Die (Kin)Seherin vom Nockherberg

Seltsames geht in mir vor. Mindestens zwei Jahrzehnte lang wollte ich Bayern den Rücken kehren, München wieder verlassen. Es war immer schwieriger geworden, da aus einem sich beruflich in Bewegung gekommenen KüMo nunmal nicht so ohne weiteres auszusteigen ist, ohne dabei ziemlich naß zu werden. Aber nach fast dreißig Jahren war es mir dann doch gelungen. Zehn Jahre ist es mittlereile her, daß ich auf große Fahrt in den tieferen Süden aufgebrochen bin und es mich auch im höheren Norden angelandet hat. Und mittlerweile beobachte ich mich dabei, immer öfter in die bayerische Ferne zu sehen, ohne daß ich unbedingt nach einer Alpha-Funktion suchte. Doch weiterhin umschiffe ich diesen weißblauen Staat großräumig. Auch Berlin hat mich nach meinem Abgang wegen Überdruß erst wiedergesehen, als die Mauer durchlässig wurde. Der Wall gen Bayern steht, aber die Festung in meinem Kopf wird altersbröckelig wie Isar I.

Nun ja, ich hatte schließlich auch schöne Zeiten dort, wohin ich mich unter Schwierigkeiten aufgemacht hatte. München, das ich zunächst überhaupt nicht anvisiert hatte, sondern das liebliche Murnauer Moos mit seinem Blauen Reiter, ich von dort aber vertrieben worden war ins italienische Isar-Athen, das letztlich immer der Grund war, ständig wegrennen zu wollen, es hatte auch seine angenehmen Seiten. An sie herangeführt im größten Dorf der Welt wurde ich seit Mitte der siebziger Jahre unter anderem durch eine heranwachsende junge Kabarettszenerie. Und die kam aus Niederbayern. Einem Passauer Bauernbursch' war ich begegnet, der sich am Rand meines in seiner Nutzung dörflich anmutenden Planrechtecks Adalbert-, Amalien-, Schelling- und Türkenstraße in der Maxvorstadt als primus inter pares einer um 1977 gegründeten semiprofessionellen Formation namens Machtschattengewächse erwiesen und sich mit denen dann in einem weiter draußen gelegenen, recht robusten Hinterhoftheater niedergelassen hatte. Er erzählte mir von seiner Heimat und von Mitstreitern, die sich ebenfalls aufgemacht hatten, satirisch gegen Macht und Dumpfheit nicht nur des örtlichen Klerus' aufzubegehren. Neugierig fuhr ich dorthin und erfuhr im Scharfrichterhaus, welche Lebenslust der wortreiche Kampf gegen die Pfaffen und deren politische Vasallen hervorbrachte, daraus ging auch schonmal ein Christus hervor.

Intensiv und ausführlich leuchtete ich das dortige Geschehen wie beispielsweise den politischen Aschermittwoch in der Nie-Gelungen-Halle oder der Schlacht der kernig-kräftig ausgerüsteten Kapfinger-Soldateska gegen die kommunistisch geführte und mit Spielzeugpistolen schießende PKK (Passauer Kleine Zeitung) aus, und über lange Zeit hin war das eines der Themen, die mir oberhalb des Weiswurstäquators geradezu aus der Schreibmaschine gerissen wurden. Das dürfte seine Ursache darin haben, daß den Bremer, Hamburger und Hannoveraner Redakteuren (-innen gehörten zu dieser Zeit noch dem Raritätenkabinett an) alles nach Bayern Klingende gleichbedeutend mit Ohnsorg-Theater war, also norddeutsche Volksbelustigung für Urlauber am Alpenrand. Zur Ehrenrettung einzelner muß hinzugefügt werden, daß ihnen der Begriff Volkstheater tatsächlich bisweilen widersprüchlich erschien und sie auch darüber informiert waren, daß es sich bei der Partnachklamm um kein niederbayrisches Outdoorparadies mit angeschlossener Trachtenbühne handelt.

