Deutschsprachige Dialektik

Bei Peter Bichsel war ich hängengeblieben, bei diesem schnörkellosen dialektischen Essayisten und Redner, der den Zeigefinger, wenn überhaupt, dann auch auf sich und seine alpische Trutzburg richtet. In den achtziger Jahren hat der Schweizer eine Zeitlang in der, wie sie damals sozusagen gegenpolig genannt wurde, Bundesrepublik oder auch BRD gelebt und seine gedanklichen Spaziergänge in einem Aufsatz zusammengefaßt, der im nebenan angezeigten Buch enthalten ist.* Rückblickend gelesen ist das alleine schon interessant. Aber höchst verblüffend ist die Aktualität.

«Die Deutschen sind sichtbar wohlhabend geworden. Aber mir scheint, sie haben sich mit dem Geld nur mehr Mief angeschafft.» Mir scheint, daß dieses Müffeln gegenüber den Achtzigern lediglich einen anderen Geruch hat. (Nicht außeracht gelassen werden darf dabei, daß zu diesem «Mief» nicht unerheblich der US-amerikanische, mehr als streng antikommunistische, im Kalten Krieg ideologisch vom CIA munionierte Marshall-Plan beigetragen hat, der die Deutschen — wie zum Beispiel auch die Italiener, bei denen die ersten Wahlen nach dem zweiten Weltkrieg entsprechend beinflußt worden waren — in besonderem Ausmaß ins strenggläubige Kapitalistenreich hiefte.) Doch er gesteht freimütig ein, daß die «demütigen, geschlagenen Deutschen» den Schweizern «nicht ins Konzept» gepaßt hätten, daß sie «wieder jemand werden mußten [...], damit sie wieder so deutsch waren, wie wir das wollten». Und so geht seine konsequente Fragestellung denn darin auf: «Wie anders sind wir denn?»

«Was ist das: ‹Ein Deutscher›? Wir Schweizer haben unsere Vorstellung davon. Wir sind ganz sicher, daß wir die Deutschen erkennen, überall und unter allen Umständen. Das heißt, wir nehmen an, daß sie ganz sicher anders sind, ganz anders als alle anderen.»

Daß sie es sind, und sei's drum, weil sie es einfach sein wollen, ‹belegt› Bichsel, quasi stellvertretend für seine Landsleute, immer wieder eindrucksvoll. Und dabei entstehen bisweilen (Sprach-)Bilder einer Selbstironie, auf die die Deutschen geradezu neidisch sein müßten. Allein Peter Bichsels ‹Analyse› der von Deutschen gesprochenen deutschen Sprache beinhaltet passagenweise kabarettistische oder auch im Ansatz komödiantische Züge wie in Emil Steinbergers Film Der Schweizermacher von 1978 (da dazu kein Ausschnitt erreichbar ist, sei thematisch auf das Buch Das Kreuz mit dem Pass von Christian Dütschler verwiesen), wie sie scheinbar nur auf einer Insel entstehen können, das ozeanisch von Fremdem umspült ist. Wer je mit dem geradezu ungläubigen Staunen zumindest vereinzelt deutschsprachiger Schweizer über das Bühnendeutsch bestimmter Deutscher auf schweizerischen Rundfunkwellen konfrontiert war, wird Bichsels mehr fragenden als beantwortenden Kommentar genießen. Und (vielleicht?) auch geläutert werden. Nicht nur sprachlich. Seltsamkeiten geschehen schließlich auch anderenorts.

In den achtziger Jahren hat Bichsel an der Universität Essen «unter anderem Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache herausarbeiten wollen. Ich scheiterte, wir konnten uns darüber nicht verständigen. Ein schweizerdeutscher Satz, übersetzt ins Hochdeutsche, ist eben noch lange nicht deutsche Umgangssprache.»

