Sonntägliche Fernsehstunde In einem Teil von Opis großer Familie gibt es einen dreijährigen Jungen, dessen Weisheiten er trotz des wohl kleinkindlich bedingt überhasteten Schnellsprechs und seines seine Mitmenschen erheblich belastenden Gehörs dennoch vernimmt, weil er in ganzen Sätzen spricht, bis hin zu grammatikalischen Feinheiten etwa eines Genitivs und gar eines Konjunktivs. Immer wieder aufs neue ist dieser Opi erstaunt, aber auch entzückt davon. Im Kindergarten lernt der Lütte das nicht, schon gar nicht im Fernsehen. Das darf er nämlich dennoch schauen, weshalb sollte er wirklichkeitsfremd aufwachsen, er trifft ja auch längst die richtigen Knöpfe im Computer. Einmal täglich darf er kucken, wenn scheinbar Kindergerechtes zur Ausstrahlung kommt. Alleine in die Glotze glotzen darf er nicht. Schließlich tauchen immer wieder Fragen auf, die beantwortet sein wollen. Meistens ist es Papa, der dann ohne jeden Anflug von fortgeschrittener Babysprache erklärt, worum es eigentlich geht in dieser Sendung, in der irgendwelche aufgedrehte, etwas ältere Jungs mit dem vermutlichen Karriereziel Berufsjugendliche in einem Operationssaal herum-hampelnd und grimassenschneidend die Bedeutung von Bakterien erläutern: Hände-waschen ist enorm wichtig, will man nicht krank werden. Nein, nicht so wie der dabeisitzende Opi, der ist lediglich von der Altersstarrheit angefressen, was aber auch jedem passieren könne, wenn er so lebe, wie er gelebt habe, was diesem Opi aber egal sei, da er gut gelebt habe, weil er nicht vorhatte, mit dreiundneunzig Jahren zwar gesund, also körperlich einigermaßen intakt, dafür völlig verblödet dahingeschieden zu sein. Dieser das nicht gehört, aber zwischen den Zeilen wahrgenommen habende Opi durfte, mußte aber nicht kommentieren. Er denkt sich seinen Teil und ist eher erheitert über solche leichte Sarkasmen, kann jedoch, da er von jungen Jahren an an schwerst und unheilbarem, weltverbesserischem Wortdurchfall leidet, deshalb dann doch seine Klappe nicht halten und spricht gen Kindwelterklärer: Ob er ihm bitte erklären könne, weshalb dieser schrecklich künstlich aufgeregte Worttröter in dieser Kiste eigentlich von diesen «komischen» grünen Anzügen spräche, die das Personal im Operationssaal trägt, anstatt mit einem oder auch zwei Sätzen klarzumachen, daß sie vielleicht komisch auf den Kleinen wirken, weil diesem komischen Onkel da in der Kindsglotzredaktion niemand gesagt hat (oder vielleicht sagen konnte?), warum dort grün getragen wird oder auch blau, nämlich weil die Götter in weiß in sonstiger Tracht nicht reflektionsfrei, also klar sehen und so die Gefahr erhöht wird, noch mehr Scheren und Putzlappen neben Niere oder Leber im Körper eines Frischoperierten zurücklassen. Und endgültig tritt dann die Logorrhoe, während Opi einleuchtet, woher das alles kommt, was ihm seine Sprachumwelt so drastisch verdreckt, aus allen seinen Sprechöffnungen, als dann noch einige virtuelle, neudeutsch post it geheißene Notizzettel aufscheinen, nach denen alles mit Super, umgangssprachlich Supa!, unterstrichen wird. Und das, spricht der immerfort zur mindestens leichten Ironie neigende Papi, in klaren, grammatikalisch einwandfreien Sätzen, so, daß auch der Kleine es versteht, kommt aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm, das stetig bemüht sei, es von den Privaten abzuschauen und es anschließend immer noch ein bißchen weiter nach unten zu nivellieren, etwa so, wie man immerfort bemüht sei, Ansprüche in Schule und Universität abzusenken, statt sich nach oben zu orientieren. Hamburg zum Beispiel, würde sich entschieden dagegen wehren, bayerische Abiturkriterien als Maßstab nehmen zu müssen. Auf Opis Entgegnung, das seien aber auch nur Kriterien des Auswendiglernens zur Verbesserung von Schulnoten und nicht etwa geeignet, zum selbständigen Leben anzuleiten, meldete der Kleine sich zu Wort: Man möge bitte aufhören, ständig in seine Fernsehstunde hineinzuquasseln. Auch Kinder, das habe ihn Papa gelehrt, hätten ein Recht darauf, ungestört kennenzulernen, wie sich Erwachsene die Welt des Nachwuchses vorstellen. Anschließend käme die Sendung mit der Maus. Das wäre was von der älteren für die ältere Generation.
