Geräuschkulisserie

«Musik wird oft nicht schön gefunden», ließ uns Wilhelm Busch wissen, «Weil sie stets mit Geräusch verbunden.»* Ob er auch nur geahnt hat, wie das eines Tages einmal ausarten würde, vor allem dort, wo sie als Krücke für bewegende bewegte Bilder herhalten muß, quasi als sinnentstellendes Nebengeräusch?

Früher war es vor allem die Radio- und Fernsehwerbung, die mich, um's mal moderat auszudrücken, allzu oft in Erstaunen versetzte wegen ihres gnadenlos platten und inhaltsfreien Einsatzes klassischer oder sich der Klassik annähernden Musik. Deshalb will ich mich seit langem dazu äußern. Ausführlich. Es wird mir wieder nicht gelingen. Denn immer wieder entschwinden mir die Beispiele aus dem Kurzzeitgedächtnis. Bis ein abstruses, irgendetwas begleitendes Klangbild in mein Gehör hineinstreicht, daß es derart wehtut, als ob mich dieser niederländische fiedelnde Folterknecht namens André Léon Marie Nicolas in Arbeit hätte.

Vor ein paar Tagen war's mal wieder soweit. In einer Reportage über Deutsche, die sich in die Wärme Spaniens verflüchtigt und dabei nicht nur vergessen haben, wie sinnvoll es sein kann, sich mit einer Kultur und deren Sprache(n) zu beschäftigen, inmitten derer man zu leben gedenkt, sondern auch, daß der Mensch älter wird und möglicherweise gar gebrechlich. Und daß das Land, dem man den Rücken gekehrt hat, dafür nicht zahlt im fremden Land, Europa hin, EU her, man also wieder zurückmuß dorthin, wo man einst hineingeworfen wurde, um dort Altenpflege zu empfangen beziehungsweise zu erhalten. Viel Leid wird gezeigt in dieser Reportage, auch viel schöne Landschaft und herzallerliebst Inneres von Architektur, die man sich hingerichtet hat seit zwanzig oder dreißig Jahren für den Rest des Lebens, das nun vorbei sein soll. Dazu hier ein wenig untermalende Streicherei, dort mal etwas Kastagnette, die Gegend will schließlich illustriert sein, weil man sie sonst vermutlich nicht erkennt. Dann ein Schwenk über die Hügel der Costa Blanca oder noch weiter hinunter, wo alles staubt, obwohl sie das Wasser aus den Pyrenäen abziehen bis nach Frankreich. Und dazu plätschert dann Keith Jarrett in den Flügel, man erkennt sein Spiel gerade, wenn man ihn denn kennt, immerhin länger als die neunzehn Sekunden, nach denen die GEMA zugreift, mal kaum hörbar eben, dann wieder ein paar Tastengriffe lang deutlicher: Kölner Oper, am 24. Januar 1975, jenes Köln Concert, das der eine oder andere so langsam wieder vorsichtig zu hören beginnt, weil es lange Zeit in den Ohren wehgetan hat, so oft kam es einem entgegen aus dem Radio oder auch vom eigenen Plattenspieler (ich kann die Vinylscheibe mit dem Daumennagel abspielen). Jetzt, da ich dies hier schreibe, erinnere ich mich, es vor einiger Zeit schon einmal (wieder-)gehört zu haben, ebenfalls in einer Reportage. Damals ging es, wenn ich mich recht erinnere, um alte Arbeitersiedlungen im Bergischen Land. Alter. Architektur. Landschaft. War's derselbe Autor, zumindest der Redakteur, der ihm gesagt hat: Hier muß Musik drunter, das wird sonst zu trocken. Nun gut, Köln ist ja nicht weit weg ...

