Unterschiedliche Ansichten

Avignon — das Europa, das der Katholizismus geschaffen hat! Von Inquisition, Folter, Mord und Totschlag des Papsttums allerdings kein Wort. «Das babylonische Exil der Päpste — aber es war das lustigste Exil, das die Welt je gesehn hat», meint Joseph Roth. Ein Teil der lustigen Päpste waren diejenigen, die dem erzenen Katholiken Vicente Ferrer und seinen Vasallen im Palais des Papes, dem Papstpalast von Avignon dabei halfen, die ursprünglichen rothschen Glaubensgeschwister, die spanischen Juden, die Sepharden aus Spanien rauszujagen und in die ganze Welt zu zerstreuen. Zwar wird in Avignon ständig getanzt, aber züchtig, was das einfache, liebliche Volk auf der Brücke von Avignon betrifft. Wie die Purpursäcke es vermutlich hinter ihrem Festungsgemäuer haben krachen lassen, darüber schweigt dieser Kreuzritter, dieser ukrainisch-österreichische, sehr deutsche chevalier de la triste figure sich aus. «Welch ein Trubel unter dem Protektorat der Kirche! Welch ein Fest unter den Augen des Papstes!» Man möchte meinen, der Kölner Karneval habe seine wesentlichen Impulse vom Avignon des Joseph Roth. Und fortwährend die Mutter Gottes, die Jungfrau.

Irgendwie scheint er ein wenig verblendet, der politische Journalist und Schriftsteller Roth. Also läßt er's weg, das Politische. Den einschneidend historischen Hintergrund. Auch lese ich Seltsames über Petrarcas Jungfer Laura.. Bei ihm ist sie in seinem Katholiken-Mekka Avignon geboren. Dabei dürfte es kaum erwiesen sein, daß Laura tatsächlich existiert hat oder eben schlicht nur Mythos, Legende war. Es gibt lediglich einen einzigen konkreten Hinweis auf Laura. Bei Petrarca heißt es:

«Laura [...] erschien meinen Augen zum ersten Mal in meiner ersten Jünglingszeit, im Jahre des Herrn 1327, am sechsten Tag des Monats April, in der Kirche der heiligen Klara zu Avignon [...]. Und in derselben Stadt, im gleichen Monat April, auch am sechsten Tag, zur gleichen Stunde, jedoch im Jahr 1348, ist dem Licht dieser Welt jenes Licht entzogen worden [...].» Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer schreiben, «daß sich ‹Laura› unter dem unbefangenen Blick in reine Sprache auflöste, die in unendlichzähligen Bedeutungen spielt: L'auro, das Gold von Amors aurato strale (dem goldenen Pfeil) und der aurata piuma (dem goldenen Federkleid des Phönix [...]» Und so weiter und so fort. Und Wolf-Dieter Lange fügt (in der Brockhaus-PC-Bibliothek) an: «Diese Worte, die eher verbergen als offenbaren, enthüllen die Stellung des Dichters zwischen Mittelalter und Renaissance. Die Zahlen, von denen er spricht, haben besonders seit den Kirchenvätern einen christlichen Symbolwert. Am 6. April ist Adam erschaffen, und am 6. April ist Christus gestorben. Zwischen dem Beginn der Liebe zu Laura 1327 und ihrem Tod 1348 liegen einundzwanzig, also drei mal sieben Jahre, auch dies christlich vielfach ausgedeutete Zahlen. Darüber hinaus besteht der Canzoniere mit seinem scheinbar reumütigen Einleitungssonett aus 366 Gedichten. Zieht man dieses Sonett ab, könnte sich die Zahl symbolisch auf die Tage eines Jahres beziehen. Vielleicht aber verweist die Zahl 366 unmittelbar auf Lauras Todesjahr, denn 1348 war ein Schaltjahr. [...].»