Nun ist das in seinen Anfängen durchaus beachtliche norddeutsche Fernsehtheater für ziemlich breite Zuschauer, auch Neues aus Büttenwarder genannt, mittlerweile zu dem mutiert, was man in Oberbayern nicht nur den japanischen Preißn als echte oder vielleicht besser verständlich als authentische Volksunterhaltung offeriert. Das sowie das nach wie vor Exotik assoziierende Bairische dürfte mit Ursache dafür gewesen sein, daß unser Mittlerer vergangenes Jahr das sich alljährlich wiederholende Derbleck'n bei Starkbier für sich entdeckt hat. Sogar Mutti hat er infiziert. Nein, nicht die kinderlose uckermärkische mit Regierungssitz Berlin, die seit einiger Zeit gerne so genannt wird, obwohl sie alles andere als mütterlich auf mich wirkt, die obendrein die bairische Seele nicht und somit auch nicht die Sprache versteht. Von der eigenen ist die Rede, die (Rand-)Kieler Sprotte. Und die erinnerte mich, vermutlich, um mir Gutes zu tun mit der Erinnerung an die alte Heimat, gestern daran — heute abend um sieben im Bayerischen!

Brav habe ich dem Folge geleistet. Und dann stand sie da, die Mutti. Nein, nicht die mecklenburgische, sondern die bayerische. Als brave, leicht überholte Bavaria stand sie, bereits in dieser Positionierung unterschied sie sich von ihren allesamt männlichen Vorrednern, neben, nicht hinter dem den Körper verbergenden Podest. Und was tat sie? Sie schimpfte ein bißchen. Anfänglich dachte ich noch, die von mir ansonsten sehr geschätze Kinseherin wird sich vermutlich erstmal warmreden, um dann verbal das Worthölzchen auf den Köpfchen tanzen zu lassen. Doch es kam eher zu weiteren — Frau Braggelmann rief das nach einer Weile empört in mein Telephon — Streicheleinheiten. Und sie setzte ihre Suada fort mit der Forderung nach Bruno Jonas, das sei noch ein richtiger Niederbayer; daß auch er ein Passauer Scharfrichter war, hatte ich als Kabarettchronist ihr mal erzählt.

Tatsächlich habe ich mich dann ausgeklinkt. Meine Beurteilung kreiste um Begriffe wie hintergründig oder tiefsinnig und daß man das vermutlich so nennen würde, käme die Kritikfrage auf. Und so kam's dann auch. Später hatte ich nochmal hineingeschaut ins Bayerische, wo sie dann in der Runde saßen, allesamt Frauen, an die ebensowenig ausgeteilt worden war wie an die Männer. Man war sich sanft lächelnd einig: hintergründig und tiefsinnig, das sei eine neue Qualität, irgendwo schmunzelte oder zischelte dann noch etwas zwischen strahlenden Zähnen in sanftmutigem Munde hervor, das nach weiblicher Dramaturgie hätte klingen können.

Na gut, ich bin ein Mann, und schließlich ist das kein politisches Kabarett, wie die gute Frau Braggelmann es bevorzugt, beispielsweise kein Dieter Hildebrandt oder kein Werner Schneyder, auch kein Urban Priol, und schon gar nicht ein Georg Schramm, ebenso keiner dieser eher stillen, aber um so hintergründigeren oder tiefsinnigeren, Eindringlichkeit vermittelnden wie Hagen Rether. Das ist eben Derbleck'n, Wirtshaushumor, bei dem zeigt man allenfalls die Zähne, aber man beißt nicht zu. Dennoch möge nicht in Vergessenheit geraten: Vorredner der Kinseherin haben das getan. Der eine oder andere hat sich damit auch abserviert, weil der eine oder die andere sich dann doch ein bißchen zu sehr beleidigt gefühlt hatten.
«Liebe Salvator-Freunde,
herzlich willkommen am Nockherberg. Diesmal am Weltfrauentag.


