Fleisch und Buch

«Ein Mensch kann die Literatur noch so sehr lieben, aber er kann niemals zur Literatur selbst werden. Wer Traum und Wirklichkeit durcheinanderbringt, wer zu sehr in der Welt der Literatur aufgeht, begeht eine Torheit. Er wird irre oder im günstigsten Fall unglücklich.

[...] daß Ehebruch mit Hilfe der Literatur um vieles reizvoller ist als ein Ehebruch im Grünen mit einem Mann aus Fleisch und Blut.»

Anil Ramdas, Madame Bovary
 
Sa, 13.06.2009 |  link | (703) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen


hanno erdwein   (13.06.09, 10:24)   (link)  
Die fleischliche und die gedruckt virtuelle Welt
gehen nicht selten eine Verbindung ein. Balzac zum Beispiel lebte so sehr in seiner Comedy Human, daß er neben exessivem Kaffeegenuß und hektischem Schreiben kaum noch zu den Erfordernissen des alltags kam. Ich selbst vagabundiere auch im Grenzbereich beider Sphären, hoffe aber, weder Irre noch unglücklich zu werden. Schaun wir mal! :-)


jean stubenzweig   (15.06.09, 14:36)   (link)  
Honoré de Balzac
war während, vor allem vor seiner Comédie humaine aber auch durchaus aktiv. Zum einen nahm er gerne die Honneurs entgegen und zum anderen mußte er ständig für materiellen Nachschub sorgen, um den dazugehörenden aufwendigen Lebensstil finanzieren zu können. Nicht vergessen werden darf dabei auch, daß auch die Abwendung der angehäuften Schulden ein ordentlicher Energiefresser war. Aber er antwortete darauf mit außerordentlicher Kreativität. Sogar ein wahrlich lesenwertes Buch verfaßte er zum Thema. Darin kam er zu dem Schluß: «Die Kunst, seine Schulden zu zahlen und seine Gläubiger zu befriedigen, ohne auch nur einen Sou auszugeben.» Einmal mehr wird man dabei an aktuelle Gegebenheiten erinnert: Er schrieb: «Ich werde Ihnen [zurück-]zahlen, wenn ich Geld bekomme. Man hat nichts zu bekommen, man hat also auch nichts zu zahlen.» – Ich habe nicht den Eindruck, daß er daran irre oder unglücklich geworden ist.

Aber er ist eben wohl auch nicht alleine in seiner Literatur aufgegangen.


hanno erdwein   (15.06.09, 19:27)   (link)  
Der honorige Balzac
ist gewiß nicht irre geworden. Obschon, er hätte es leicht werden können, wenn man die Affäre mit der russischen Lady bedenkt, die er durchleiden mußte. Auch, daß er gegen den finanziellen Ruin anzuschreiben hatte, ist sicher kein Faktum für ein seelisches Gleichgewicht. Bewundernswert, daß er so phantastisch gute Bücher hinterlassen hat. Sehr gute Quelle, Balzacs Vita gründlich kennenzulernen ist (für mich) Stephan Zweigs "Balzac".


damenwahl   (13.06.09, 17:57)   (link)  
Ich weiss nicht. Mein Papa sagt, aus einem guten Buch kann man mehr ueber Laender lernen als auf Reisen (zum Beispiel), aber es gibt doch Dinge, die muss man durchleben. Subjektiv. Man kann sich vorstellen, man kann lesen und traeumen und reden und denken - es wird nie die eigene Erfahrung ersetzen. Was Ehebruch betrifft, habe ich keine Ambitionen, daher mag ich mich nicht aeussern, aber manche Dinge muss man definitiv gemacht haben, da hilft kein Buch.


jean stubenzweig   (15.06.09, 14:44)   (link)  
Väter sind ja häufig
recht lebensklug, und -weise. Sicher hat der Ihre recht, aber er meinte auch ein «gutes Buch» und vermutlich nicht diese von Autoren verfaßten Reiseanleitungen, in denen Länder von oben aus dem Flugzeug oder mit dem Fernglas von Insel zu Insel beobachtet wurden oder gar aus der Perspektive von Kollegen. Wer im Land gelebt hat, wird auch von Begebenheiten erzählen können, die anderen unsichtbar bleiben. Womit wir beim Durchleben wären (wie Sie mit Washington oder São Paulo oder Tunis und sicher weiteren Orten). Und gerne stelle ich Ihrem Vater (und Ihnen) den meinen ergänzend zur Seite, der mir immer wieder mal gesagt hat, eine fremde Sprache lerne man am besten auf dem Kopfkissen – in situ. Zum Thema Ehebruch hat er sich nie geäußert (was jedoch auch nicht erforderlich war, da er nicht ein einziges Mal geheiratet hat).