Die Tage nun, in der TV-befreiten und nur dem Fernblick dienenden Landschaft fast ein bißchen übermäßig mit deutschem Lied aus französischem Radio überspielt, lese ich, fast schon seltsam anmutend anläßlich meiner musikalischen Gedanken: «Welch wunderbare Koppelung von Musik und Handlung. Auch wenn so was an und für sich unanständig, qualitativ beschneidend und fast schon zynisch gegenüber der absoluten Musik ist — es gibt Fälle, in denen das Zusammenspiel von Handlung in bewegten Bildern und Musik Gutes hervorbringt. Alleine das Setting: in einem Friseursalon; an einem Ort, der dem Putz dient, der Politur der Oberfläche, wird er mit seiner ganzen inneren Hässlichkeit konfrontiert.» Genelon beschreibt den musikalischen Strang einer filmischen Einheit. «Man vernachlässige den Film, den man einmal ansehen kann und adieu.» Er begründet das in Worten, die unsereins gerne öfter mal läse: «[...] Krankheit der Filmindustrie, die den Wunsch eines wachsenden halbweltlerischen Zielpublikums erkannt hat, sich mit dem erlesen-verruchten Geiste scheinbar scheinbar konventionsbrechender Einen-Schritt-Weiter-Denker besonders verwandt zu fühlen, der in Wahrheit nichts als intellektuelles Halbstarkentum ist, Schlausein für geistige Goldgräbertypen, die aus der innerfilmischen Logik auszutreten nicht imstande sind, aber mit Vorliebe und Kontinuität aus allen Filmen herausfischen, was sich besonders verwegen angehört hat, um es bei der nächsten sozialen Gelegenheit so beiläufig wie möglich als Marke Eigenbau wiederzuverkaufen.» Dann jedoch geht er auf den Kernpunkt ein, die Musik. Er beschreibt minutiös, was da vonstatten geht und schließt: «Man soll sowas nicht machen — der Musik Treibladungen unterschieben, etwa durch dabei vorgetragene Geschichten oder bewegte Bilder, dadurch verkümmert langfristig die reine musikalische Phantasie. Musik muss für sich selbst stehen [...].»

Nun ja, vielleicht ist das ein wenig viel verlangt, derart zugesoßt, wie wir nunmal sind. Bei den vielen einheitlichen Stimmungen, die da ständig erzeugt werden wollen. Von der Werbung soll hier nichtmal unbedingt die Rede sein. Gleichwohl es sicherlich einen gleichbleibenden Eindruck auf den Konsumenten macht, wenn Edvard Grieg auch über die sanfte thüringische Bratwurstlandschaft streicht. Es muß ja nicht gerade Ases Tod oder Solvejgs Lied sein, die sind schon zu bekannt geworden via KlassikRadio oder NDR-Kultur (als Literatur verschwindet sowas allerdings eher in der Stunde, die man krank war). Irgendwas aus der Mitte, das gut und gern auch ein bißchen Kalevala sein könnte, das macht sich auch ganz gut, denn irgendein irgendwie leicht rätselhafter Wiedererkennungseffekt möchte schon sein. Und richtig, Sibelius' Bläser hörte ich so manches Mal über die Wälder um die Villa Hügel tröten oder dessen Streicher den Schwarzwald einfärben. Sogar in Frankreichs Haute-Provence sind sie mir schon widerfahren, als es darum ging, den Mistral zu untermalen, auch wenn der dorthin gar nicht kommt, sondern kerzengerade die Rhône hinunterfegt. Solche lautmalerische Illustration geben die beiden Skandinavier eben am besten her. Auch wenn sie als Komponisten so grundverschieden sind, die vielzitierte «späte Romantik» hin oder her.

Aber woher sollen die Rundfunk- und Fernsehautoren auch wissen, welche Musik wo einsetzbar ist? Für sowas ist doch keine Zeit. Schon an der Uni müssen sie sehen, daß sie den Lernstoff bewältigt bekommen. So ein Bachelor geht schnell vorüber. Die Journalistenschule oder ein BWL- oder Jurastudium mit Volontariat sind dabei auch nicht eben hilfreich. Und in der Penne haben sie gerade gepennt oder mußten zum Ohrenarzt. Im Deutschunterricht ging das ja mit Kempowski los, «eingeschränkte Halbwertzeit» eben. In Musik gab's nur Bach oder Beethoven oder diese Kunstlieder von diesem Schubert oder so'n Kram, in die hauptstädtische Oper mußten sie auch mal mit diesem gekreischfanatischen Lehrer, was aber allesamt schlecht einsetzbar ist für sowas. Es will aber produziert werden. Reportagen, Features, Dokumentationen. Sie alle benötigen Illustration. Mit dem zuhause gehörten Techno oder Punk oder Udo Jürgens oder «James Galway, diesem André Rieu des Blasinstruments» (Herbert Köhler) ist das irgendwie nicht so günstig für das eigene Ansehen im Bekanntenkreis. Also greift man in die unverfängliche Kiste mit den immergleichen fünf Musiken. Wie die Werbeindustrie. Bei der wehte eine Zeitlang ohn' Onterlaß ein molliger primavera über die fröhlich trocknende weiße Wäsche. Es spielt aber auch weiter keine Rolle, denn die geneigten Hörer oder Zuschauer beziehungsweise -seher können's ohnehin nicht unterscheiden. Die Zeit der aufklärerischen Enzyklopädisten ist unwiderruflich vorbei. Das Fernsehpublikum sehnt sich nach dem Schlichten, dem Wiedererkennbaren, nach der inszenierten biblia pauperum.

