Storchs-Nest «Was die Intellektuellen und die Künstler in den letzten Jahren vielleicht vergessen haben, ist, die Vorstellungen vom Ende mit denen des ‹Storchs-Nestes›* zusammenzubringen. Sie haben die europäischen Aufgaben unter sich verteilt: hier die Denker der Ohnmacht, dort die Praktiker der kleinen Schritte. Einig sind sich beide Fraktionen aber — überwältigt von ihrer Medienfaszination — in ihrer Zaghaftigkeit, in ihrem Kleinmut, in ihrem festen Glauben an die Utopielosigkeit. Auch sie nehmen teil an der Aufteilung der Welt, an den unermüdliche Parzellierungen und Grenzziehungen, die zur Zeit im Gang sind. So ist die westliche Kunst im Moment dabei, sich autistisch ausschließlich mit sich selbst zu beschäftigen. Ihre Museumskathedralen werde immer opulenter, reicher, ihre Cafes und Bars immer schicker, ihr Galerien immer weißer, ihre Zeitschriften und Kataloge immer bunter und ihre Lofts immer größer: formalisiertes Leben neben dem Leben. Die Kunstwelt kapselt sich von der übrigen Welt ab, bildet einen eigenen Kosmos, dem sich die Theorie und Kritik zu fügen haben. Die östliche Kunst, die sich neu definieren muß, ist geneigt, sich vom Glanz solcher Äußerlichkeiten verführen zu lassen, und sie bemüht sich, teilweise im Schnellkurs, die westlichen Strategien aufzunehmen, um als Teil der schillernden Kunstwelt zu funktionieren. Dieses Spiel de grenzenlosen Grenzziehungen trägt den Januskopf der Ohnmacht. Er wendet sich einer vorgeblichen Offenheit zu, um andererseits aufzugehen in einen Bereich, über dessen Tür dick das Wort ‹Kunst› steht.» Michael Glasmeier * Georg Christoph Lichtenberg schreibt 1776 in sein Sudelbuch: «Die Klugheit eines Menschen läßt sich aus der Sorgfalt ermessen, womit er das Künftige und das Ende bedenkt. Respice finem.» Die nächste Eintragung lautet: «Vorschlag ein Storchs-Nest in Göttingen anzulegen.» Michael Glasmeier: Respice finem und Storchs-Nest, in: Üben. Essays zur Kunst, Salon Verlag, Köln 2000, S. 55
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