‹Lassen Sie uns uns selbst überraschen, wozu wir in der Lage sind.› Diesen Satz hörten wir alle in der Neujahrsansprache im Fernsehen. Vorgetragen von einer Frau, die gern die Bundeswehr in der ganzen Welt herumschickt und auch sonst mit Innenpolitik wenig am Hut hat.[...]»

 
Do, 24.03.2011 |  link | (6903) | 25 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ich schau TeVau


nnier   (24.03.11, 17:13)   (link)  
Es gehört zu den rätselhaften, aber auch liebenswerten Seiten der bayerischen Kultur und ist ja auch schon oft beschrieben worden: Diese manchmal doch ganz schön weit gehende Derbleckerei bei gleichzeitig unhinterfragter (na gut: inzwischen doch bröckelnder) CSU-Absolutheit. Diese Asül-Rede jedenfalls hatte es wirklich in sich. Wer aber ist Frau Kin-Dings?


jean stubenzweig   (24.03.11, 20:29)   (link)  
Die Luise Kinseher,
die kennen Sie tatsächlich nicht? Ach, wahrscheinlich stecke ich noch immer viel tiefer in Bayern, als ich es wahrhaben will.

Sie gehört zu diesen mir sympathischen Breitmäulern von den Charaktereigenschaften der Ratschkathl, die es auch im richtigen weißblauen Leben abseits der Stadt mit dem hohen Freizeitwert gibt, aber nicht nur im niederen, sondern sogar auch im oberen Bayern bin ich ihnen begegnet; immer wieder amüsant ins Filmische umgesetzt vor allem von Franz Xaver Bogner.

Auf die Kinseherin gekommen bin ich allerdings zunächst nicht wegen der mir genehmen bissigen Unterhaltung, sondern während der Suche nach Material zur Kabaretthistorie. So erfuhr ich von ihrer theaterwissenschaftlichen Magisterarbeit über Siegfried Zimmerschied, den ich ebenfalls seinerzeit im Passauer Scharfrichterhaus kennenlernte und der sich lange, eigentlich bis vor kurzem, Fernsehauftritte verkniff; vermutlich hat auch er nicht geklebt. Deshalb wohl verfolgte ich ihren Weg etwas genauer. Aus dieser Konstellation heraus bin ich wahrscheinlich auch enttäuscht von ihrer Buß- oder Fastenpredigt als bairische Göttin Bavaria. So muttihaft Streicheleinheiten verteilend ist sie – als Kabarettistin – nach meiner Beobachtung sonst nicht. Da kommt bei mir der Verdacht nach dem Karriereblick auf.

Andererseits heißt es, wie ich soeben in einer Vorankündigung der Südwest-Presse lese: «Die neue Fasten-Rednerin Luise Kinseher soll den Nockherberg-Starkbieranstich zu einer harmonischeren Show machen.» Vielleicht hat's tatsächlich deshalb gelahmt.

Der andere niederbairische Berserker wurde dann ja auch geschaßt; das war den Schörghubers (zur Erinnerung) als Veranstalter (Paulaner) dann wohl doch zu heftig. Aber ausgerechnet der (mittlerweile ebenfalls degradierte) Huber Erwin hat ihn dann für eine Nockherberg-Konkurrenzveranstaltung geholt, dem Maibock im Hofbräuhaus.


charon   (24.03.11, 22:21)   (link)  
Sie wirken tatsächlich bairischer als Ihnen lieb sein mag. Ich bin nun ein dreiviertel Jahr hier und zähle die Tage. Diese Blüte des politischen Kabaretts in Bayern erkläre ich mir weniger mit der verlogenen libertas bavariae als vielmehr mit dem Gesetz von der Steigerung kultureller Produktion in autoritären Gesellschaften. Wenn Kinder und Narren die Wahrheit sagen, dürfen all die anderen (50plus) eben lügen, daß sich die Balken biegen. Da aber selbst die Staatspartei auf mickrige 40plus/minus herunter geschrumpelt ist, müssen die Narren nun etwas weniger närrisch daherkommen. Das mag langeiliger sein, vielleicht wird daraus aber dereinst ein vernünftiger Freistaat.