Aber wenn man's doch wenigstens erkennen könnte.


* Wilhelm Busch: Der Maulwurf. Sämtliche Werke I, Und die Moral von der Geschicht, Rolf Hochhuth (Hrsg.), München 1982
 
Fr, 27.03.2009 |  link | (5420) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ohrensausen


hap   (27.03.09, 22:44)   (link)  
Ertappt - das heißt doch bei Busch
"... Musik wird störend oft empfunden ...", so dachte ich, und musste mich eines Besseren belehren lassen bei "Zettels Raum": zettelsraum.blogspot.com/2008/04/zettels-meckerecke-da-trommelt-der.html


jean stubenzweig   (28.03.09, 00:19)   (link)  
Das ist ja oft so.
Gerne übernimmt man aus des Volkes Mund, wie's der Dichter dann doch nicht so rund ... Deshalb habe ich ja die richtige Version hingeschrieben – und eventueller Proteste wegen die Quelle angefügt.


nnier   (27.03.09, 23:12)   (link)  
Hm.
Das mit dem Kempo (wie er von Rühmkorf mal genannt wurde und sich darüber freute, wenn ich mich recht erinnere - um das mal betont beläufig einzuflechten; dafür habe ich nicht die ganzen Tagebuchwälzer gelesen, um das jetzt nicht anzubringen!), das verstehe ich nicht: "Im Deutschunterricht ging das ja mit Kempowski los" - was denn? Oder bin ich zu müde? Den ganzen Tag mit dem neuen Laptop gekämpft - all die störenden Programme deinstalliert - und ohnehin geistig lahm zur Zeit. Aber ganz kurz zur Musik: Sie wissen, dass ich mich mit der klassischen nicht auskenne. Aber sogar mir fällt auf, dass immer die gleichen zwei Mozartstückchen und dann mal eins von Verdi oder die Carmina Burana herangezogen werden. Und das Verdi-Stück ist doch das Lied aus der Pizzawerbung, das auch für Chococrossies genommen wurde. Oder? Ach, könnte ich das auch alles mal deinstallieren.


jean stubenzweig   (28.03.09, 00:55)   (link)  
Kempowski ist ein Witzelchen.
Ich hätte auch Grass oder Böll oder 47 andere hinschreiben können. Ich nehme damit lediglich Bezug auf die «eingeschränkte Halbwertzeit», nach der für, ersatzweise, viele Kunsthistoriker die Geschichte der Kunst, mit, sag ich mal, bei Beuys beginnt. Aber tatsächlich, so ist mir zugetragen worden – ich meine sogar, daß es hier war –, soll er an vielen Schulen mit zeitgenössischen Schriftstellern losgegangen sein, der Deutschunterricht, während die sogenannten Klassiker leicht bis ziemlich vernachlässigt wurden. Was ich mir allerdings bis heute nur schwer vorstellen kann, jedenfalls an Gymnasien. (Wenn ich ich mich recht erinnere, haben Sie doch den Faust nachgeholt. Oder war das ein Witzchen Ihrerseits?)

Richtig – die Carmina Burana habe ich sträflich vernachlässigt (ich hatte ja geschrieben, daß mir die Beispiele ständig entfallen). Wozu die Beurener Lieder überall antreten müssen, das hat immer wieder was Verblüffendes. – Bei der Gelegenheit: Unbedingt anhören und -sehen, die Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle. Es hab damals, geradezu ungeheuerlich für diese Zeit, eine synchrone Ausstrahlung in Rundfunk und Fernsehen. Die unglaublich gute Verfilmung ist auch als DVD erhältlich.

