Spielplätze (Avignon)

Avignon ist die einzige Stadt, in der mich Menschen- beziehungsweise Massenfeind zwei Wochen lang sich durch die Gassen wälzende Menschenwogen offenbar nicht weiter abschrecken — nicht mal zum jährlichen sommerlichen Festival mit seinen hunderten von Groß- und Kleintheatergruppen und Fakiren und Puppenspielern und Zauberern und Firlefanzverkäufern, die sich über die ganze Stadt verteilen und nicht nur vor den Palais des Papes herumturnen.

Aber zunächst einmal kommt man vom Bahnhof her zum Cours Jean Jaurès. Jean Jaurès ist allgegenwärtig in Frankreich. Der Name dieses sozialistischen Menschenrechtlers und Gründers der Zeitung l‘Humanité taucht sogar in fast jedem Trou perdu, jedem tristen Kaff auf. Doch fürwahr — in diesem Land nennt man Hauptstraßen nach Sozialisten und Pazifisten! Nicht Sackgassen, die in einer durch die ehemalige DDR verursachten Mülldeponie enden, in der die Gedanken an Gemeinschaft endgültig verrotten. Nach der Annektion des Ostens durch das westdeutsche Kapital — in das bald auch französisches Schmieröl fließen sollte — wurden nahezu alle Denk-Male geschleift, die an diejenigen erinnern sollten, die Gesellschaft(en) in Bewegung gebracht hatten.

Oder, das macht die Verrottung eines einst kritischen Denkens evident: das Beispiel der oberbayerischen Kleinstadt Murnau gegen Ende der siebziger Jahre eines unlängst vergangenen Jahrhunderts. Dort sollte der Romancier und Dramatiker Ödön von Horváth gewürdigt werden, der eine Zeitlang dort gelebt hatte. Allerdings hatte er in seinem Theaterstück Italienische Nacht die Neigung der einheimischen sogenannten Kleinbürger zur braunen Sauce im Wortsinn dramatisch umgesetzt. Weniger zu der des dunklen Bieres als vielmehr zu der, die seinerzeit als Sintflut das ganze Land überwemmte und ihre übelriechende Gülle über die Grenzen Europas hinaus verbreitete. Ein Lehrer des örtlichen Gymnasiums und zugleich Gemeinderat der Sozialdemokraten hatte heftig für eine Umbenennung der Bahnhof- in Horváthstraße gekämpft. Nach einem an Verdun erinnernden kleinstädtischen Gemetzel landete Horváths Name auf dem Schild eines Seitengäßchens, das in eine saure Wiese mündete. Sicher, heute sieht man das nicht mehr so eng, wie es diese Gasse ist. Mittlerweile rühmt man sich dort sogar des österreichischen Weltbürgers und einstigen Murnauers Horváth, dem 1938 in Paris der Himmel in Form eines Astes auf den Kopf fiel. Man kann sich den vielen berg- und skiwandernden und mittlerweile auch auf den asphaltierten Wanderwegen mit Skistöcken nordisch spazierenrennenden Touristen schließlich nicht als Bannerträger der geistigen Tieffliegerei präsentieren. Aber die Ödon-von-Horváth-Straße ist deshalb nicht breiter geworden und endet nunmal in der bebauten Säuernis.

Im dritten Arrondissement von Marseille ist ein ganzes Quartier bzw. deren Straßen nach den Vorreitern des Sozialismus benannt. Und es ist mir nicht bekannt, daß das Viertel Belle de Mai in Quartier Le Pen umbenannt werden soll, obwohl dieser (Fliegen-)Fänger der sogenannten kleinen Leute in dieser Stadt immer noch hohe Prozentzahlen einfährt (womit hier auch die betuchteren — allerdings mit dem dafür reduzierteren Verstand — gemeint sind). In Berlin, der ehemaligen Hauptstadt der DDR, hingegen werden Sozialisten in Blumen- oder Pflanzenkisten umgewandelt, vermutlich weil Globke oder Filbinger oder Ki(e)s(s)inger historisch dann doch noch nicht weit genug zurückliegen.

Apropos Le Pen: Als in den achtziger Jahren der damalige französische Nationaltrainer auch andere Hautfärbungen hineinließ in die Equipe Nationale und die Grande Nation somit feststellte, daß die etwas anders Gefärbten aus den Kolonien (den ehemaligen und existierenden, also diejenigen mit Passeport-Berechtigung) fußballspielen beziehungweise das Land in die höheren Ligen des Wettbewerbs führen können, nahm der Zuspruch für den Scharfmacher rapide ab, und man befürwortete, zumindest im sportlichen Bereich, unbedingt die Mischkultur — allez Les Bleus. In deutschen Landen dürfte man zu dieser Zeit deshalb mal wieder unzufrieden sein über den Ausgang des ersten Weltkrieges — doch mittlerweile gibt es ja wenigstens ein paar Diplomatensöhne und (Ball-)Treter aus den Ländern, die durch die DDR ein paar (internationale) Devisen einfahren konnten. Doch ach, man hat Les Bleus ja kürzlich in Rente geschickt.

Allerdings ist das ohnehin nicht nicht mein Spielplatz. Ich lasse besser anderswo spielen.
 
Di, 01.07.2008 |  link | (3530) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


condorfrikassee   (01.07.08, 18:08)   (link)  
Kleiner Hinweis
Anderenorts in Deutschland geht's mit den Straßennamen anders zu:
http://www.kopfwelten.org/kp/orte/
Wie ich finde doch recht erfreulich.


jean stubenzweig   (01.07.08, 18:20)   (link)  
Wirklich beeindruckend. Danke.


hap   (02.07.08, 00:00)   (link)  
Tangastraße
Ob das nicht Tongastraße heißt? Nicht dass ich was gegen Tangastraße hätte.
Und was Avignon betrifft: Da ham sich ja Abweichler schon immer wohler gefühlt als dort, wohin alle Straßen führen.
Bleib auf den Nebenstraßen, lieber Stubenzweig, manche Leute passen halt, zu ihrem Vorteil, nicht auf die Hauptstraße.
L & p -
hans















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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