«Wir Schweizer haben nicht den Eindruck, mit Sprache umzugehen, wenn wir sprechen. Wir sprechen die Dinge nicht aus. Inhalte werden bei uns verinnerlicht und nicht ausgesprochen. Die Deutschen aber sprechen. [...] Bei uns aber kommen jene, die sprechen, in Verdacht. Eine Rede in der Schweiz ist immer eine Ausrede. Und die Deutschen, die sprechen uns zu viel. Sie sprechen immmer, und sie sprechen alles aus.

Es ist für mich recht schwer, einen deutschen Freund zu begrüßen. Das schweizerische ‹Sali› genügt nicht, und daß er mich mit einem ganzen Wortschwall überschüttet, das stört mich. Er sagt: ‹Ich freue mich sehr, dich wieder zu sehen. Du weißt gar nicht, wie sehr wir dich vermißt haben, wir werden auch ganz bestimmt, aber vorerst einmal ...›

Auf Schweizerdeutsch wäre das nicht nur unglaubhaft, sondern auch lächerlich. Ich verstehe jedes Wort, ich verstehe den Inhalt, es ist dieselbe deutsche Sprache wie unsere, nur etwas anders ausgesprochen. Aber ich befinde mich in einem sehr fremden Land. Die Sprache dieses Landes ist keine Fremdsprache, aber sie behandelt Inhalte, die von uns sprachgehemmten Schweizern nicht sprachlich behandelt werden. Das ist auch der Grund, daß wohl niemand so große Schwierigkeiten mit den Deutschen hat wie wir Deutschschweizer. Weil sie eine Sprache sprechen, die wir zu verstehen glauben, erschrecken wir so sehr, daß sie ganz anders sind. Wir freuen uns über das Anderssein der Amerikaner, der Franzosen; das Anderssein der Deutschen ist und bleibt ein Ärgernis. Und das Anderssein hat mit einem anderen Bewußtsein zu tun. Oder vielleicht sogar mit mehr Bewußtsein.»

Der Essay, aus dem hier primär zitiert wird — Wie deutsch sind die Deutschen? — stammt aus der Zeit seines Deutschland-Aufenthaltes, als man noch BRD und DDR sagte und schrieb (letzteres gerne auch in springerschen Tüttelchen; zu deren Darstellung heute längst nicht mehr nur von dieser ‹Zeitungs›-Klientel die Zeigefingerchen hergenommen werden, laut hap selig eine Hinterlassenschaft aus Neufünfland, der vor dieser «ironischen» Titulierung sogenannten DDR). Die Probleme waren andere — oder hatten schlicht andere Namen und Bezeichnungen; die Begriffe sind austauschbar, sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz.

«In Deutschland werden die Dinge ausgesprochen. Es gibt zum Beispiel Radikalenerlasse und Berufsverbote in der Bundesrepublik. Sie werden auch bekämpft und diskutiert. Bei uns in der Schweiz ist das sehr viel einfacher: die Chance eines linken Lehrers ist bei uns Zufall. In der Bundesrepublik ist nicht nur das Verbot Gesetz, sondern auch die Chance eines linken Lehrers. Das Verbot ist unschön, aber man wagt es auszusprechen und setzt damit Grenzen, auf die man vertrauen kann. Die nicht festgelegte schweizerische Hetzjagd unter dem Deckmantel der Demokratie ist undemokratischer.

Die Assistenten, die ich kennengelernt habe, an der Universität Essen, die waren alle schon einmal in irgendeiner Form gekündigt. Sie haben sich auf dem Beschwerdeweg oder gerichtlich dagegen gewehrt. Jetzt sind sie noch da und begrüßen ihren Professor so freundlich wie zuvor. Man geht in Deutschland für seine Rechte vor Gericht. Viel schneller und öfter als bei uns. Das hat mitunter seine Vorteile. Es hat aber auch seine Nachteile, weil von da ab alles Wort für Wort ausgesprochen und ausformuliert ist — weil es kein Zurück mehr gibt. Man vertraut in der Bundesrepublik dem Gesetz, man vertraut der Sprache und eigentlich nur der Sprache. Schweizerischem ‹Nicht-davon-Sprechen› ist das nicht geheuer. Wir ertragen sprachliche Exaktheit nicht und machen lieber Verfassungsartikel, die ein unbrauchbares Sowohl-als-auch beinhalten.