Nun gut, zu Roths Zeit war man noch nicht so weit mit der Liebesforschung. Auf jeden Fall liebte Roth die(se) (mystische) Liebe, die etwas Pygmalioneskes hat. Oder sind es eher die späten Leiden des jungen R. (Klaus Jarchow weist auf «Wahnsinn seiner Geliebten» hin)? Petrarca selbst hat diese Rerum vulgarium fragmenta, Bruchstücke muttersprachlicher Sachen, «seinen Freunden gegenüber immer als zweitrangig, als Jugendtorheit, als ‹nugellae› (Kleinigkeiten)» bezeichnet.

Zu viele traumselige Interpreten haben aus dem von 1304 bis 1374 lebenden Petrarca einen reinen Trobadour gemacht. Er war es nicht. Nicht nur Gefühl — mit dem viele den Canzoniere lesen, die solch schönes Stöhnen einsaugen:
«Bewege ich die Seufzer, Euch zu rufen
beim Namen, den mir Amor eingewoben,
beginnt von außen schon der Klang zu loben,
den seine ersten süßen Laute schufen.»
Denn Petrarca war auch Geschichtsschreiber, auch Gesellschaftskritiker (der sich im übrigen gerne mit Mächtigen umgeben hat und alles andere als ein biedermeierernder, sehr früher romantischer Dichter war, als der er gerne dargestellt wird).
«Die Frauen weinend; und das Volk ohn Waffen,
von zarter Jugend bis zu müden Alten
— selbst Hannibal entschlüge sich des Spottes ...
Schenkst du nur einen Blick dem Hause Gottes,
das heute gänzlich brennt, dann wird dir Kunde:
damit der Wunsch gesunde,
genügt es, Funken nur des Brandes, der tobte,
zu löschen, was man noch im Himmel lobte.»

«Und mit dem dritten trinket Sud von Kräutern,
abführend Herzens- und Gedankenschwere:
am Anfang bitter, aber süß des weitern.»
Nun, auch solches schrieb Francesco Petrarca — aber eben nicht in Avignon, wo er lediglich einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte, später lebte er in Montpellier und dazwischen immer wieder in der Heimat Italien —, sondern allenfalls im Gärtchen in Fontaine de Vaucluse, etwa fünfzehn Kilometer östlich von Avignon, hat er seine Canzoniere begonnen — in der Nähe des Mont Ventoux, dem Heiligen Berg des Dichters und der Dichter, die in seinem Namen, von 1975 bis 1995, preisgekrönt oder nicht, diesen bis heute immer wieder erklimmen wie die Leistungssportler der zweirädrigen Zunft, der alljährlichen Fahrrad-Tour de France, bei der eine Zeitlang immer ein US-Amerikaner gewann und dem sie alle nachzueifern bereit sind, egal wie weh es auch tun mag. Ich verstehe diese Besteigungen übrigens (wenn auch nicht mit dem Fahrrad), zumindest das Ziel — denn wer je vom Gipfel des Mont Ventoux aus nach unten geschaut hat, der muß nicht mehr in den Himalaya reisen, scheint dieser Berg in der Haute Provence doch tatsächlich das Dach der (alten) Welt, von dem aus hinuntergeblickt in die Täler, in denen es nur noch Menschlein gibt. Etwas weniger schwärmerisch ließe aus sagen: Man fühlt sich, je nach Perspektive, wie im irdischen Himmel.

Doch Roth, der hat Laura aus Avignon in seiner frühkatholizistischen Emphase prophylaktisch mit Blut versehen wie weiland Aphrodite Pygmalions Statue. Und es ist ja hinlänglich bekannt, wie sehr Pygmalion sich erschreckt hatte, als der von ihm geschaffene Alabaster-Leib mit einem Male wahrhaftig wurde. Vermutlich hat der Marien-Verehrer Roth eben aus einem Schutzmechanismus vorausgesetzt, daß Laura ohnehin lebte — um sich aphroditischer Wirkung nicht auszusetzen. Nun gut, wiederhole ich mich: Sicher war man zu Roths Zeiten noch nicht so weit mit der Forschung. So sei es ihm zugestanden, daß er diese Gedichte möglicherweise lediglich als diejenigen kannte, von denen Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer meinen, daß sie «Petrarca als einen schwachen Liebeslyriker der romantischen Schule erscheinen» lassen.