jean stubenzweig   (25.03.11, 00:09)   (link)  
Die beengte Schweiz,
die einengende, so meinte mal jemand, sei eine geeignete geographische Formation, das eine oder andere kulturelle Mäuslein aus dem tristen Auf und Ab der ewigen Berge hervorgebären zu lassen. Es sei ein «schweizerisches Spezifikum», das einen «spezifischen Humor» hervorgebracht habe. Ein wenig oder auch schlicht weitergedacht: Als mittlerweile ausgewiesener Auslandsbayer (ein eingeborenes Baier steht mir zugestandenermaßen ebenso nicht zu wie ein Burger) sehe ich erhebliches Potential für die kulturelle Bewahrung des Friedens in einem freien Staat. Das ist die einzig wahre Liberalitas Bavariae: bloß keinen Ärger.

Geh'n Sie doch zu den Preiß'n, zu den z'widerwurzigen. Aber passen's auf. Da is Kriag. Das behauptet jedenfalls der Herr Alphons vom Westviertel.


charon   (25.03.11, 09:00)   (link)  
Nicht jede Behauptung wird kraft ihres Urhebers automatisch in den Stand der Tatsache versetzt.


kopfschuetteln   (25.03.11, 13:58)   (link)  
hier ist kein krieg., herr stubenzweig.
nur humorbefreiter poilitkbetrieb, realsatire.


jean stubenzweig   (25.03.11, 20:49)   (link)  
Ich habe das
auch nicht behauptet. Zumal ich mit Berlin keine Probleme habe. Und sollte ich doch welche haben, dann sind das solche, für die man nicht nach Berlin ziehen muß, weil es sie überall gibt. Und ganz besonders in München. Aber dazu sabbele ich morgen ein bißchen mehr. Jetzt ist mir erstmal nach Erbsensuppe mit Wirsing.


kopfschuetteln   (25.03.11, 21:18)   (link)  
Erbsensuppe mit Wirsing.
sind sie sich sicher?

morgen wird bei uns erst einmal demonstriert, aber am sonntag gibt es auch hier wirsing.

und, sorry, sie sabbeln nicht, sie erzählen.
bis morgen!


jean stubenzweig   (26.03.11, 06:38)   (link)  
Auch eine Demonstration.
Der Wirsing gibt der Erbsensuppe eine geschmacklich besondere Note. Zwar geht auch tiefgefrorener, aber frischer intensiviert. Auch ließe sich behaupten, unter Hinzugabe von Sahne käme es zu einer Paarung zwischen Anmut und dicken Erbsen. Gelehrt hat mich diese Kreation eine Dame, die beruflich in Bayern das Violoncello strich und im wesentlichen ihrer hochbürgerlichen Westend-Herkunft gemäß die feinere Küche bevorzugte. Aber hin und wieder, so sprach diese Mutter eines damaligen Kommilitonen zu mir, gehe es ihr wie der Frau im Frankfurter Bahnhofsviertel, die zu ihrem Begleiter sagte: Entweder du kaafst mehr jetz a Bratworschd oder gehst mit mer hahm, ich brauch endlisch was Waames in de Bauch.

