten, ins Interview mit dem größten, weil teuersten aller zeitgenössischen Künstler zu gehen, es wird ohnehin nur noch als Event wahrgenommen. Da verwundert es nicht weiter, daß es nicht mehr zu fundamentalen Aussagen, sondern fast nur noch zu allgemeinplatzigen, zu jedermans Schönschreibereien kommt. Der einst tiefschürfende oder auch vielsagende Jedermann ist zum Musical verkommen, zur Schmierenkomödie, zum sogenannten Volkstheater.
 
Di, 21.02.2012 |  link | (2043) | 8 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Artiges



 

Der Mensch ist des Menschen Wulff

Oh weh. Aber das mußte sein. Ich führe es auf meinen Zustand zurück. Trotz aller Schlaffheit raffe ich mich angesichts der laufenden Ereignisse zu dem Gedankengang hin: Was wäre gewesen, wäre das Faß nicht übergelaufen?

Es wäre beim alten geblieben. Bei genauer Ausleuchtung sehe ich, er wäre nach wie vor der weniger rechte, aber richtige Präsident der Deutschen, exakt in der Waage zwischen Recht und Unrecht. Ich gehe davon aus, daß seine Lebenspraxis die «seines» Volkes in entsprechender Befürwortung spiegelt. Es verschafft sich Vorteile, wo es nur geht, die Nachteile mögen die anderen haben, die sich dagegen nicht wehren können. Die Haltung gegenüber der «Faulheit» Anderslebender ist exemplarisch. Die sich scheibchenweise distanzierenden Politikerkollegen sprechen die gleiche Sprache. Auf einmal herrscht, wie es soeben bei Phoenix hießt, «sprachloses Entsetzen».

Menschen anderer Länder wird vorgeworfen, was im eigenen Land unter den Teppich gekehrt wird.

Es regt mich fürchterlich auf, wie alle so tun, als ob das nicht längst der Normalzustand wäre.
 
Fr, 17.02.2012 |  link | (3154) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 

Paritätisch coram publico

Was heutzutage via Chat, Elite-Partner et cetera pp. das Leben abenteuerlich gestaltet, waren früher Bekanntschaftanzeigen in den sogenannten seriösen Zeitungen. Auch ich beteiligte mich hin und wieder an diesem schönen Gesellschaftsspiel, in dem es meistens in der letzten Zeile der Selbstanpreisung hieß: Aus paritätischen Gründen Akademiker bevorzugt. Das war wohl der Anlaß, sich auf dem Markt der lateinischen Sprache, zumindest jedoch sprachlicher Mittel der philosophischen Antike zu bemühen. Da ich mich des öfteren nicht des Eindrucks erwehren konnte, die Paritätikerinnen kämen sprachlich bisweilen etwas orientierungslos von der Ziellinie ab, gab ich einen kleinen Nachilfe-Leidfaden heraus, den ich von Zeit zu Zeit verschickte; schließlich konnte man seinerzeit noch nicht eben mal bei Wikipedia nachschlagen. Heute kam er, nach weit über zehn Jahren, quasi als verspäteter Boomerang zurück, aus dem Archiv einer Dame, die beim Surfen auf den globalen Highways auf mich gestoßen war. Auch wenn eine Weiterführung nicht notwendig sein dürfte angesichts der voll informierten Gesellschaft, so will ich doch selbst belustigt über meine früheren abseitigen Beschäftigungen das Publico (auszugsweise) partizipieren lassen.

Werte Holly Golightly1,
ich habe, als Student der Bekanntschaftsanzeigen im 111. Semester, mein gerüttelt Maß an Leid und Mit-Leid gebündelt — für den Fall, daß Sie Ihren Fred nicht umgehend finden und nochmals coram publico Ihre Zugehörigkeit zu den sportlich-gebildeten Ständen demonstrieren müssen: ein paar Beispiele weiterer Entrées:

