Kaltblüters Identitätssuche Wie kam er nur hierher, in diese grabenähnliche Wüstenei? Schlaftrunken versuchte er, sich zu erinnern. Hatte man ihn dort hineingeworfen? War er als Abfallprodukt der Gesellschaft weggekippt worden? Sans papier gleich Müll? Er spürte, daß ihm nicht nur kalt war, sondern ihn auch die Glieder schmerzten. Mühsam setzte er sich auf und schaute nach rechts und links. Lediglich am Rand dieser modernden Erdbrache war von Tau überzogenes Gras zu sehen. Er hatte keinerlei Ahnung, wo er sich befinden könnte. Einen Bachlauf sah er dann und daneben ein paar tote Bäume, etwas verrottendes Laub und ein alter verrosteter Pflug oder irgendein anderes bäuerliches Gerät geriet dann in den Vordergrund des Blickfeldes. So gut es ging mit den kältesteifen Gliedern drehte er sich nach hinten um. Ein paar Meter weiter stand ein Haus, vermutlich aus Holz, so etwas ähnliches wie eine Jagdhütte. Wieder in der Ausgangslage zurück, versuchte er zunächst auf die Knie zu kommen. Als er nach ein paar angedeuteten Kniebeugen seine eins siebzig in eine aufrechte Position bekommen hatte, sah er zur Rechten die aufgehende Sonne. Sie würde ihm hoffentlich ein wenig Wärme geben. Aus dem Erdloch gestiegen ging er auf dem Feldweg ein paar Schritte. Er bemühte sich, sich zu erinnern. Noch immer hatte er keine genaue Vorstellung davon, wie er in diese Situation gekommen war. Als er seinen schwarzen ledernen, im Lauf der Jahre der Wanderschaft recht verschlissenen Rucksack im Graben liegen sah, war ihm klar, daß er wohl kaum überfallen worden sein konnte, denn Räuber hätten ihm den kaum gelassen. Doch als er ihn geöffnet und darin nach seinen Ausweispapieren gesucht hatte, war er sich nicht mehr sicher. Denn er fand sie nicht, wohin er auch griff zwischen Hemden, Unterhosen und einem Paar Espadrilles. Automatisch tastete er die rechte Gesäßtasche seiner leicht feuchten Jeans ab. Dort bewahrte er grundsätzlich sein Papiergeld auf. Portemonnaies waren ihm unangenehm. Von seiner Kindheit angefangen hatten ihm vor allem weibliche Personen immer wieder Geldbörsen geschenkt. Nie hatte er sie benutzt. Die Scheine gehörten hinten an die rechte Backe, für das Kleingeld war Platz im vorgesehenen Münztäschchen. Und wann auch immer er zu früheren Zeiten aus gesellschaftlich erforderlichen Gründen eine Flanellhose trug, so griff er garantiert in ein Loch, das die Münzen meist nach kurzer Zeit hineingebohrt hatten. Das Papiergeld war vorhanden. Er spürte es bereits, indem er von außen an die Tasche faßte, es war eine nahezu mechanische, prüfende Bewegung. Dann griff er hinein. Nichts schien zu fehlen. Zwar wußte er nie, wieviel Geld genau er besaß, doch die knapp fünfhundert Euro kamen wohl hin. Näherte sich der Betrag unter die Grenze von zweihundert Euro, fühlte er sich nicht gewappnet für den Alltag, und so holte er frisches Geld, immer fünfhundert Euro, früher waren es tausend Mark oder zweitausend Francs. Soviel eben, wie die Geldautomaten pro Tag herausgaben. Auch die hundertachtzig Schekel waren noch da. Sie waren zwar so gut wie nichts mehr wert, doch die hatte ihm mal sein Vater gegeben, kurz vor dessen Tod. Mit ihnen habe man nach der Landung in Israel ausreichend Geld, meinte der damals, um ein Taxi und etwas zu essen zu bezahlen. Die Scheine hielten die Erinnerung an seinen guten Alten wach. Sie sollten ihm alle Zeit Glück bringen. Glück. Erinnerung. Er