Als mir eines Tages revolutionär zumute war, ließ ich die Erbsen sich auch schon mal mit Grünkohl paaren. Das gerät dann zwar eher zur Polka, aber das ländliche Leben hat für mich mittlerweile ja keine Rätsel mehr. Und wenn sich meine Geschmacksnerven überhaupt nicht entscheiden können, gibt's durchaus auch mal einen flotten Dreier. Und Würstchen dazu – nun ja. Wenn, dann aber keine, die schlank machen. Besser kommen kleine Hackfleischbällchen, wie man sie von den Albóndigas kennt, die auch in Sauce schwimmen. Diese Variante habe ich am Kreuzberger (ich nehme an, es war doch eher das Schöneberger) Rathaus kennengelernt, wo's Ende der Sechziger ganz oben unterm Dach am Wochenende ab Mitternacht Disco gab. Bevor man hinaufstieg zum Tanz, nahm man unten bei dem freundlichen Mann eine Bulette, die er aus dem heißen Wasser seines Bauchladens nahm und seinen köstlichen Senf dazugab. Das gab Kraft für einen Marathon bis früh um fünf.

À propos früh um fünf. Ich muß mich wieder hinlegen. Wegen schwerster Erkrankung. Die Nase läuft mir weg. Die Knochen sind mir schwer wie Blei. Ein Fieberbläschen entstellt mein Gesicht (kann man Erbsensuppe auch äußerlich anwenden?). Männergrippe? Oder eher Virus, wie die Fachfrau Braggelmann meint. Also Pest oder so. Ich leide. Wie ein Mann nur leiden kann. Gute Nacht.


charon   (26.03.11, 14:23)   (link)  
Gute Besserung! Möglicherweise taugt der Wirsing auch als Wickel.


kopfschuetteln   (26.03.11, 21:43)   (link)  
erst mal, gute besserung!
ein virus ist fies. ob äußerlich erbsensuppe mehr hielfe als irgendetwas anderes? wahrscheinlich nicht.

ich habe von dieser erbsensuppe-wirsing-kombination noch nie gehört. was überhaupt nichts bedeutet, natürlich nicht. was mir entgegen kommt beim nachkoch-versuch, ist die sahne. und frischer wirsing, immer.

grad hab ich gesehen, sie haben unter auferbietung all ihrer letzter kräfte neuestes geschrieben. mein buch darf warten (noch 200 seiten, pi-mal-daumen drei stunden), es rennt mir nicht weg…


jean stubenzweig   (27.03.11, 11:32)   (link)  
Im Sterben liege ich
zwar nicht, aber irgendwie ist meine Körperwelt nicht in Ordnung. Selbst die erwähnte Erbsensuppe, ansonsten ein ein probates Heilmittel, hat sie nicht zu korrigieren vermocht. Sogar die Enkeleins müssen sich untereinander bzw. dürfen Opa heute nicht verdreschen. – Alles (und alle anderen) später, wenn ich wenigstens wieder sitzen und nicht nur liegen mag.


kopfschuetteln   (27.03.11, 19:35)   (link)  
das wäre ja auch noch "schöner". sie müssen wohl (und kein oder) wieder auf die beine kommen.
mit bloggerkollegialen grüßen auf baldigste genesung!
(ich habe, weil ich gestern meiner guten alten tradition, „quer“ zu schauen (kein br in kurz-vor-moskau) nicht frönen konnte, dies heute nachgeholt. auch das quere team fand den nockherberg sehr kuschelig.)


jean stubenzweig   (28.03.11, 11:32)   (link)  
Ist unser Freund
als Bavaria aufgetreten? Na ja, vielleicht ist er dann doch ein bißchen zu hager, um diese Galionsfigur auszufüllen.


kopfschuetteln   (28.03.11, 20:17)   (link)  
nein, er war ganz er selbst und somit dann doch gallionsfigur.
ich glaube, früher habe ich hin und wieder extra3 geschaut - ich meine, das ist auch nicht mehr das, was es mal war.


jean stubenzweig   (28.03.11, 22:24)   (link)  
extra 3
empfinde ich seit längerem als unangenehm — wie mittlerweile fast den gesamten NDR. Ich habe den Eindruck, daß der sich zusehends dem Quotenprinzip eines MDR oder gar eines HR annähert. Teilweise ist das nur noch peinlich. Beklagt habe ich das vor allem mal wegen NDR-Kultur im Radio. Im alten Blog stand das, als Eintrag vom 10. Juli 2007. Ich trage es hier mal nach.