Ach Laura. Ich verstehe es ja. Wenn mir danach ist, klammere ich, zugestandenermaßen, den Chronisten Petrarca auch aus und gebe mich der poetisch-mystischen Blondine hin. Dann lächelt der andere Frankreich-Feuilletonist, Kurt Tucholsky, vermutlich über mich und kommentiert: Ja ja, man kann sich zur mittelalterlichen Laute ganz angenehm in die Früh-Renaissance hineinträumen.

Avignon. Palais des Papes. Dieses — ohne jeden Zweifel beeindruckende und auch in seinen Ausmaßen — ja: durchaus schöne — Monstrum. Wohin ich nur gehe, um mich staunend zu fürchten. In dem er, Roth, am liebsten gewohnt hätte. Den Eindruck habe ich zumindest. Er beklagt, daß der Papst-Palast als Kaserne mißbraucht wurde und: «zweimal täglich ist er das Ziel neugieriger Touristen und das Objekt falscher Erläuterungen, die ein Führer gegen Trinkgeld den Amerikanern erteilt». Richtig, so ist es, bis heute. Ein paar Japaner und mittlerweile auch Chinesen sind hinzugekommen, nicht zu vergessen die bildungsbeflissenen Deutschen des 21. Jahrhunderts. Eben weil heute keine kriegerischen Truppen mehr darin hausen, sondern Kunst und Kultur. Aber fürchten kann man sich auch, etwa vor der Aufgeblasenheit oder auch rigiden Arroganz der einstigen Laura oder auch Spitzenklöpplerin Isabelle Huppert, die nichts zuläßt, was nicht ins recht knappe Korsett ihrer Meinung paßt.
«Dann stehe ich im Hof. Er ist von vier Seiten eingeschlossen wie ein Kleinod. Er hat viele schwarze Tore in den Wänden, aber man glaubt nicht, daß sie hinausführen. In diesem Hof müßte ein Gefangener seine Ohnmacht stärker fühlen als in einer kleinen und finstern Zelle.»
Man spürt Gott bereits nahen. Das steht nicht bei ihm, sondern bei mir. Weiter: «In diesen Torbögen lehnten die Gewehre. Und doch hat der Hof der Kaserne, in der ich ‹abgerichtet› wurde, ganz anders ausgesehn. Ob es nicht eine Weihe gibt, die von einem Stein, einem Glas, einer Wölbung ausstrahlt und einen Hof vor der endgültigen Vernichtung schützen kann?» Denn: «Sie hatte recht, die Militärbehörde. Das ist kein Anblick für exerzierende Menschen. Solche Bilder könnten die Disziplin einschläfern. Gebt weißen Kalk darüber, Kalk darüber, Kalk darüber! Verdeckt die Fresken von Matteo Giovanetti de Viterbo, dem Christus am Kreuz. Er hat die armseligsten, hagersten Arme, sein Körper ist schmal wie ein Bein, seine durchstoßenen Hände sind halb gewölbt, noch offen, dem Betrachter zugekehrt, als schenkten sie noch im Tod, die Augen sind geschlossen wie bei einem Schlafenden, es ist die erste Sekunde nach dem Tod, im Gesicht ist kein Schmerz mehr ...»

Tucholsky tanzt Spitze, während Roth mit mit Holzschuhen über die Bühne (g)rollt. So sehnt er sich beispielsweise immer wieder nach dem deutschen Wald. Irgendwo hat er was nicht verstanden. Ich will keine deutsch-österreich-ungarischen Tannen im Licht der Provence. Bei Roth liest man immer gleich einen dräuenden Wald, wenn er loslegt. Immer hat er auf die Deutschen geschimpft, dieser Österreicher. Na ja, Zwangs-Österreicher. Aber aufgeführt hat er sich wie die deutsche Axt, die den nicht vorhandenen französischen Wald dieser Region gleich umhaut. In Frankreich entzündet die Sonne den spärlichen Wald. Doch von der Sonne schreibt er, daß ich Angst kriege, sie fällt mir gleich auf den Kopf.

