Von Mauern, Gräben, Grenzwällen und Kriegen

In einem seiner früheren Leben, einem recht frühen, einem, das noch von nomadiger Kindheit gesäugt wurde und daraus eine Jugend nährte, die sich mannhaft oder auch erwachsen äußerte, wäre er beinahe mal in den Krieg gezogen. Zu Mannhaftigkeit und Erwachsensein gehörte zur Zeit seiner jungen Jahre auch, zu heiraten und Verantwortung zu übernehmen. Beides tat er, vom Alter her gesetzlich zwar befugt, aber in geistiger Entwicklung doch noch näher an jugendlichen Idealbildern von Heldenhaftigkeit. Erst trat er in den Stand der Ehe, erzählte seiner zum Zeitpunkt der Heirat noch nicht volljährigen Gattin viel von einer ihm den Rücken stärkenden großen Familie in der Levante und philosophierte über deren Erweiterung durch sie beide. Der Backfisch hörte das romantische Abenteuer heraus, in das seinerzeit viele junge Menschen sich zu stürzen bereit waren, da zumindest ein politisch veredelter Abzweig des Kommunismus noch nicht wie heutzutage als ein Irrtum eigentlich rein kapitalistisch zu schreibender Geschichte erachtet wurde. Selbst Angehörige fremder Religionen wurden, teilweise wohl auch aus einem Wiedergut-machungsgedanken heraus, Mitglieder überwiegend landwirtschaftlicher Kollektive im brennend heißen Wüstensand, den sie dort zu begrünen, also zu kultivieren mithelfen wollten. Beim Gros dieser Feldarbeiter war der Aufenthalt jeweils vorübergehend, dem jungen Ehepaar aber sollte sein über direkte mütterliche Abkunft verankertes Siedlungsrecht religiösen Ursprungs auf ewig an eine Stadt dieses Landes binden, in das, als es als Staat noch nicht existierte, bereits viele Menschen aus aller Welt zusammengezogen waren, um endlich in jener Heimat anzukommen, die über eine Schriftenrolle festgehalten und später als historisch bezeichnet worden war. Die Immigration war so gut wie geregelt, aber quasi auf dem noch virtuellen Weg und vor Reisebeginn durch das Mittelmeer fingen sozusagen im Vorhof zu Scylla und Charybdis die Sirenen an zu singen. Sie bewirkten ein Innehalten vor diesem von Wagnis gezeichneten Weg, und so hatte der alte Homer ihn davor bewahrt, in eine Odyssée zu geraten, die ihn nicht in sein gemütliches Ithaka, sondern womöglich auf den Friedhof eines schlimmeren Schlachtfeldes als Troja geführt hätte. Sein heldenhaftes Vorwärtsstreben hatte einen ersten in ihm selbst gewachsenen vernunftbestimmten Aussetzer, die Einwanderung war so gestoppt worden, und er mußte nicht in diesen Krieg ziehen, der bekannt wurde als einer, der sechs Tage dauern sollte und dem weitere folgen würden.

Ob es an dieser Absage durch ihn lag, das ist bis heute, einiges über vierzig Jahre danach, nicht wirklich geklärt, aber relativ kurz nach diesem einsamen Beschluß, nicht in den Krieg und dessen angrenzenden Gebiete zu ziehen, war die Ehe gescheitert, zunächst die Trennung von Tisch und Bett vollzogen, so nannte man das damals, die gerichtliche sollte sehr viel später erfolgen. Es belastete ihn nicht übermäßig, zumal er es war, der anschließender Unmöglichkeit weiteren Ehevollzugs denselben böswillig interruptiert hatte. Überhaupt hatte diese Zäsur in seinem Leben ihn in ein neues geführt. Es sollte ein gänzlich eigenes sein, unbelastet von allen Belastungen, die familiare Bindungen häufig mit sich bringen, wenn sie von traditioneller hierarchischer, sozusagen vorbildlicher Prägung sind. Niemand sollte mehr darüber bestimmen, an was oder an wem er sich zu orientieren habe, seine geographische Zielrichtung war eine eher okzidentale geworden. Alle ihm blutsverwandtschaftlich injizierten Werte wurden geprüft und in weitesten Teilen für die Zukunft verworfen. Sämtliche Brücken in die familiare Vergangenheit wurden gesprengt, spätere, mehr oder minder zufällige Begegnungen bestätigten ihm die Richtigkeit seiner Abrißarbeiten (Ungleiche Brüder).