Ich hatte ursprünglich mal vor, alle danebenliegenden Musikbeispiele zu sammeln und «aufzuführen». Aber Werbung sehe ich ja so gut wie nie, allenfalls mal, wenn die Jungen wieder oder wie üblich bei den Privaten sitzen und ich mich nicht absenthieren möchte. Neulich erst – grauenvoll. Unsäglich dämlich. Aber das, was an musikalischen «Verunfallungen» im Bereich «seriöser» Reportage und Dokumentation über den Äther geht, reicht ja zum Verzweifeln bereits aus.


nnier   (28.03.09, 10:32)   (link)  
Bitterer Ernst
War das mit dem Goethe als Stellvertreter für die Klassiker. Zeitgenossen waren's, ich habe sie damals genannt: Borchert, Böll, so Sachen. Na ja, einmal Wedekind (was ist das Gegenteil von "Abends rechts einschlafen").
Mir fällt dabei einfach auf, wie wenig ich über Bezüge und Zusammenhänge weiß. Auch wenn's z.B. um Geschichte geht: Der Gedanke, in "Projekten" und "fachübergreifend" zu lernen, war ja ganz ehrenwert und wie's mir im klassischen Gymnasium ergangen wäre, weiß der Himmel; aber wenn chronologisch gehüpft wird, mal Mittelalter, mal Nationalsozialismus, mal Altes Rom, dann hilft das nicht gerade dabei, ein Gefühl für die Chronologie zu bekommen. Ich irre da ähnlich orientierungslos herum wie in der Geographie. Und bin heute noch froh, dass wir dann doch einmal ganz stumpf die Länder und Hauptstädte Europas auswendiglernen mussten. Und Europa zeichnen. Sonst hätte man mir noch mit 18 erzählen können, dass Spanien neben Dänemark liege; ich hätte nicht widersprochen.


jean stubenzweig   (28.03.09, 12:12)   (link)  
Mein Archivar!
Ich habe das alles gesucht und nicht gefunden. Da sehen Sie mal, wie orientierungslos ich in der Gegend herumtapere.

So befürchte ich in der Folge: Mit ihnen allen ist auch niemand in die Oper gegangen. Oder ins Konzert mit Klassik und so. Oder wie war das in Ihrer (Musik-)Schule?


nnier   (28.03.09, 15:09)   (link)  
Oper? Nein.
Ich muss aber gestehen, dass ich dann auch einer der am lautesten Krakeelenden gewesen wäre: "Langweilig!"
Nein, ich habe nur mal die "West Side Story" im Musikunterricht durchlitten, in Kassel, an dem Abend, an dem Bayer Uerdingen den Halbzeitstand von 1:3 gegen Dynamo Dresden noch in ein triumphales 7:3 verwandelte. Ich hatte einen kleinen Empfänger bei mir, informierte meine Schulkameraden über die aktuellen Spielstände, zog böse Blicke auf mich, bis ein älterer Herr mich anstieß und fragte: "Wirklich? 7:3? Wahnsinn!"

Mir wäre dieses Verhalten jetzt peinlich, wenn es sich nicht um ein Musical gehandelt hätte. Aber da erinnere ich noch einmal an Heinz Strunks zentrale Forderung im Hamburger Wahlkampf als Kandidat der "Partei": Hamburg soll die erste musicalfreie Zone Deutschlands werden! "Was für ein ekelhafter Mensch Andrew Lloyd Webber doch sein muss" (oder so ähnlich) heißt es dann auch in Die Zunge Europas.

Als ich nicht lange nach dem Abitur nach München reiste, da Paul McCartney dort aufspielte, musste ich die Tage zwischen den Konzerten ja auch irgendwie herumkriegen. Also ging ich mal ins Deutsche Museum. Und stundenlang sah ich mir Modelle von Käsereien oder Bergwerken an: Ah, das ist aber interessant! Was die Menschen sich alles ausgedacht haben! Und stellte mir vor, ich hätte ein paar Monate früher einen schulisch begründeten Zwangsbesuch verordnet bekommen. Was hätte ich gemotzt! "Langweilig! Was interessiert mich, wie Käse gemacht wird!"

