«When I am laid in Earth ...» Es muß die Zeit gewesen sein, als sich meine kindliche Opernschockstarre langsam löste und ich allenfalls das Gängige im Repertoire hatte. Als einer, der allmählich dazu übergegangen war, Klassik und Oper als Klangteppich über die Unbilden des Alltags zu hängen, saß ich mit einem Mal stocksteif, wie mit Elektroschock therapiert, als dieses Lied aus dem Radio kam. Das hatte ich noch nie gehört. Und schon gar nicht diese, solch eine Stimme. Dagegen war meine griechische Kindheitsmarter wahrlich eine parodontitische Kreissäge. «Remember me», sang dieses Wesen aus einer anderen Welt, «but ah! forget my Fate.» Dennoch geriet das Klangereignis in Vergessenheit. Ich war noch nicht so weit, wieder oder überhaupt gezielt Oper zu hören. Konzentriert zuhören war nur möglich beim Jazz, in den ich ich geflüchtet war: das Jazz Composer’s Orchestra oder Alexander von Schlippenbach waren mir musikalisches Mauseloch, auch das Chanson, das in Frankreich unter Variété zu finden ist. Dann sah ich mich eines Tages in einem Plattenladen einem faszinierenden Gesicht gegenüber. Und da es hin und wieder vorkam, daß ich eine Platte kaufte, weil mir die Interpretin so gut gefiel, nahm ich auch diese Vinyl-Scheibe mit. Zuhause legte ich sie auf meinen grauen Braunteller — und war dem Déjà-vu nahe. Nunja, zumindest meinte ich, diese Musik schonmal gehört zu haben. Sie behagte mir sehr, und ich setzte mich in den Sitzsack, um zu lauschen. Und mit einem Mal war es wieder da, dieses Faszinosum, und es sang: «When I am laid in Earth ...» Seither geschieht es immer wieder mal, daß ich den Klangteppich wegräume, alles verdunkle, mich in den zum Sessel gewandelten Sack setze, die Platte auflege und ihrem außerirdischen Gesang konzentriert zuhöre, den sie in aus Henry Purcells Dido and Aeneas (pdf) herauszaubert. Gestern abend war nach zweieinhalb Stunden Schlaf Ende. Das kommt vor, und das beste Wiedereinschlafsandmännchen heißt bei mir nunmal: Fernseher einschalten. Allein dafür steht er am Bett. Es funktioniert in der Regel: meist bin ich nach zehn Minuten wieder eingeschlafen. Aber gestern klappte es nicht. Dann da war es wieder, dieses Gesicht, das für mich als Synonym für Schönheit steht: eine Nase, wie sie Albert Uderzo bei seiner Cleopatra nicht hinbekommen hat, Lippen, bei der mir eine edle bretonische Erdbeerauster in mein Hirnkino fährt. Kein Alter Meister fiele mir ein, der diese Harmonie der Vielfalt auf die Leinwand bekäme: Intelligenz, Wärme, Sanftmut, Wachheit, Energie. Ich bin offensichtlich in den Anfang der Sendung hineingeraten. Denn rund vierzig Minuten durfte ich genießen, was dieser Sopran quasi als Vervollkommung seines Gesichtes äußerte. «Sie spricht mit dem österreichischen Künstler André Heller», heißt es bei arte, «über ihre künstlerische Laufbahn, ihre Ängste, Inspirationen, Freuden und Verstörungen sowie über die Schwierigkeiten, ein Star zu sein.» Ich hab's nun wirklich nicht mit Stars. Wer als solcher bezeichnet wird, dem kann es durchaus passieren, bei mir auf Mißachtung zu stoßen, und sei er noch so brillant (später entdecke ich ihn dann möglicherweise für mich ganz alleine). Und Pressetexte berauschen mich auch nicht gerade. Aber den von arte unterschreibe ich, unter anderem das von mir Gefettete: «Das Gedankenpanorama und die Bekenntnisse der charismatischen Künstlerin werden dramaturgisch immer wieder durchbrochen von Liedern und Arien.» Zum Schluß, das mußte sein: «When I am laid in Earth ...» Dem tat diese unsägliche Inszenierung zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution dann auch keinen Abbruch mehr. Ich verzeihe ihr, daß sie sich hat in eine aufgeblasene Tricolore hat stecken lassen. Sie hat sie für die Galerie hübsch gesungen, die Berlioz-Marseillaise. Kein Blutgesang mehr, nur noch Kunstpathos, wenn es auch ganz ohne Marschtritt nicht zu gehen schien. Die Sendung wird wiederholt, erzählt arte.
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