Auch auf Kirschbaumästen sitzend mag ich nicht lesen, und schon gar nicht im Sommer, wenn's heiß ist. Womit ich Sie, lieber Enzoo, zu Erhöhung oder Höhe des Lebens ungefragt umziehe und zum Thema mache. Lesen ist kein Naturzustand, das ist Civilisation, sag' ich mal im französischen Sinn von Kultur. Ich bin religionsfrei Zivilisierter oder auch undogmatisch aufgewachsener Pazifist. Bereits der Mont Ségur nahe dem Albigensischen ängstigt mich angesichts des Blicks von unten, was aber auch am Gedanken an die nichts als Gott fürchtenden Ketzer liegen mag, die trotz allem Kampfeswillen und Blutsbereitschaft schon im dreizehnten Jahrhundert von ihm verlassen wurden. Anstrengung um einer Sache willen ist mir fremd. Ich brauche also nicht einmal eine schützende Burg mit meterdicken Mauern aus Stein, mag aber gerne eine oldschool coole Behausung, in der der Kopf eine Möglichkeit findet, kühl zu bleiben. Bei erhitzter oberer Festplatte sind bei mir rasch alle Verbindungen zuende. Mir war auch schon immer ein Rätsel, wie man sich stundenlang zum Braten in den Sand legen und dabei auch noch schmökern kann. Das ist das Angenehme an meiner Heimat gewordenen Stadt Marseille, die einst direkt am Wasser der Liebe wegen errichtet wurde, weshalb wohl Léo Ferré ihr 1972 die Zeilen mitgab: «O Marseille, man könnte meinen, das Meer habe geweint.» Es kann aber auch sein sein, daß der weise Sangesprophet vorausgesagt hat, man würde das ohnehin schon kaputtmodernisierte Griechenklo auch noch zur Kulturhauptstadt Europas erhöhen. Noch strebt dort alles Volk, das sich temporär befreit fühlt vom Joch der Arbeit, an diesen sogenannten freien Tagen oder auch Wochenenden (der Samedi gehört allerdings dem Einkauf) an den Strand. Unsereins hat dann die etwas kühleren, schattigeren Plätze für sich. Noch. Denn wenn endgültig eingetreten ist, was damit beabsichtigt wird, nämlich mehr Touristen anzuziehen, dann bin ich auch ich heimatlos geworden, der Stadt meiner Liebe beraubt, die nur den einen Pfeil von Cupido benötigte und derentwegen, ich geb's zu, ich mich trotz aller Höhenangst ganz nach oben begeben habe, um hin und wieder einen Blick über den Horizont nach Afrika zu erhaschen, wohin die schöne Verlotterte eigentlich gehört, von dessen Einwohnern Jean-Claude Izzo einst notiert hat, sie äßen alle gefüllte Weinblätter, seien also Teil der Levante. «O Marseille, man könnte meinen, das Meer habe geweint.» Weil die seit einiger Zeit, jedenfalls deren verkommenen, nichts anderes als intérêt pour l'argent in Kopf habenden oberen Einhundert von anderthalb Millionen, den Gipfel der europäischen Kultur erklimmen wollen. Überhaupt diese Höhe. Ich hätte Angst auf diesem Ast, den mir unbemerkt jemand absägen könnte, sei es, ich wäre es in umwölkten Zustand selbst, und ich würde hinunterfallen wie eine Kirsche, die noch via Nabelschnur am Mutterbaum hängt. Ich erinnere mich dunkel, als Kind, wenn sich mir die Gelegenheit bot, lieber im Unterirdischen herumgekrochen zu sein, in der Unterwelt. Heute täte ich mich auch dort fürchten. Aber ich bin im Kindesalter, wenn auch von meinen Eltern dorthin verschleppt (wer fragte seine Kinder früher auch, ob sie irgendwoanders hinwollen, und sei es zur Klavier unterrichtenden Tante) auch hoch oben in La Paz in den Anden gewesen und später sogar freiwillig auf mitteleuropäischen Gipfeln, die ich heute allesamt nie wieder betreten würde. Bei meinem letzten Gipfelsturm mit Hilfe eines tunneldurchquerenden Bähnchens brach ich oben zusammen, worauf man mich