Ab Iove principium
Bei Jupiter ist der Anfang. Jupiter (Zeus) ist der römische Göttervater, «von ihm hat alles seinen Ursprung». Die Redewendung geht zurück auf Vergil bzw. auf den Anfang der Phänomena des Aratus in der Übersetzung des Germanicus, wo es heißt: «Von Jupiter anfangend, singet ihr Musen ...» (Vers 1)
Abusus non tollit usum
Mißbrauch hebt den Brauch nicht auf.
Ad arma
Zu den Waffen – gebräuchlich im Sinne von: ans Werk oder: Gehen wir (an eine Sache heran). Ad arma wurde schließlich zu ‹Alarm›.
Aequalis aequalem delectat
Der Gleiche macht dem Gleichen Freude. «Ähnlichkeit», schreibt Erasmus von Rotterdam, «ist die Mutter des Wohlwollens und die Stifterin von Beziehung und Freundschaft.» — Es kommen Junge zu Jungen, Alte zu Alten, Bayern zu Opel, Gebildete zu Lateinern et vice versa, Reiche zu Huren zu Luden, zeitgenössische Künstler oder Schriftsteller zu feingezwirnten Damen mit kleinem Latinum und großem Herzen. Aristoteles hat dies in seiner Nikomachischen Ethik so gesehen Semper similem ... Semper graculus ... Doch ebenso weist er, wie andere seiner antiken Kollegen, darauf hin: «Es ist klar, wen man beneidet; jedenfalls nicht diejenigen, die vor zehntausend Jahren gelebt haben oder in zehntausend Jahren leben werden [...]; nein, wir beneiden diejenigen, die uns von der Zeit, vom Ort, vom Alter, vom Ansehen und von der Abstammung her nahestehen.» Das Ergebnis ist unter Künstlern, herausragend in Köln, bisweilen theatralisch zu erfahren.
Aut Caesar aut nihil
Entweder Caesar oder nichts — im Sinne von: alles oder nichts. Wahlspruch des Cesare Borgia.
Canis a non canendo
Der Hund (wird Hund genannt), weil er nicht singt (vom Nicht-Singen). Ein spöttischer Ausdruck, der bei Varro in einem Werk über die lateinische Sprache aufscheint: Lucus a non lucendo.
Captatio benevolentiae
Haschen nach Gunst. Trachten nach Wohlwollen Höhergestellter; Gunstwerbung. Der Ausdruck wird Boethius zugeschrieben. Er war Minister Theoderichs des Großen, sein Hauptwerk führt den Titel Tröstung der Philosophie.
Cucullus non facit monachum
Die Kutte macht nicht den Mönch — Äußerlichkeiten haben mit dem Wesen nichts zu tun; in gewissem Sinne das Gegenteil des Sprichworts: Kleider machen Leute
De gustibus non est disputandum
Über Dinge des Geschmacks läßt sich nicht streiten.
Difficile est satiram non scribereEs ist schwer, eine Satire (darüber) nicht zu schreiben — bezieht sich auf Situationen oder Begebenheiten so grotesker Art, daß der Spott des Beobachters herausgefordert wird. Der Ausspruch geht zurück auf Juvenal.
Est modus in rebus, sunt certi denique fines
Es ist ein Maß in den Dingen, es gibt schließlich bestimmte Grenzen. Zitat aus den Satiren des Horaz.
Evitata Charybdi in Scyllam incidi
Ich bin der Charybdis ausgewichen und dafür in die Fänge der Skylla geraten — in (bekannter) Kurzform: Zwischen Skylla und Charybdis. Der Sinn des Wortes: Während man dem größeren Übel zu entgehen trachtete, geriet man ins andere. Homer ist es, der in seiner Odyssee erzählt, wie Odysseus aus Angst vor der Charybdis näher bei der Skylla vorüberfuhr und dabei sechs seiner Gefährten einbüßte. In seiner Aeneis schildert Vergil: «Diese Gegend soll einst, als beide Länder noch zusammenhingen, durch einen gewaltigen, verheerenden Einsturz auseinandergebrochen sein [...], riß mit seinen Wassermassen die italienische Seite von der sizilischen und durchspülte in brandender Enge die nun getrennten Fluren und Siedlungen. Das rechte Ufer hält die Skylla besetzt. Das linke die unbarmherzige Charybdis.» Skylla: «[...] die schrecklich bellende [...]. Zwölf Füße hat sie [...] und sechs Hälse [...] und auf jedem ein greuliches Haupt, und darinnen eine Reihe Zähne [...]» Charybdis: «[...] schlürft die göttliche Charybdis das schwarze Wasser ein. Denn dreimal sendet sie es empor am Tage, und dreimal schlürft sie es ein, gewaltig: mögest du nicht gerade dort sein, wenn sie einschlürft!» Also, sagt uns vergilsche Moral: Lieber Hab und Gut, jedoch nicht den Kopf verlieren; aber auch: äußerste Vorsicht walten lassen — sich also nicht so herumtreiben wie dieser Odysseus und sich demnach besser nicht zwischen beiden begeben. Doch ein weiteres führt Erasmus von Rotterdam an (womit wir beim Thema Errata wären): «Du hattest Angst, deine Bildung könnte zu wenig zur Geltung kommen, und hast dir dafür den Ruf eingehandelt, ein eingebildeter Protz zu sein. Das stimmt genau mit der verkehrten Fassung unseres Sprichwortes überein: Du bist der Skylla ausgewichen und dafür in die Charybdis geraten.»
Ex ungue leonem
An der Klaue (erkennt man) den Löwen — etwa gleichbedeutend mit dem ins Heitere übertragenen deutschen Sprichwort: Am Ringelschwanz erkennt man doch das Schwein. Der Gedanke, nämlich vom Teil aufs Ganze zu schließen, findet sich bei Plutarch.
Fide, sed, cui, vide!
Traue, aber achte darauf, wem! — analog dem deutschen: Trau, schau, wem!
Gutta cavat lapidem
Der Tropfen höhlt den Stein — eine Sentenz nach Ovid, aus dem Steter Tropfen höhlt den Stein wurde.
Hora ruit
Die Stunde eilt — ein Sinnspruch über die Flüchtigkeit der Zeit, der auf den niederländischen Rechtsgelehrten und Staatsmann Hugo Grotius de Groot, 1583 – 1645) zurückgeht.
Horror vacui
Grauen vor dem Leeren. Einer uralten Vorstellung nach besteht eine natürliche Abneigung, ein Grauen vor dem luftleeren Raum. Das Wort wird auch verwendet in der Bedeutung: Angst vor dem Nichts.
In acie novaculae
Auf des Messers Schneide — Nestor sagt im 10. Buch von Homers Ilias: «Denn jetzt steht es fürwahr auf der Schärfe des Messers, ob alle Danaer schmählich verderben sollen oder noch leben.» In Sophokles Antigone liest es sich so: «Bedenke, daß du wieder auf der Schneide des Schicksals stehst!» Und im Epigramm eines unbekannten Dichters läßt dieser Helena zu Menelaos und Paris sagen: «Speergewaltige Fürsten von Europa und Asien, für euch beide steht es auf der Schneide des Messers, wer mich Unglückliche zur Gattin gewinne.»
Mens sana in corpore sano
In einem gesunden Körper (wohnt) ein gesunder Geist, eine gesunde Seele. In der sogenannten Neuzeit, verstärkt seit Einführung der sportiven Autofolter interpretiert man diese Anrufung dahingehend, daß einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist entsprechen müsse (wobei letzterer infrage zu stellen ist). In der Antike wurde darunter jedoch eine Anrufung der Götter verstanden, sie mögen einem Kind sowohl einen gesunden Körper als auch eine gesunde, das heißt tapfere Gesinnung schenken; Sentenz nach Juvenal.