Bei manchen Dingen ist es, so gesehen, für mich geradezu ein Glück, dass sie in der Schule nicht drangekommen sind. Hätte ich die Beatles im Musikunterricht, Robert Crumb in Kunst durchnehmen wollen? Oder wären sie mir dadurch vergällt worden? Das frage ich mich gelegentlich.


jean stubenzweig   (28.03.09, 22:24)   (link)  
«Was für ein ekelhafter Mensch
Andrew Lloyd Webber doch sein muss» – dessen Kram nach stimme ich Herr Strunk hundertprozentig zu. Und in logischer Folge auch der Forderung: Hamburg soll die erste musicalfreie Zone Deutschlands werden! Ich erweitere: Endlich soll mal ein ordentliches Verbot bundesweit, ach was, europaweit (die USA sind mittlerweile ohnehn ein einziges Musical) gesetzlich durchgesetzt werden. Operette hatte ja noch Format, bei der ging's manchmal richtig politisch zu; wenn die Unterhaltungsindustrie sie dann auch kastriert hat. Deshalb gilt Hair bei mir auch als Operette. Die Musik haben wir sogar als Hochzeitsmarsch genommen (Let the sunshine in). Aber dann wurden die Lande zugewebbert. Virushaft. Ganz schlimme Krankheiten.

Wenn ich an die (EU-)Regierung komme, mache ich Herrn Strunk zum Innenminister.

Und Sie werden Beatles- und Crumb-Minister.

In die Oper geh ich ohnehin lieber alleine. Weil es mir dann leichter gemacht wird, in der Pause zu gehen.


hanno erdwein   (28.03.09, 10:02)   (link)  
"Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist" ...
So jedenfalls war das noch beim ollen shakespeare.
Aber wie wenige werden Ihren Beitrag lesen und Konsequenzen daraus ziehen? Die Wahrheit war immer unbequem und paßte selten in den Kram. Innehalten, nachdenken und bessere Realisationen mit weniger ausgelutschten (ansonsten schönen Musiken) im Hintergrund suchen, ist mühevoll und braucht mehr Zeitaufwand. Wie würden wir reagieren, säßen wir dort und hätten ein ähnlich enges Zeitkorsett?
Dennoch - schön und sehr wahr Ihr Beitrag. Hab ihn genossen. Hanno


jean stubenzweig   (28.03.09, 12:06)   (link)  
Enges Zeitkorsett?
Ach nein! Ich habe das viele Jahre selber gemacht, die Musiken für Sendungen ausgesucht. Außerdem hat jede Rundfunk- bzw. Fernsehanstalt eigens dafür beschäftigte Musikberater; sie sitzen in der Regel in den Musikarchiven. Doch die meisten Autoren nutzen diese Beratungsmöglichkeit nicht. Die Gründe dafür dürften unterschiedlicher Natur sein. Zum einen interessiert die meisten das nicht, Musik zum Film oder zum Feature, im Deutschen früher mal "Hörbild" genannt, ist für sie sozusagen ein notwendiges Übel. Andere wiederum dürften beratungsresistent sein aufgrund ihrer Eitelkeit, nämlich zu meinen, sie hätten das im Griff, bekämen es selbst hin. Dabei könnten solche Gespräche hochinteressant sein, man könnte also seinen Horizont erweitern. (Mir hat mal so ein Musikmensch Volksmusik wirklich plausibel gemacht, und ich habe sie als Akzente eingesetzt, der Kosten wegen jeweils unter neunzehn Sekunden, aber eben nicht karikierend. Das hatte Gewicht.) Und Zeit gewinnt man dadurch auch, weil der Kollege alles raussucht; und wenn man Glück hat, schneidet er die Musik gleich passergenau. Aber der Kollege Musikwissenschaftler im Rundfunkarchiv sitzt da und wartet sich den Kopf wund.