auf dem schnellsten Weg wieder auf den Boden der Tatsachen meiner Lebenswelt zurückschickte. Nein, man stieß mich nicht hinunter von der Zugspitze, aber man übergab mich eilends einem elektromechanischen Gondoliere und anschließend einem Notarzt, der mir empfahl, das mit dem Streben nach olympischer Höhe fortan zu unterlassen. Später, als ich das kurzzeitig freiwillig (!) mitbevölkerte Alpenvorland (Gruß nach oben an den lieben Hans) längst verlassen hatte und meinte, doch mal wieder hinzufahren, um nachzuschauen, ob das berechtigte Verlangen vieler sich in den Süden Sehnender endlich umgesetzt worden wäre — Nieder mit den Alpen! Freier Blick aufs Mittelmeer! —, überfiel mich das Grauen vor soviel Höhe. In der Nähe von Normalnull fühle ich mich nunmal am wohlsten, es darf auch darunter sein. Etwa dort, wohin es Elias Rönnrot hinziehen und in den niederen Landen landen und dort untergehen wird. Oder aber nahe meinem jetzig ruhenden Sitz unweit des Mare Balticum, der wohl mein letzter bleiben wird, nicht zuletzt, weil ich zum Lesen ein schattiges Plätzchen auf dem Boden unter Pflaumen habe, während andere für mich Kirschbaumäste erklimmen und mir von dort die süßesten Früchte holen. Obendrein habe ich's nicht weit, wenn ich auf dem anderen Bänkchen sitzend das Wasser weinen lassen will, als ob's das Meer wäre. Ich muß nur hinters Haus.
Ein Traum von Sicherheit Chapeau, auch Vorspann genannt: Kontinuierlicher Genuß von Absinth soll ja diese nichtsnutzigen parisischen Künstler des neunzehnten und auch noch des zwanzigsten Jahrhunderts ziemlich in den Surrealismus getrieben haben. Ich als zumindest ebenfalls Nichtsnutziger bin in den letzten Siebzigern auf das Surrogat Pastis umgestiegen, sicherlich auch weil die Droge Absinth zwischenzeitlich verboten worden war, bin jedoch auf jeden Fall bei Anis geblieben, vermutlich weil ich durch Mamans Brustduftdrüsen den Saft dessen Körner injiziert bekam, die sie gekaut haben muß wie anderswo die Menschen Coca, die davon der Cola-Sucht verfielen, also ständig schlechte Filme kucken mußten und so weiter. Der Film, der vergangene Nacht nach einem quasi durch den unheiligen Einemaria erzwungenen wiederholten Gelage über mich kam, verschaffte dem Surrealismus eine Rénaissance. Die zerfließende Zeit von Salvadore Dalí will mir dabei erscheinen wie die Vorlagen zu deutschen TV-Seifenopern des Ganztagsprogramms. In mir Mikrokosmus tobt die Geschichte. Gemeinsam mit dem von mir adoptierten Jüngsten, der ursprünglich mal schwedisches Modell für Herrenunterwäsche werden wollte, dann jedoch skatebordender Punk und anschließend Musiker wurde, um schließlich als ausgebildeter melancholischer Tischler etwas hinzuzuverdienen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, als nichtsnutziger Künstler den Staatshaushalt endgültig zu zerlöchern, moderierte ich im Jugendfunk eine tägliche Sendung zu den Kuriosa des politischen Alltags. Ich trug auch, ebenso gemeinsam verfaßte und im Wechselgesang vorgetragene, eigene Beiträge vor. Während wir das mir nicht erinnerliche Thema heftig diskutierten, fiel mir ein paar Minuten vor Beginn der (Live-)Sendung ein, daß ich meinen Teil des Manuskripts zuhause oder irgendwoanders vergessen hatte. Ich raste los, um es zu holen. Schnitt Auf dem Rückweg zurück ins Funkhaus raste ich mit einem Motorrad namens Gummikuh quer über ein künstlich angelegtes, mir allerdings fremd erscheinendes Gras- und Gebüschgelände in Richtung unterirdisches Parkhaus. Schnitt Um den Weg ins Gebäude abzukürzen, robbte