Tucholsky schleicht sich an. Mit einem liebevollen Lächeln im Text. Ein Beispiel aus Vierzehn Käfige und einer, worin es um Marseille geht. Er schreibt:

Château d'If. La petit Taule! Ein kleiner, süßer Knast. In den ein paar Touristen und Tourismusdirektoren reingesperrt gehören. So denn, Tucholsky: «Die kleine Insel ist das Château d'If. Es liegt — falls sie Ihren Atlas zur Hand haben — vor der Stadt Marseille, gegenüber den beiden Inseln Ratonneau und und Le Frioul, die durch einen Damm [den Digue Berry] verbunden sind. Ist bei Ihnen nicht drauf? Na, schadet nichts. Château d'If ist die Insel, auf der Edmond Dantès eingesperrt saß, der Graf von Monte Christo.» Nun erzählt er locker Historisches — aber nicht etwa ungenau! — und skizziert das Aussehen. Genau so, wie's heute zu sehen ist!

«Der Hof ist ganz klein, von vier Mauern umgeben, die nicht allzu hoch sind, von oben glänzt quadratisch der blaue Himmel. Unten ist das Licht getönt, milchig und hell kaffeebraun. Unten steht ein Brunnen und an einer Mauerwand eine Ansichtskartenbude [...].» Richtig. Die gibt's noch heute. «Und ringsherum sind die chachots, die Käfige.» Dann geht's 'ne Weile weiter, bis: «[...] Vor jeder Tür ist ein Holzschild angebracht, auf dem steht gemalt, wer da einmal eingesperrt war. Wie in einem zoologischen Garten, man vermißt den Zusatz: Geschenk des Herrn Konsul Friedheimer [...].

Ja, es zieht durch die kleine Luke, und wenn man den Kopf an die Eisengitter legt, kann man auch ein Stückchen vom Meer sehen, in dem die freien Fische wohnen. [...] Der Boden ist ausgemauert, schwärzliche Spuren an den Wänden deuten auf ehemalige Kamine. Es muß höllisch kalt gewesen sein, damals ... Da saßen sie also. Meistens waren es politische Häftlinge, die hier gesessen haben, alles Leute, die die Regierung nicht töten konnte oder wollte, und deren Freiheit ihr höchst unbequem war. Damals war das recht einfach: man benötigte nur die lettre de cachet, um etwas zu erreichen, wozu man heute ein ganzes Volksgericht auf die Sessel setzen muß [...]. Manchmal ließen auch hochmögende Eltern ihren Sohn ein bißchen einsperren, bloß so.» Dann reiht er sie in seinem unnachahmlichen leichten, lockeren Stil auf, die Insassen, etwa so: «Auf der anderen Seite hat Dantès gesessen, eben jener, dessen Schicksal Dumas in seinem Schmöker benutzt hat.» Oder: «Dann liegt da noch zu ebener Erde ein cachot, dem Publikum nicht zugänglich. Darin saßen im Jahre 1871 einhundertundsechzehn Gefangene. Communards. Einhundertsechzehn — das ist keine Zahl für uns andre ... [...] Herauf die kleine Treppe, auf die obere Galerie. Da saßen: Ein Abbé, der ein Mädchen verführt haben soll ...»

Es war wohl Louis Goffridi. Er ist verbrannt worden, weil er mit Teufels Hilfe Madeleine Mandols verführt haben soll. Er war ihr Confesseur, ihr Beichtvater. Sie war sechzehn Jahre alt. Oder jung? Darum wird's eher weniger gegangen sein, denn damals hatten sie längst Kinder in diesem Alter. Es ging wohl eher um den katholischen Teufel. Oder war's Frère Valère? Auch ihn haben sie verfackelt. Wie so viele.

Und weiter: «[...] ein Kanzelredner, der mit England konspiriert hat; ein Mann, der versucht hat, Napoleon zu ermorden; der berühmte ‹Mann mit der eiseren Maske›; Louis-Philippe Égalité. Mirabeau (kein politisches Gefängnis, in dem der nicht gesessen hätte); ein Herr Mollard, der sechzehn Jahre hindurch saß, weil seine Eltern das so wollten. In diesem Raum tagte dann später eines der Revolutionstribunale.»

