Die Liebe in die Hose

oder der Gnadenflick.

Das hat so seine ganz eigenen Arten. Es muß was Sonderbares sein, sie so zu lieben. Im August vergangenen Jahres war ich prächtig amüsiert von Herrn Nniers zauberhaft erzählter Geschichte, die ich fälschlicherweise als Porno bezeichnete, war sie doch reine und feine Erotik, da sie mehr verbarg als nackte Tatsachen zeigte. Und außerdem sollte schließlich das der Maßstab sein: Welcher Schauspieler und Sänger könnte eine Liebe und Hingezogensein zu jemandem heute noch spielen, ohne das ganze auf Sex zu beziehen?

Doch ich hab's dann eben doch getan. Reumütig zitiere ich mich selbst: «Selten bin ich so langsam, so vorsichtig, so behutsam vorgegangen (beim lesen), um zum Höhepunkt zu kommen. Kaum ein Porno ist schöner gewesen als dieser.» Aber ich hatte eben spontan an diesen anderen, vermutlich weniger bekannten Aufklärer Mirabeau gedacht, von dem ich meinte, nur der «könnte da noch mithalten»: «Es schmerzte mich ein wenig, als [...] in mich einführte, ich litt. Doch ich ertrug diesen Schmerz in der Hoffnung auf eine höchst erfreuliche Sensation.» François Bondy empfand das anders oder nicht so sensationell.

Ich will in aller Unverschämtheit die Gelegenheit nutzen und erneut an dieses grandiose Kopfkino erinnern, an diese zwei wunderschönen (aber leider auseinanderfallenden) Dünndruck-Merlin-Bändchen Ausgewählte Schriften* (1970), aus deren im ersten Büchlein enthaltenen Erzählung Lauras Erziehung ich die beiden Sätzlein (Seite 486) zitiert hatte, zu denen ich sofort hingesprungen war, nachdem es (leider) mit Herrn Nniers Sätzen ein Ende gehabt hatte. Alleine die sexual-pschologischen Kommentare der Frau Dr. Johannna Fürstauer, die mir ähnlich mal anderswo begegnet zu sein scheinen, ich meine bei Alphonse Daudet — sogar der Autor der Briefe aus meiner Mühle hat einen über dreihundert Seiten starken Roman titels Sappho verfaßt, in dem der junge Jean Gaussin der älteren Fanny Legrand «zärtlich, lüstern und eigensüchtig» verfällt —, die mir als Verfechterin der Prüderie aufgefallen ist, schlagen Bondy um Längen. Letzerer hat es wohl nicht ertragen, daß einer wie der Abgeordnete Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, mal an was anderes gedacht haben könnte als an die einzige Art der Aufklärung. Es ist aber auch typisch für die Zeit, in der man durchaus mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft des Fortschritts rechnen mußte, las man anderes als Karl Marx. Aber François Bondy war 1971 bereits ein altersfortgeschrittener Herr. Was nicht heißen soll, daß er nicht auch Lesevergnügen bereiten konnte. Nur eben ein bißchen anders orientiert. Wie auch immer — der großartige und von mir durchaus ein wenig verehrte Verleger Andreas J. Meyer kannte sich (nicht nur) in der abseitigen französischen Literatur bestens aus. Bereits 1960 hatte er ein Verfahren am Hals wegen «Verbreitung unzüchtiger Schriften». Die Staatsanwälte und Richter, die auch anderenorts aktiv wurden, hatten wohl durchweg die Bibel, in deren Namen sie ja häufig klammheimlich mit (be)urteilten, recht selektiv gelesen.

Lauras Erziehung, verfaßt zwischen 1777 und 1781, vorangestellt hatte der Comte de Mirabeau*:
Zieht euch zurück, ihr eifernden Zensoren,
Schließt, Frömmler, Moralisten, Narren, eure Ohren!
Nicht sollt ihr eifernden Megären mit uns rechten,
Hinweg mit euch, ihr Stolzen, Selbstgerechten,
denn dieser Blätter süße Heimlichkeit
ist nie und nimmer euch geweiht.
Neuerlich auf all das gekommen bin ich allerdings über diesen am vergangenen Montag erschienenen, nicht minder köstlichen Blick auf die in die Hose gehende Liebe, durch der geschätzten Nachbarin Gnadenflick. Er stellt eine an die Sterblichkeit erinnernde Variante dieser Gnadenlosen Liebe dar: «Grau ist sie geworden, und dunkel war sie einst, wie dunkel, das lässt der ungebleichte, freie Fleck am Hinterteil erahnen, und lange wird die Hand brauchen, sich zu gewöhnen an eine Tasche weniger, das Alter fordert Tribut und Abschied.» So langsam erschallt (in mir) der Ruf nach einer eigenen literarischen Gattung, die in die Philosophie dieses Alltags greift wie eine Hand beim Hineingleiten in ein Loch ungeahnten Ausmaßes.