ich mehr als daß ich hügelan hinaufstieg zur Trutzburg der Medien. Mit einem Mal tauchte zwischen den begrenzenden Büschen, irgendetwas mit Lorbeer, ein behelmtes Gesicht auf und rief: «Jetzt haben wir Dich.» Ich wurde festgenommen. Schnitt Mich am Rand des Szenariums befindend nahm ich wahr, wie modern- und schwerbewaffnete Uniformierte in Stärken von mehreren hundert Mann und im Laufschritt in Richtung des offenbar das Funkhaus unterminierenden Parkhauses stürmten. Eine weibliche Stimme, es könnte die von Petra Roth gewesen sein, verkündete lauthals: Die Schweden kommen. Schnitt Ich wurde vor eine Art Volkstribunal geführt, dessen Wortführer dem damaligen Leiter der Redaktion Jugendfunk und heutig ruheständigen Chef der Hauptabteilung Kultur sehr ähnlich sah, aber ziemlich intendantische Gesichtszüge aufwies. Verurteilt wurde ich von ihm zur Höchststrafe. Zu welcher Art, das muß im allgemeinen gewaltigen Getümmel unter-gegangen sein. Schnitt Mit einem Mal befand ich mich inmitten des Studios. Mein Moderationspartner hatte auf mich und auch mit dem Sendebeginn gewartet. Die Ereignisse zuvor wurden mit keinem Wort erwähnt. Eine Erklärung für mögliche Ursachen, die eventuellen Auslöser dieses Traums kamen mir später. In den Siebzigern war ich tatsächlich hin und wieder für den Jugendfunk tätig, unter anderem mit einer Reportage über junge Menschen, die in Afghanistan wegen Konsums von schwarzem Afghanen beziehungsweise dessen Schmuggels inhaftiert waren. Zu dieser Zeit wurde das Hauptgebäude des Bayerischen Rundfunks komplett mit Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet. Damals gab es zwar noch keine international aktiven Taliban, aber so etwas ähnliches, tätig im westdeutschen Inland: die RAF. Ihretwegen kam niemand mehr ohne Personal- oder Hausausweis in das zuvor im Prinzip frei zugängliche Gebäude hinein. Die sicherheitsrelevanten Bereiche wie der Sendetrakt wurden mittels stählernen Einfassungen sowie schußsicheren Scheiben abgeschirmt, in etwa vergleichbar mit dem sogenannten Rettungsschirm der Europäischen Union über Griechenland. Im Nachhinein fand jemand heraus, daß die unteren Sicherheitsgarantien nahezu allesamt mit beliebigen Gegenständen wie Schraubenziehern oder stabilen Taschenmessern ohne weiteres zu durchbohren waren. Dieser Zustand wurde meines Wissens nie verändert. Über weitere Traumwurzeln denke ich noch nach. Vielleicht bekomme ich sie erkundet. Allerdings beginnen die genaueren Erinnerungen an diesen frühmorgendlichen Film zunehmend zu verblassen — ich weiß es zeitlich so genau, da ich gegen halb sechs aufgewacht war und, um leichter wieder einschlafen zu können, den Fernseher eingeschaltet sowie danach auf die Uhr geschaut hatte und er anschließend über mich kam. An den im TV laufenden, zumindest an dessen kurze Passage vor dem Wiedereinschlaf erinnere ich mich dunkel: Es ging um die Religionskriege, als die reformatorischen Söldnertruppen des Schwedenkönigs über die Katholiken einfielen. Es kann aber auch der Einfall der Gallier in eine römische Festung gewesen sein, die nur verteidigt werden konnte, weil Cäsar seine germanischen Reiter gegen sie vorpreschen ließ, womit die eigentlichen französischen Ahnen von Asterix und Obelix entgegen deren Geschichtsschreibung definitiv erledigt waren. Aber so genau erinnere ich mich dann doch nicht an die etwas zurückliegenden Kämpfe wider das frühe und endlich besiegte Multikulti und den Beginn der Civilisation.
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