Und und und. Also — immer auffliegende Bilder. Luft für unser Vorstellungsvermögen. Eindrucksvolle Bilder. Tucholsky ist wie gutes Kino. Französisches.

«Man kann sich nur schwer vorstellen, daß in diesen Räumen Menschen gelitten haben; daß der Tritt der Wache auf der Zugbrücke und der Ruf eines Schiffes die einzigen Laute waren, die man hier hören konnte, das Klirren der Waffen und das Klappern von Flaschen — wenn es nicht einer der Häftlinge einmal vorzog, stundenlang wie ein Tier zu brüllen. Oben auf der Brücke des Gebäudes segnet das Werk Gott.»

Irgendwie spürt man, daß Roth in Paris als Alkoholiker jämmerlich verreckt ist und Tucholsky es vorgezogen hat, im schwedischen Sein zu sein wie die freien Fische. Was nicht heißt, daß er nicht gelitten hat. Raddatz erkannte: Er war ein einsamer Mensch. Kurt Tucholsky, der Kumpaneien haßt, die nie in literarischen Cafés saß, der vor den damals noch gar nicht goldenen zwanziger Jahren schon 1924 aus Berlin floh und der sie zwar alle kannte, die man heute mit ihm zusammen nennt — Kästner und Mehring und Ossietzky und Hiller — Kurt Tucholsky war wohl nie mit einem befreundet. Dann also auch kaum mit Roth. Roth soff sich in den Cafés und Kneipen von Paris tot. Umbringen durfte er sich nicht. Er war ja schwerst verstrickt. Im Katholizismus, in den er sich geistig aufgemacht hat, ist das höchste Sünde, sich einfach aufzumachen zu den freien Fischen wie der Jude Tucholsky.

Es gibt ein Marseille, das mir fremd ist: das von Joseph Roth. In das von Kurt Tucholsky kann ich eintauchen wie in meine geliebte Badewanne und bin sofort zuhause. Nach über achtzig Jahren. Roth jedoch beschreibt, etwa zur gleichen Zeit, eine andere Stadt. Es ist nicht so, daß Tucholsky auf Fakten verzichten würde. Nein, beileibe nicht. Auch er schreibt «von der beängstigenden Fülle der Häuser, die sich um ein breites Wasserbecken türmen, schmale, enge, fast drohende Häuser». Aber es liest sich dennoch nicht so beängstigend wie bei Roth. Bei Roth habe ich das Gefühl, daß gleich die Apokalypse über mich kommt. Wenn einer wie Tucholsky von den so geräuschvollen Straßen erzählt, dann weiß ich sofort wo ich bin: zu Hause. Ich habe ohnehin immerfort den Eindruck, daß der tägliche 48-Stunden-Lärm in Marseille erfunden wurde. So kann man sich auch was darunter vorstellen, wenn Tucholsky vom Auftritt der Sängerin und Tänzerin Maria Valente (die Mutter von Caterina) erzählt, nach dem auf den «geräuschvollen Straßen jeder Chauffeur so viel hupt wie die ganze Place d’Opera in Paris nicht an einem Nachmittag — die großen Bäume an der rue de Rome rauschen leise».

Das Marseille, von dem Roth schreibt, stinkt und ist gewalttätig. Selbst wenn er von den weißen Häusern in seinen geliebten Weißen Städten schreibt, spürt man, hier in Marseille, daß ihm die Stadt nicht ganz geheuer ist. «[...] hier riecht es wie zu Hause vor Ostern: nach Staub und gelüfteten Matratzen; nach Lack für die Türen, nach feuchter Wäsche und Stärke; nach angebrannten Speisen; nach geschlachtetem Schwein; nach gesäubertem Hühnersteig; nach Schmiergelpapier; nach einer gelben Pasta für Messing; nach einem Mittel gegen Ungeziefer; nach Naftalin; nach Bohnerwachs; nach Eingemachtem.»