Das ist das Problem: indem es nicht wahrgenommen wird. Deshalb nimmt auch der Hörer nicht daran teil - weil ihm kein Stoff zum Denken geliefert wird. Auch solches gehört zur Aufklärung. Bildung eben.


damenwahl   (28.03.09, 19:19)   (link)  
Ich wußte nicht, daß es spezielle Berater in Radio und Fernsehen gibt für musikalische Bereicherung, oder auch nur Musikarchive. Eigentlich naheliegend... und bestimmt eine schöne Aufgabe! Setzt aber vermutlich voraus, daß man sehr, sehr viel Musik kennt und einen sensationellen Überblick über die Musikgeschichte hat, oder?
Musik als Geräuschkulisse betrachte ich geradezu als Verbrechen, ganz schlimm auch das Gedudel in manchen Läden. Oder Gulaschradio, wo immer nur einzelne Sätze gespielt werden. Dabei können Musik und Bild so großartig zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken, wenn man es kunstvoll kombiniert.


jean stubenzweig   (28.03.09, 23:25)   (link)  
Ohne Musikarchive
geht es ja gar nicht. Es gibt ja nicht nur NDR-Kultur, wo jeden Tag zwölf Stunden «Gulaschradio» produziert wird; die wenigen Rezepturen sind von KlassikRadio übernommen, wo ohnehin einer alleine alles macht, der dann spät abends noch ein sanftes Dudelsahnehäubchen draufsetzt, das aus der Sprühflasche, auf der dann sowas draufsteht wie NeuKlassik oder ähnlich und nichts ist als Musicalspreu.

Den GEZahlern stehen ja, was viele nicht wissen oder auch nicht interessiert, eine durchaus anspruchsvolle oder aber nahezu gigantische Palette musikalischer Kultur zur Verfügung: die gesamte Musikgeschichte der Welt. Bleiben wir mal beim vielgescholtenen deutschen System: Alleine neun Rundfunkanstalten plus Deutsche Welle, die, ausgenommen DeutschlandRadio/Deutschlandfunk, allesamt auch Bilder in die Ferne senden, die ganzen «Nebenabteilungen» nicht zu vergessen wie arte, phoenix, 3sat, Kinderkanal. Und diese Abteilungen müssen nicht nur verwaltet werden, sondern gemeinsam mit den Redakteuren auch ständig Programme zusammenstellen, auch Neuerscheinungen wollen angeschafft und bewertet werden. Und beraten müssen sie eben auch. Denn nicht jede einst Volkswirtschaft studierende Autorin oder jeder aus der Politikwissenschaft kommende Redakteur ist wie Sie in die Wiege der Musik hineingeboren worden. Oder: der eine kennt aber auch wirklich jeden Song der Beatles oder der Stones oder alle Liedchen von Roy Black, nicht aber die Biermösl Blosn oder ist, wie ich, in seiner Kindheit nahezu ausnahmslos von Frau Callas gequält worden (wir sind mittlerweile wieder gut, wir zwei). Deshalb sitzen da allüberall Fachkräfte, denen ich den Begriff Experte tatsächlich zugestehe. Die jedoch höchst selten ans Mikrophon oder vor die Kamera geraten. Wenn sie Glück haben, gibt's ganz am Ende des meist viel zu schnell ablaufenden Abspanns, wenn er nicht überhaupt längst weggelassen wird, seitens der Autoren eine kleine Ehrerbietung: «Musikalische Beratung: ...»

Die sind es auch in der Regel, die das (mit) ermöglichen: «Musik und Bild so großartig zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken, wenn man es kunstvoll kombiniert.» Ich bin in meiner früheren Tätigkeit jedenfalls sehr gerne ins Musikarchiv gegangen und habe Gespräche geführt, die zu einem erheblichen Teil meines bescheidenen Wissens über Musik beigetragen haben. Und so manches Mal ist alleine deshalb auch was Passables dabei herausgekommen.


damenwahl   (29.03.09, 00:54)   (link)  
Sehr spannend - herzlichen Dank! Ich habe mir ganz einfach nie viele Gedanken gemacht, woher die Sender die Musik haben. So viele Werke an einem Platz versammelt, stelle ich mir großartig vor, zumal wenn noch die personifizierte Fachkompetenz zur Beratung verfügbar ist. Hach, an so einem Ort (wie auch gelegentlich in Buch- oder Feinkostläden) möchte ich mich gerne mal für eine Nacht einschließen lassen, das müßte fantastisch sein! Und natürlich werden solche Leistungen nicht honoriert. Wer weiß denn auch schon, welche Beiträge ein Dramaturg zur Oper leistet? Oder der Tonmeister zur CD?















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