kam ins Grübeln. Das Geld war da. Nur die Papiere und die Erinnerung waren weg. Was war nur geschehen? Nochmals grub er einem Archäologen gleich geradezu forschend in seinem Rucksack. Wiederum ohne Erfolg. Als er aufschaute, sah er zunächst ein paar schlicht geformte schwarze Schuhe und, nachdem er den Kopf etwas angehoben hatte, darüber dunkelblaue Hosenbeine. Sein Blick ging weiter nach oben, und der kam an einer ebenso gefärbten Jacke an, die unschwer als zu einer Uniform gehörend zu erkennen war. Noch weiter nach oben schauend, kam er bei einem zwar freundlichen, aber dennoch skeptisch dreinschauenden Gesicht an, das zu einem etwa Mittvierziger gehörte. Der fragte ihn, was er hier mache so früh am Morgen, ob er Kaltblüter sei, der versuche, sein Blut in Fluß zu bringen. Nein, das stocke bereits seit langem, da sei nichts mehr in Bewegung zu bringen, auf der Suche nach seiner Identität sei er. Nach dieser wollte er ihn gerade fragen, entgegnete der Uniformierte. Da zog er die Decke über die Schulter, drehte sich auf die vernachlässigte andere Einschlafseite und schlief sofort wieder hinein in die Wirklichkeit.
Muttermörder Von meiner Mutter hat es mich, soweit ich mich erinnern kann, zum ersten Mal geträumt. Umbringen wollte ich sie bei dieser Gelegenheit. Noch nie waren in mir derartige Gedanken aufgekommen, auch nicht in meinem an sich recht bewegten und durchaus als opulent zu bezeichnenden Traumleben. Sie selbst hatte nie deutliche Anzeichen gezeigt, sich trotz all ihrer sehr lange anhaltenden nachgeburtlichen Schmerzen meiner entledigen zu wollen. Ein einziges Mal in meinen jungen Jahren lief sie, wohl von sich konzentriert habenden Rachegelüsten hinter mir her, um einen Tisch herum, mit einem Fleischermesser in der Hand, immer wieder laut ausrufend, sie bringe mich um. Ich dürfte etwa acht oder zehn Jahre jung gewesen sein, vielleicht auch jünger. Was genau ich angestellt hatte, daran erinnere ich mich nicht. Es könnte das Ereignis gewesen sein, bei dem ich mich gemeinsam mit einem Freund per Fahrrad aufgemacht hatte, dem mütterlichen Alltag zu entfliehen. Man hatte uns irgendwo aufgegriffen und den Elternhäusern wieder zugeführt. Möglich wäre auch eine meiner immer wieder mal abgesonderten kindlichen Erkenntnisse, nach denen sie eine schlechte Mutter und meiner nicht wert wäre. Auslöser könnte auch der Diebstahl einer kleinen Summe Geldes gewesen sein, die ich ihrer Geldbörse oder sonst einem Behältnis entnommen hatte, um davon Süßigkeiten zu kaufen. An Mitschüler hatte ich diese großherzig verteilt. Damit hatte ich mir früh jene Anerkennung erkauft, die mir in der Kindheit bis dahin versagt geblieben war und es auch bleiben sollte. Dieser Vorform der Prostitution meine ich, mich nie wieder hingegeben hingegeben zu haben. Anerkennung an sich sollte erst sehr viel später erfolgen. Aber da stand ich bereits im ersehnten oder, mag es so genannt werden, erträumten Beruf. Im Grunde gab es einen solchen nie. Schon gar keinen derartigen Traum. Den hatte allenfalls meine Mutter, die von mir wohl als einem aufstrebenden Volkswirt visionierte, es mochte auch ein Jurist gewesen sein. Meine Mutter habe ich eigentlich bereits im Alter von etwa Mitte zwanzig abgehakt. Zu diesen jungen Jahren habe ich mich von ihr scheiden lassen. Doch vergangene Nacht hatte ich im Traum vor, sie umzubringen. Wir hatten uns heftig gestritten. Anschließend gingen