Nec aspera terrent
Auch Widerwärtigkeiten schrecken nicht.
Nosce te ipsum
Erkenne dich selbst.


Sollten Sie weitere Hilfe benötigen — meine Datei ist schier unerschöpflich. Denn: Homo sum, humani nihil a me alienum puto.

Viel Glück bei der Suche.


Nachtrag am 19. Februar 2012:
Auslöser für das oben angedeutete Vademecum (vielen wohl allenfalls als Mundwasser bekannt), das hat weiteres Stöbern in den digitalisierten Altakten ergeben, war folgende Anzeige in einer der «großen deutschen» Zeitungen.

Spielgefährtin gesucht, deren Geist nicht kreist, ein Mäuslein zu gebären, die den Steinbock lieber im Gebirge, die Natur nicht (nur) grünäugig und den Krebs bisweilen gerne im Topf sieht, Golf geographisch, Romantik historisch buchstabiert, zwischen 20 ist und 50, 150 und unendlich und keine nationalen Grenzen kennt – von passablem Kopf, weniger Apoll als apollinisch, nie genau in der Waage zwischen Solo und Duo, Albern- und Ernsthaftigkeit.

Die daraufhin eintreffende Post war zwar nicht in Säcken verpackt, aber von der Quantität her auch nicht gerade ein Sparpaket. Die Qualität veranlaßte mich dann allerdings zu einer neuerlichen Annonce, die die mich erreichten Werteangaben in etwa zusammenfaßt:

Sie, absolut klischeefrei: Altlasten (ohne), attraktiv (wie man sagt), Beine (im Leben), Blond (nicht blöd), Buch (das gute), Carpe diem, Dinner (bei Kerzenlicht), Entheiratet, Figur (top + EQ), first (class music), Herz (und Wärme), Investition (und Liebe), Jeans (und kleines Schwarzes), Gespräche (und Kamin), Golf (und Tennis), Gott (und Welt), Herz (und Bildung), Kunst (und Kultur), Gespräche (lang), Lebenstil (gehobener), Lesen (und Musik), Natur (frei), Neu(-anfang), Niveau, Outfit, Power(-frau), Reisen (ferne Länder), Rotwein (Kamin), Single (mal gerne gewesen, jetzt nicht mehr), Ski (und aprés), schlank (mit Formen), Unternehmen (und trotzdem), Vollblut (-frau; akademisch), weiblich (geblieben).
 
Do, 16.02.2012 |  link | (2212) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele



 







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