Auf den Ehebruch ist Anil Ramdas auf eigenartige Weise eingegangen, indem er eine bitter-humorige Kurve von der «Stil»-Suche von Imigranten dorthin beschreibt: «Ein anderer, weniger verbitternder Stil, sein Einwandererschicksal aufzuarbeiten und in Worte zu fassen, ist der literarische Stil. Und um der Banalität dieses Problems zu entgehen, will ich mich ihm so feierlich wie möglich nähern und Hilfe suchen beim größten Stilisten der Welt, welcher eine Romanfigur schuf, mit der wir Einwanderer uns vollständig identifizieren können. Dieser Schriftsteller heißt Gustave Flaubert, und bei der Romanfigur handelt es sich natürlich um Madame Bovary.» – Für mich gehört das zum besten der (hier niederländischen) Literatur.


behrens   (16.06.09, 00:04)   (link)  
Nicht so genau verstanden
[...] daß Ehebruch mit Hilfe der Literatur um vieles reizvoller ist als ein Ehebruch im Grünen mit einem Mann aus Fleisch und Blut.»

Das muß ich aber doch mal ganz dumm fragen, wie das gedacht ist. Es heißt ja nicht "Ehebruch in der Literatur" sondern mit Hilfe der Literatur. Also Körperliches mit literarischen Beiwerk? Oder doch überhaupt nichts Körperliches und nur literarische Phantasie?

Letzteres als Anleitung oder in Form von sinnlichen und erotischen Gedichten?


jean stubenzweig   (16.06.09, 11:32)   (link)  
Emma Bovary
ist hier gemeint, der es in einer virtuellen Welt wohl besser ergangen wäre als in der wirklichen, in der der «Ehebruch im Grünen», verursacht durch Unzufriedenheit mit dem, nenne ich's mal so, besseren Leben auf dem Lande, mit Auslöser war. Wobei nicht vergessen werden darf, daß Frau Bovary ja selbst nichts anderes ist als eine Romanfigur, die sich eine andere Umgebung erträumte, jemand, der völlig in Literatur und Musik und dann, als Folge der Langeweile, auch noch in der Verschwendung auf- und dann unterging: «Ihre Brust begann alsbald heftig zu keuchen. Die Zunge trat weit aus dem Munde. Die Augen begannen zu rollen und ihr Licht zu verlieren wie zwei Lampenglocken, hinter denen die Flammen verlöschen. Man hätte glauben können, sie sei schon tot, wenn ihre Atmungsorgane nicht so fürchterlich heftig gearbeitet hätten.»

Ihr fehlte der Bezug zur Realität. Nein, sie wollte eine andere. Zur vorhandenen wollte sie keinen Bezug haben – sich selbst etwas vormachen; heute vielleicht via Internet ... Allerdings ist das hier Zitierte tatsächlich am besten zu verstehen durch die Lektüre des (hier nochmals verlinkten) Essai; darauf kam es mir auch in erster Linie an. Aber hilfreich wäre es sicherlich auch, zuvor vielleicht noch den Roman selbst zu lesen, der ein interessantes Bild des mittelständischen 19. Jahrhunderts darstellt.


behrens   (17.06.09, 08:31)   (link)  
Ich habe nur eine Verfilmung von Madame Bovary gesehen. Ich habe da so meine Probleme mit französischen Filmen, bzw. mit dem französischen Bild der Frau.

Die Thematik kann man ja mit "Belle de Jour" von Luis Bunuel vergleichen. Die Schattenseiten eines spießigen Lebens. Das wird von vielen als etwas grandios Kritisches gefeiert. Mag sein, daß die Doppelmoral gut dargestellt wird. Die Frau sieht man aber immer nur von außen. In Belle de Jour guckt Catherine Deneuve ja auch wirklich immer wunderschön in die Kamera - das war's dann aber auch. Was für die meisten eine gekonnte Bloßstellung darstellt, ist für mich einfach nur grenzenlos platt. Die Frau von außen gesehen, die andere Bedürfnisse hat, als die von ihr erwarteten mag ja in dieser Hinsicht gut rüberkommen, die Tiefe bleibt da aber auf der Strecke.

Wenn ich mir vorstelle, man würde eine Frau überreden, die Situation von Emma Bovary oder Belle de Jour (wie hieß die im Film?) zu interpretieren, dann würde dies hochinteressanter Stoff sein. Bei Flaubert und bei Bunuel bleibt alles im Verächtlichen hängen. Ich kenne mich nur sehr wenig in der französischen Literatur aus. Ein Buch von Guy de Maupassant konnte ich nicht zuende lesen, weil seine Sicht der Frau irgendwann schon fast rassistisch wirkt.