NDR. Kultur? Wussow-Sägebrecht!

Neulich, als Professor Brinkmann von Bord seiner schiffbaren Geriatrie ging, wäre es mir beinahe wie Schmollsenior gegangen: Klapsmühle. Den ganzen Tag ging das, nein, zwei Tage: Unser aller, er ist dahin. Es war von einer derartigen Penetranz, daß der Eindruck aufkam, niemand stürbe außer ihm. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt bereits in die Öffentlichkeit hineinjaulen, doch man hat ja auch noch etwas anderes zu tun, als sich immer wieder honorarfrei zu betätigen. Doch nun, schon wieder. Nein, gestorben ist sie nicht, unsere Marianne. Und gemeint ist auch nicht jene Marianne, die gerade europa-, ach was: weltweit in Person dieses überassimilierten Ungarn die Tricolore überall hinnagelt. Es geht um, wie es ähnlich schon bei Wussow hieß, eine «weltberühmte Schauspielerin» — alle fünf Minuten. Nachrichten gibt's nur alle Stunde, und auch da heißt aaandauernd: Sägebrecht ...

«Sägebrecht, Sägebrecht ...?» Schmollsenior kommt gerade schwerstschnaufend von der fünften Frühmorgenseinkilometeretappe seiner rennradelnden Tour du nord und grantelt estremamente creszendierend: «Sägebrecht, Sägebrecht ...? Da war doch mal was. Ist das nicht die, die völlig out of Rosenheim ist? Die ehemalige Mutti vom Muttibräu, die dann als Biene Maja plüschkostümiert auf der Bühne des Münchner Kleinkunst-Marienkäfers herumhüpfend den Debütanten Konstantin Wecker anmoderierte, der damals zum ersten Mal öffentlich kundtat, genug — Koks? — sei nicht genug und unsereins meinte, das sei nun wirklich nicht genug und man sich daraufhin von dieser schrecklich sympathiepenetrierenden Walze der Phantasieunbegabtheit bezichtigen lassen mußte? Die, die vor ihren Großauftritten bei Pfitzingers Leib-, Magen- und Haßblatt Abendzeitung mindestens die Erfindung des großen Journalismus reklamierte? Und die dann von diesem Menschen, der so heißt wie eine Berliner Touristenabsteige, aus dem Verkehr gezogen wurde, indem er um sie herum diese Schnulze drehte, mit ihr, die seither als oberbayerische Muttergottes des Menschelns gehandelt wird?»

Richtig, um die geht es. Und kein Wort von diesen theatralischen Glanzleistungen auf dem weltgewandt-flitternden Münchner Kuriosenparkett geht übern Sender. Schmollsenior schnauft wie ein Walroß, das zu Fuß den Mont Ventoux hinaufgerobbt ist. Doch das liegt weniger an seinen sportiven Anwandlungen (eine Tour, die er glücklicherweise nur einmal jährlich hat), sondern er schäumt, weil ich diesen Namen genannt habe beziehungsweise daß der gerade die klägliche Ruine des ehemaligen NDR-Kultur-Programms okkupiert hat.

Ja. Ein Programm des Norddeutschen Rundfunks, das sich NDR-Kultur nennt. Und es geht darum, daß dieses andere Walroß irgendwo in Bremerhaven oder so aus seiner — man will es kaum glauben — Autobiographie gelesen hat und heute oder morgen in Hamburg und aus derselben dann noch anderswo lesen wird und daß alle — allen voran die von keinem winzig-kritischen Wörtlein angetriebene Berichterstatterin — frenetisch applaudieren. Klar. Millionen (Quoten-)Fliegen können nicht irren. Hörer! Zahlen! NDR-Kultur. Das ist diese völlig aus dem Kulturverständnisruder gelaufene Schiene, die erfolgreich klassischer geworden ist, als es ein Klassik-Radio mit seiner Erbschleicher-Mentalität je wird sein können, mitsamt dem sülzenden Personal, das von diesem Dudelsender übergelaufen worden ist — Kultur: stündlich (mindestens) Professor Brinkmann und seine Oberschwester Sägebrecht.