Hingegen Tucholsky:

«Die Stadt hat wahrscheinlich viel von ihrer Buntheit der Menschen, aber nichts von ihrer malerischen Großartigkeit der Anlage verloren. In den Straßen klingelt die Elektrische [na ja, ein Bähnchen gibt es noch — die ‹Tramway 68› —, die von der Metro-Station Noailles aus — wie zu Tucholskys Zeiten? — nach St-Pierre klappert und holpert], gehen und kommen die Leute, verkaufen kleine Buden Zuckerzeug und Zeitungen. [...]»

Roth meint: «Ich habe hier die Grenzenlosigkeit des Horizonts erwartet, die blaueste Bläue des Meeres und Salz und Sonne.» Ich weiß nicht, ob der immer mit gesenktem Kopf durch die Stadt gegangen ist. Tucholsky hat den Kopf oben — und sieht es: «Da liegt ganz Marseille — viel größer, als man es sich von einer Stadt mit einer halben Million Einwohner gedacht hat; über die Hügel verstreut, von Baumgruppen unterbrochen, klettern die Häuser vom Rand des Meeres bis auf die entfernten Berge.»

Und weiter heißt es bei Tucholsky: «Die Hafengassen gehen alle fast bis unmittelbar ans Ufer, sie verlieren sich hügelan in einem engen südlichen Gewirr von Wäsche, die quer über die Straße gehängt ist, Salatkörben, Vogelkäfigen, Häuserwänden [...]» Und auch hier liest sich das ungemein aktuell: Der Markt um die Metro- und Tramstation Noailles, der bis hin zur Canebière führt, beispielsweise läßt sich auch heute kaum treffender beschreiben. Und hier bekommt man einfach alles — Fleisch, Geflügel, Fisch, Gewürze, Gemüse, Kräuter, säckeweise Reis, Waschmittel, auch (vom LKW gefallene?) Mobiltephone oder seinen schnellen oder auch gemächlichen Imbiß, alles offen präsentiert, nicht verschlossen wie in den hermetischen Kühltheken einer deutschen Hackfleischverordnung (gut, auch hier schlägt Bruxelles langsam, aber unbarmherzig zu). Hier deckt sich, nicht eben Minderheit in dieser Stadt, halb Nordafrika ein, und zwar zur Hälfte der Preise, die ansonsten in der Stadt verlangt werden. Weshalb eben nicht nur Araber dort einkaufen (als es die deutsche Freibank noch gab, sah man dort ja auch überwiegend mittelständisches Publikum). Wie man überhaupt am Boulevard d'Athènes in Richtung Gare Saint-Charles, dem 1848 eröffneten und prachtvoll restaurierten Bahnhof von Marseille, auch abends um elf noch zum Friseur gehen kann und acht Euro zahlt statt anderswo vierundzwanzig oder gar dreißig.

Wie oder was auch immer — ich kann diesen Roth nicht nachempfinden: «Über allem lag eine makabre Stimmung.»


Erwähnte bzw. zitierte Literatur:
Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer im Nachwort zu: Francesco Petrarca: Canzoniere, zweisprachige Gesamtausgabe, nach einer Linearübersetzung von Geraldine Gabor und in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, nach der Ausgabe von Guiseppe Salvo Cozzo, Florenz 1904, München 1990
Joseph Roth: Die weißen Städte, in: Ein Frankreich-Lesebuch, herausgegeben von Katharina Ochse, Köln 1999
Kurt Tucholsky: Vierzehn Käfige und einer, zitiert nach: Gesammelte Werke 1925 — 1926, Reinbek 1993, Bd. 4
Fritz J. Raddatz: Kurt Tucholsky — Ein Pseudonym. In: Campo News-Blog
Cyrano de Bergerac, in: Anmerkungen zu: Herzstiche. Die Briefe des Cyrano de Bergerac, hrsg. und übersetzt von Wolfgang Tschöke, München 2001

Verfaßt etwa 2005, nachträglich leicht überarbeitet. Seither hat sich Marseille, an sich eigentlich an radikale Umgestaltungen gewohnt, nun aber endgültig heftig geändert — nachdem man aus der Stadt eine europäische Kulturübung gemacht hat.

 
Mo, 07.07.2008 |  link | (6537) |  |  | abgelegt: Kopfkino















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