Deutsche Exaktheit wäre unsere Unentschlossenheit ein Greuel. Die Deutschen schaffen eine Bürokratie, die fast unerträglich ist — Formulare, Formulare, Formulare: es gibt in diesem Land nichts mehr, was nicht gesetzlich geregelt wäre. Und die Sprache, in der diese Bürokratie stattfindet, ist für uns Schweizer nun allerdings eine Fremdsprache. Ich war in Essen nicht fähig, auch nur ein einziges Formular auszufüllen. Ich habe die Sprache auf den Formularen als Deutsch erkennen können, aber keinen Satz verstanden. Auch die Deutschen beklagen sich darüber, aber da gibt es kein Zurück mehr. Die Formulare nehmen dauernd zu — mit ihnen auch, das muß gesagt sein, die Gerechtigkeit. Aber wo endet das? Kann man Demokratie durch Gesetz erzwingen? Ist der Gerichtshof der Ort, wo Demokratie verwaltet wird? Ich meine das als echte Fragen, und entsprechende Gegenfragen an die Schweiz wären nicht unberechtigt.»

Ob er in seinen Schulmeistereien nun über den «abwesenden Krieg», «Die Aufgabe des Staates in einer sozialen Gesellschaft», über Wissen als Widerstand oder den «Abschied von links» (1985!) schreibt, mir ist dabei wieder oder einmal mehr klargeworden: weshalb ich dem Erzähler Bichsel immer so gerne zugehört habe. Und derartige Abwägungen läse ich gerne öfter auch von deutschen Autoren. Gerade nach den Vorkommnissen in letzter Zeit. Deutschland ist schließlich sauber. — Ließe sich diese Gegnerschaft nicht eigentlich auch (noch) weltfußballerisch ausfechten? Dann müßte nicht immerfort die Literatur bemüht werden. Oder am Ende gar die Politik.


* Zitiert nach der 1985 im Suhrkamp-Verlag erschienenen Erstausgabe.
 
Do, 24.06.2010 |  link | (4276) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


famille   (24.06.10, 13:09)   (link)  
Quasi schlussendlich
Da weht es politisch unter anderem von Griechenland herüber, wenn es so Fundiertes zu lesen gibt wie «EU-Schmarotzer». Möge am deutschen Wesen die weltliche Wirtschaft genesen. Oder verwesen.


jean stubenzweig   (24.06.10, 17:02)   (link)  
EU-Schmarotzer?
Sicher, das ist (auch) das deutsche Wesen. Wäre die Schweiz in der EU, klänge das aber auch nicht anders, wenn es dann auch ein schweizerisches wäre. Da sind die Völker in der Breite einander sehr ähnlich, in diesem markigen Getröte über das unfähige Fremde. – Ich versuche mir das gerade vorzustellen: Um den Endsieg kämpfen die Schweiz und Deutschland. Tröööt!


prieditis   (24.06.10, 17:08)   (link)  
Endsieg
Ich lag wohl gar nicht so falsch mit meiner Einschätzung, daß ab dem 11. Juni gelte: "Die Zeiten der unbegründeten Ressentiments und des Revanchismus sind zurück!"