Privateres, noch tiefer gelegtes Kultur-Radio kann ein gebührenbewehrter Sender mit öffentlich-rechtlichem Kulturauftrag nun wirklich nicht mehr machen, zumindest was den Informationsteil betrifft. Fast ist man versucht, sich beim Mitteldeutschen Rundfunk zu erholen. Wir, die wir Bayern endlich das Hinterteil gezeigt haben, kriegen feuchte Augen: Was für ein Programm, dieses Bayern 2-Radio! Doch es ist eben nicht zu empfangen, hier oben im ansonsten wirklich schönen Kurz-vor-hinter-Sibirien.

•••


Aber offensichtlich machen die nun auch das Fernsehen platt. Was war Neues aus Büttenwarder in der Anfangszeit mal für eine gute, wirklich komische Serie. Nun ist sie nur noch breit. Wie die Masse, für deren Humorkenntnisse das übersetzt wurde. Und extra 3 ist nicht mehr weit davon entfernt, dieses Format anzunehmen.


kopfschuetteln   (29.03.11, 12:09)   (link)  
sehr schön, herr stubenzweig, daß sie das "ausgegraben" haben.
weniger schön, daß es so weit gekommen ist mit extra3.

wahrlich, das fernsehen wird immer sonderlicher, ich bin froh, daß ich am vorabend ohnehin keine zeit dafür habe; hilfe ich bin die zielgruppe:
Von der "Temperatur" des Programms ist dann die Rede und davon, dass die Zuschauer den Vorabend "fühlen" sollen.


jean stubenzweig   (29.03.11, 23:31)   (link)  
Nichts geändert hat sich,
der NDR in Führungsposition beim Einseichten. Überrascht bin ich nicht, aber immer wieder entsetzt. Naiv bin ich, der ich immer noch irgendwie daran glaube, obwohl ich ja eigentlich an nichts glaube, es könnte dem Volk eines Tages doch noch ein Licht aufgehen. Aber das zu verhindern, deshalb sind die versammelten Bildungsinstitutionen allüberall letztendlich ja angetreten. Unentwegt werden landauf-, landab Gräber geschaufelt, in die über das Licht der Erkenntnis die schwere Schaufel alles Irdischen kömmt. Hauptsache, es wird geglaubt. An das Gute.

Aber gut, unsereiner lebt schließlich im Privilegium, nicht hinschauen zu müssen.

Die Berliner Zeitung täte ich, täte ich noch Zeitungen abonnieren, mittlerweile abonnieren. Aber nur die von Ihnen vorgelesenen Artikel.

Ich leg mich jetzt zum Fernsehen.



kopfschuetteln   (30.03.11, 12:45)   (link)  
das fernsehen ist für die bildung nicht verantwortlich, nein. (es bedarf keiner weiteren worte.) obwohl man weiß, wenn die erinnerungen nicht trügen, es war mal anders. jawohl, es war .

die “berliner Zeitung”: ich habe bei mir mal in der erinnerungskiste gekramt.


jean stubenzweig   (30.03.11, 14:36)   (link)  
Oh ja, ZAK, das war's!
Berliner Zeitung – ich erinnere mich. Eine haarige Geschichte war das, mit der Zusammenlegung, mit Vorkötter. Aber man hat sich anscheinend erholt – wobei ich mich dabei zugestandenermaßen hauptsächlich auf den Filter meiner Vorleserin stütze.