In seiner Welt entstanden zuvor nie gesehene Bilder, die ihm eine Kindheit und Jugend lang vermittelte Farbenlehre verlor ihre Gültigkeit, alle einst reinen dualistischen Nichtfarben nahmen in seinem Kopf die Gestalt einer Spektralpalette an, die ihm vorher allenfalls durch den erzieherisch etwas aus dem Abseits, aus der rechtsfreien Zone der Unehelichkeit wirkenden Vater angedeutet worden war. Fernseh- und damit Freizeitphilosophen vulgärkommunistischer retrospektiver Prägung nennen das gerne ein Kessel Buntes. Für ihn bedeuteten es erste intensivere eigene Gedanken zu einer Vielfalt, die er während seiner vorherigen unfreiwilligen Wanderjahre zwar kennengelernt, über die er zuvor jedoch noch nie nachgedacht hatte. Als Multi-Kulti hat sie sich umgangssprachlich verbreitet, als Interkulturalität taucht sie in Versuchen auf, eine seit Jahrhunderten gewachsene Realität zu beschreiben und zu begründen. Häufig geschieht das zum mehr oder minder erregten Mißfallen von Ideologen oder auch Dogmatikern, die im Beibehalten oder neuerlichen Ziehen von Grenzen die alleinige kulturelle Rettung der Welt sehen. Die tiefsten Gräben scheinen dort immer wieder aufs neue geschaffen zu werden, wo die verbreitetsten Religionen offenbar so unversöhnlich gegenüberstehen wie beispielsweise am Rand des Landes, dessen Einwohner aus den entlegensten Winkeln der Erde kommen.

Bei einem seiner letzten Besuche in Nahost begegnete er einem renommierten Künstler, der die vereinigten Staaten, in die er als Kind umgezogen worden und in deren Kultur er aufgewachsen war, verlassen hatte, um fortan nahe der Grenze die andere, die Mischkultur in seinem Mutterland zu leben. Das sollte sein Beitrag zum Frieden, sein Versuch sein, auch religiöse Grenzen zu überwinden. Denn seit langem betete er, wie noch zu Zeiten seiner Kindheit und Jugend, keinen Gott mehr an. Ein solcher existierte nicht mehr für ihn. Aber er war von einem kulturellen Umfeld geprägt worden, das auf Religion gründete. Dem konnte und wollte er sich nicht entziehen. Doch ebenso wollte er Mauern niederreißen und Gräben zuschütten, auf daß die Kulturen nicht nur besser aufeinander zugehen, sondern sich auch vermischen konnten, zumal er wußte, daß es auch auf der anderen Seite der Grenze Menschen gab, die den ihnen in jungen Jahren verordneten oder auch befohlenen Gott nicht mehr anzubeten bereit waren, zumal sie alle wußten, daß alle Kulturen sich früher schon einmal miteinander vermischt und zu Einheiten geworden waren. Fortan nannte der Künstler sich Kulturjude und seinen Freund von der anderen Seite der Gräben und der Mauern Kulturmuslim. Manchmal erhalten sie Besuch von Kulturchristen und anderen Kulturnichtgottsuchern, die ebenfalls gegen diese in Europa und den USA neu errichteten sowie in Asien fast schon althergebrachten politischen Grenzwälle und Bollwerke gegen das Fremde sind. Und wenn sie nicht gestorben werden, dann leben sie noch morgen.
 
Sa, 13.08.2011 |  link | (2416) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches















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