wir gemeinsam über eine Brücke. Die war von der Erscheinung her eine dieser sträßernen Talüberquerungen der sechziger Jahre ohne jede architektonische Besonderheit. Von dieser wollte ich sie über das Geländer hinweg hinunterstürzen. Es blieb bei einigen gedanklichen Versuchen. Ernsthaft betrieben hatte ich es auch im Traum nicht. In dem befand ich mich mit einem Mal unterhalb der Brücke im Gras sitzend. Das Gesicht meiner Mutter, die oben auf der Brücke entlangging, hatte sich im Lauf des Traumes gewandelt. Jung, fast jugendlich war es geworden. Allerdings hatte es, einer eventuellen Traumlogik folgend, keinerlei Ähnlichkeit mit der jungen Frau, die ich als Anfangszwanziger geheiratet hatte. Mit ihr wollte ich keine gemeinsamen Kinder haben, weil ich meinte, zwei bereits vorhandene seien genug. Sie war eine Weile in guter Hoffnung, ein gemeinsames Kind könne die Ehe retten. Dem hatte ich mich verweigert. Auf die Flucht hatte ich mich schließlich begeben. Vermißtenanzeige war ergangen. Erfahren hatte ich es durch meine Mutter, die ich nach meiner besinnungs- oder auch orientierungslosen Fahrt noch einmal aufgesucht hatte und die mir seinerzeit trotz meiner Obdachlosigkeit kein Heim bieten wollte mit der Begründung, sie verfüge über keinen Platz. Nach zwei Spiegeleiern wurde ich von ihr aus ihrer großräumigen, mehrzimmrigen Wohnung hinauskomplimentiert. An einem Abend kurz vor Weihnachten war es. Bei einem Freund beziehungsweise dessen Eltern fand ich ich für ein paar Tage Unterschlupf. Was sich anschließend ereignete, daran erinnere ich mich nicht. Der Traum von meiner Mutter, die ich umzubringen vorhatte, ließ mir das Gesicht einer jungen Frau hoch oben auf der Straßenbrücke erscheinen, während ich unterhalb derer in abenddämmerndem Licht hockte. Mit einem Mal sprach mich ein vor mir sitzender Junge im Alter von etwa zwölf Jahren an und fragte mich eindringlich, ob ich tatsächlich sein Vater sei. Kopfnickend entgegnete ich ihm, dem müsse offensichtlich so sein. Der Traum ohne jeden Alpcharakter war zuende. In der Nacht vor dem Tag, an dem ich Hans Zengelers dritte Folge der Bloch-Trilogie erstanden und darin angefangen hatte zu lesen, träumte es mich von meiner Mutter. Ich erwähne Zengelers Roman deshalb, da mich bereits sein erster Band wegen der darin abgehandelten Ängste vor dem Sterben recht aufgewühlt und eine gewisse, wenn auch konträr dazu stehende Nähe zum Autor hergestellt hatte. Erwähnenswert mag dabei sein, daß ich davon überzeugt bin, autobiographische Elemente spielten, im Gegensatz zur landläufigen Meinung der die in Schrftstellern frei aus dem Nichts heranschwebende Phantasie verteidigende Literaturkritik, wesentliche Rollen im erzählerischen Schreiben von Autoren. In Das letzte Geheimnis, dem dritten Teil dieser drei Romane, tritt des Autors, nein, des Protagonisten Mutter auf den Plan und bringt ziemliche Wirren in dessen bis dahin recht wohlgeordneten, von keinen übermäßigen Sonderlichkeiten getrübten Mikrokosmos eines schwäbischen Alps, obwohl er nie sonderlich gute Kontakte zu ihr gepflegt hatte und Bloch folgerichtig keine allzu ausschweifende Sehnsucht nach Nähe zu ihr entwickelte. Da gewisse Parallelen zu meiner Vita an- oder aufgezeigt sind, legte mir die Skizze des Erzählten eine Nutzung zur Anmoderation nah, die sich nun in eine Schlußbemerkung gewandelt hat.
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