Ich liebe die Bücher von Toni Morrison, die Frauen in ihrem ganzen Sein, mit Widersprüchen, ungelebten Träumen und abgestorbenen Wünschen beschreibt. Wenn (französische) Männer dies versuchen, ist und bleibt es für mich eine Plattitüde. Eine sozialkritische zwar, aber eben dennoch eine Plattitüde.


jean stubenzweig   (17.06.09, 12:44)   (link)  
Ihre Sichtweise gegen
die Darstellung der Frau in französischen Filmen sei Ihnen unbenommen. Es gibt viele Menschen, denen es so geht wie Ihnen. Aber Belle de jour Séverine Sérizy oder Emma Bovary spiegeln nicht so sehr die französische Realität, als daß sie vielmehr (in den von Ihnen geschilderten Fällen verfilmte) Romanfiguren sind, also verfilmte Literatur. Da habe auch ich immerzu meine Schwierigkeiten. Denn die filmische Interpretation nimmt dem Leser grundsätzlich die Freiheit der Phantasie. So kann ich beispielsweise in Flauberts Buch nichts, wie Sie schreiben, «Verächtliches» erkennen, wie es Ihnen im Film vorgekommen sein mag.

Vor allem bitte ich zu bedenken, daß es sich um unterschiedliche Epochen und Umgebungen handelt. Die Bovary lebt in ländlich-kleinstädtischer Umgebung in der Mitte des 19., Madame Sérizy im Paris in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Und: hier der Ehebruch durch die Unausgefülltheit, der ländlichen Langeweile, dort der durch das Sehnen nach einer anderen Gesellschaft etc. pp. Sexualität und Ehe wurden in diesen Zeiten auch etwas anders gewertet als heute. Auch der von Ihnen hier unvermittelt erwähnte Guy de Maupassant lebte in einer Zeit, in der es auch im fernen Deutschland vorkommen konnte, daß die Frau «rassistisch» dargestellt wurde.

Der Film vermag in seiner interpretatorischen Fixierung da bereits einiges festklopfen, das im Roman flexibel gedacht werden konnte und kann. Darauf habe ich hier schon häufig hingewiesen, gerne verbunden mit dem Hinweis auf Gianni Celati, der vom «naturgegebenen Kino im Kopf» schreibt. In Filmen anderer Regisseure, die nicht auf Romanfiguren zurückgreifen, sondern eigene Stoffe entwickeln, sieht die französische Filmwelt etwas anders aus. Für mich jedenfalls, der ich mich in dieser Art des französischen Kinos, etwa dem von Eric Rohmer oder Jacques Rivette, überaus wohl und heimisch fühle. Wie das hier überhaupt, falls es noch nicht bemerkt worden sein sollte, exterritoriales französisches Gebiet ist, noch dazu eines, in dem die (religionsabgewandte) Romantik häufig die (sexualabstinente) Aufklärung auf die hinteren Plätze verweist.

Aber um alldas geht es hier ja auch nicht. Es geht thematisch weniger um die verfilmte Rolle der Frau in der französischen (Männer-)Welt, die dann vielleicht doch so facettenreich ist wie im deutschen Kino, sondern eher um Anil Ramdas' beispielhafte und vor allem (selbst-)ironische Erwähnung von Literatur und Realität im Zusammenhang mit der Suche von Imigranten nach einer Identität, von der Verlorenheit in dieser Sucherei nach «Stil». Irgendwie ist das schon eine andere Richtung ...


prieditis   (16.06.09, 01:14)   (link)  
Er wird irre...
gibt es für Malerei ähnliche Theorien?!?


hanno erdwein   (16.06.09, 08:12)   (link)  
Irre gewordene Maler?
Aber ja doch. Ein abgeschnittenes Ohr dürfte der Beweis sein. Hohe Kunst und Wahnsinn trennt zumeist nur ein dünnes Häutchen.


jean stubenzweig   (16.06.09, 11:41)   (link)  
Irrsinn ist doch Standard
unter Malern, habe ich gehört. Dafür muß man sich nicht unbedingt ein Ohr abschneiden. Na, damals vielleicht schon. Bei dem Genannten war's allerdings das Licht des Südens, der das bewirkt hat (also aufpassen bei den Träumen, Herr Erdwein). Und vielleicht kam noch ein bißchen Absinth hinzu.















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