kopfschuetteln   (30.03.11, 15:09)   (link)  
da können sie mal sehen, welche erinnerungen sie so freisetzen...
und, stützen sie sich, gerne.


frau braggelmann   (24.03.11, 21:06)   (link)  
sehr geehrter herr stubenzwerg
noch einmal "mutti" und ich verpasse ihnen windeln !

herzliche gruesse vom "braggelberg" !


jean stubenzweig   (24.03.11, 22:24)   (link)  
Leichter Inkontinenzverdacht
schwingt da nun aber mit. Darf ich nun so endgültig beleidigt sein wie einer dieser Politiker, die nach dem nockhergebirgigen Ansitz wirklichkeitswahrnehmungsgestört sind? Aber ach – der Panther (πάντα ῥεῖ, pánta rheî) steigt kein zweites Mal in den alten Fluß.

Ach Mutti. Es geht doch um eine bajuwarische.


ilnonno   (25.03.11, 16:24)   (link)  
Obwohl ich eine Art Bayer bin, habe ich diese Veranstaltung zum erstenmal gesehen. Nach einem bis in den frühen Abend ausschweifenden Mittagessen war ich zu nichts anderem fähig.

Trotzdem war das so langweilig, dass ich mich frage, warum da jedes Jahr so ein Aufstand gemacht wird. Ist das immer so, dass um das eigentliche Thema ein mehrfaches an Vor- ("wie wird es werden?), Während- ("wie ist es gerade?") und Nachprogramm ("wie war es?") veranstaltet wird?

Witzig fand ich nur, dass die Kinseher auf die Frage, ob sie sich die Haderthauer als erste bayerische Ministerpräsidentin vorstellen kann, ums Verrecken keine Antwort gegeben hat. Aber zu der Zeit habe ich nach ein paar Sätzen von Ude schon mit dem Schlaf gekämpft.

Geht es nur mir so? Der Söder-Darsteller ist doch dem Fahrenschon wie aus dem Gesicht geschnitten. Ist das bei der Besetzung keinem aufgefallen?


jean stubenzweig   (25.03.11, 19:03)   (link)  
Als ich noch in München
wohnte, habe ich mir das ebenfalls nie angetan, auch später nicht. Aber komischerweise hat ausgerechnet meine norddeutsche Familie mich angeheizt. Und aus der Ferne bekommt das möglicherweise eine andere Perspektive. Da könnten auch die paar angenehmen Erinnerungen dranhängen, und es dürfte ebenso am Dialekt liegen, dem ich auch früher schon recht gerne gelauscht habe.

Nun ja, in den letzten Jahren hat das Spektakel, wohl seit Django Asül, tatsächlich einiges an Wirbel verursacht. Beurteilen kann ich es nicht, da ich auch nur Ausschnitte kannte und zum erstenmal gezielt eingeschaltet habe. Das erste und das letzte Mal.

Es war öde. Dabei hatte ich mich durchaus darauf gefreut, weil ich mir gerade von der Kinseherin einiges erhofft, ja geradezu erwartet hatte. Aber wenn selbst die Kielerin Frau Braggelmann nach Bruno Jonas ruft – der ja nicht unbedingt der Härteste im Garten der Harten war –, dann ist etwas morsch im Dramaturgie-Gebälk. Je länger ich darüber nachdenke, um so offensichtlicher erscheint es mir, daß da gezielt die Luft rausgenommen wurde, weil in Bayern in letzter Zeit vielleicht ein bißchen zuviel politisches Porzellan zerschlagen wurde.

Dieses Singspiel, das ich gar nicht mehr gesehen habe, weil ich vorher ausgestiegen war, muß wohl unterirdisch schlimm gewesen sein, wie mir Frau Braggelmann erzählte.

Und was die Ähnlichkeiten, nicht nur die zwischen Fahrenschon und Zinner, betrifft, die kann man durchaus entdecken.















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