Das "Trööt" gefällt mir, so als Satzanhängsel. Das hat was rheinisches...jeck.


jean stubenzweig   (24.06.10, 20:27)   (link)  
Vuvuuseela
hätte es ja eigentlich tröten müssen. Aber das hätten die Schweizer nicht verstanden. Und Vuvuuchappi klingt irgendwie seltsam, unseriös, vor allem aber fremd. Ich will mir doch unter Freunden keine Feinde machen.


nnier   (25.06.10, 11:11)   (link)  
Schon wieder so etwas Interessantes! Es will so gar nicht zu meiner derzeitigen Eile passen, das Thema, und ich konnte das da oben eher überfliegen als gründlich lesen; wenn mal wieder Zeit ist, werde ich das in Ruhe noch mal tun - und bis dahin versuchen, mich an die Eisenbahngeschichtenvon Bichsel zu erinnern, die ich ganz sicher mal gelesen habe.


jean stubenzweig   (25.06.10, 13:34)   (link)  
Zur Stadt Paris
Deshalb und dafür greife ich gerne nochmal in die Kiste des sogenannten Alten, wegen einem der Bücher dieses stilleren Eidgenossen, an die ich mich, mal von seinem Erstling (?) Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen und anderen abgesehen, ebenso gerne erinnere:

«Ich glaube«, sagt Peter Bichsel, «der Sinn der Literatur liegt nicht darin, daß Inhalte vermittelt werden, sondern darin, daß das Erzählen aufrecht erhalten wird. Weil die Menschen Geschichten brauchen, um überleben zu können. Sie brauchen Modelle, mit denen sie sich ihr eigenes Leben erzählen können. Nur das Leben, das man sich selbst erzählen kann, ist ein sinnvolles Leben.» Und: «Ich möchte der Geschichte die Geschichten entgegensetzen.»

«Die Welt des Peter Bichsel», so der überaus treffende und feinfühlig charakterisierende Klappentext des Buches, den ich besser nicht verfassen könnte, «[...] ist nie gegeben, d.h. definiert und eindeutig, sondern immer offen und einladend für jeden, der Phantasie des Autors und dazu der eigenen zu folgen, um in der Vielfalt des Lebens nach Liebe, Hoffnung und Geborgenheit zu suchen. Peter Bichsel deutet bei alldem, was ihm wie zufällig zu jeder Tag- und Nachtzeit begegnet, auf Welten, in denen es nichts gibt, was dem Menschen fremd wäre. Und so ersinnt, erfindet und erzählt er von Biographien, die unwahrscheinlich und wahr zugleich sind: Also treffen wir in Bichsels Zur Stadt Paris den Triefäugigen ebenso wie Albert Weisshaupt, der eine fatale Neigung zum Weinen hat, oder Erwin, den die Stammtischbrüder für einen Hochstapler halten, wie auch den Geiger Zingg oder die noch junge Frau, die mit drei Kindern, ihrem Mann und ohne Blinddarm ‹im ganzen überhaupt nicht unglücklich› in der Nähe von Rom lebt. Dabei haben Bichsels Personen eine Eigenschaft, für die man sie sofort mag: Sie strahlen Wärme aus, weil sie alle von ihrem Autor geliebt werden — seien es Fabrikanten, Fußballer oder einfach nur arme Tröpfe, Betrunkene, ganz Nüchterne, Dummköpfe oder Schlauberger, Kinder, ältliche Witwen oder Eskimos in New York.

Mit Zur Stadt Paris ist Peter Bichsel ein Geschichtenbuch gelungen, das uns Lesern — mal in kurzen Zügen, dann wieder mit längerem Atem — davon erzählt, daß es gerade das Kleine, das Minimale, das unscheinbar vor Augen Liegende ist, das uns, beobachtet man es genau oder läßt es einfach sprechen, alles über uns verrät.»

Peter Bichsel
Zur Stadt Paris
Geschichten
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1993



famille   (26.06.10, 13:58)   (link)  
Im Zusammenhang
mit der hier auch immer wieder stattfindenden Auseinandersetzung mit Architektur und Städtebau interessant sind die Kommentare unter den Phantomschmerzen eines Frankengläubigen. Davon weicht zwar der von egghat verlinkte Artikel von Jürg Altwegg ab, aber er gehört noch eher hierher und weist auch noch auf Aktualitäten hin: Gäb's nicht gerade überall Fußball, man könnte meinen, auch in der Schweiz und Umgebung könnte nach der Niederlage der (kalte, heisse) Krieg ausgebrochen sein.















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