* Aus dem Inhaltsverzeichnis des Merlin-Verlags:

Honoré Gabriel Graf von MIRABEAU — AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN — Herausgeberin und Übersetzerin Dr. Johanna Fürstauer, 2 Bände, 596 u. 702 S. Lw. EUR 24,50
ISBN 3-87536-016-8

Seine wohlhabende Frau zwang der heißblütige junge Graf gegen ihren Willen zur Ehe, indem er sie kompromittierte. Als er wenig später wegen seiner Verschwendungssucht und seiner Ausschweifungen inhaftiert wurde, verliebte er sich in die Gattin des Gefängniskommandanten und entführte sie ins Ausland. Dort ernährte er sich von der Abfassung pornographischer Schriften und der Veröffentlichung unerschrockener politischer Pamphlete. Die 2-bändige Dünndruckausgabe bietet eine repräsentative Auswahl dieser Texte.

 
Do, 06.01.2011 |  link | (3704) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


hora sexta   (06.01.11, 16:32)   (link)  
Ich danke Ihnen. Sie erinnern mich daran, dass beim Hineingreifen in eine der vorderen Taschen die Linke jedesmal in einem Loch ungeahnten Ausmaßes verschwindet. Einmal hätte ich schon fast meinen Schlüssel zu allem dadurch verloren, der schon hinab wollte in die Gosse, und ich brauche ihn doch noch. Empirisch nähert man sich der Antwort auf die Frage, wieviele körpernahe Taschen genug und nicht zu viel sind für das Genug und Nichtzuviel des Lebens. Das letzte Hemd soll diese Hose jedenfalls noch nicht sein, aber wer weiß.


jean stubenzweig   (06.01.11, 20:05)   (link)  
Aus dieser Perspektive
betrachtet besteht mein Leben aus einem einzigen, riesigen Loch. Das hat allerdings die profane Ursache, Portemonnaies nie gebührend geliebt zu haben wie andere ihre Hosen (gleichwohl auch ich noch einige im Schrank hängen habe, von denen ich mich nicht trennen kann), Geldbeutel deshalb also immer gemieden zu haben. So ist manche Materie auch schonmal in der Gosse gelandet, jedenfalls solange, bis ich mich eines Tages endgültig entschlossen habe, nie mehr Kleingeld bei mir zu tragen. Das wiederum hat dazu geführt, einmal jährlich ein voluminöses Behältnis zur Bank oder Sparkasse meines Vertrauens zu tragen und denen das Ergebnis dieses meines Widerwillens auf den Tresen zu kippen. In der Regel hat dieser Umtausch jeweils für die Benzinkosten einer ausschweifenden Rundreise durch alle erdenklichen südlichen Löcher ausgereicht – auch wenn Kaspar Hauser behauptet, sie auf Reisen gäbe es nicht.


nnier   (07.01.11, 15:39)   (link)  
Nettere Sexualwissenschaft
"Esgibt eiüe gut eingespielte Tediniki ... ", "sexplogisch, sit tenkundlich" - da fragt man sich nicht nur, ob sie bei der Zeit damals gut beraten waren, ihren Chinesen fürs Abtippen bloß einen Akkordlohn anzubieten, sondern auch, was diese uneigennützige Googlebuchscannerei noch für Folgen haben mag: "Die Rotfärbung der Genitalzone hat die nettere Sexualwissenschaft ah ein Zeichen geschlechtlicher Erregung erkannt.", ah! Was mögen künftige Wissenschaftler wohl daraus machen!


jean stubenzweig   (07.01.11, 16:06)   (link)  
Holtzbrinck senkt eben Kosten
oder «spart», wie das umgangssprachlich staatskanzleiisch heißt, wie es eben alle machen im Lande Gutenbergs.

Die Arbeit machen die andern, was auch immer dabei herauskommen mag. So war ich es beispielsweise, der den neuen Hyperlink herausfinden mußte, nachdem die Zeit den alten (bei Ihnen noch enthaltenen) das Liche segnen ließ. Die Welt ist kryptisch geworden durch das von der sich nach Gebührendem sehnende nette Netz der hölzernen Verlage.

Aber seien wir friedlich gestimmt. Öffentlich-rechtlich befände sich das überhaupt nicht mehr im Angebot.















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