Lebenssäfte

Dieser Tage auf der Terrasse der französischen Exklave ein Aperitif, wie man ihn nicht nur im Holsteinischen nicht, sondern überall im angelschen und slawischen, überhaupt barbarischen Land, ja wohl in der gesamten rechtsrheinischen Republik nicht kennt, auf jeden Fall überall dort, wo die Römer nicht hingekommen waren und deshalb wohl Adenauer nie hinwollte, ein Gespräch über — ja worüber wohl? Übers Essen und das, was es zu erhöhen vermag und zur Not auch ohne Brot gut rutscht. Madame Lucette, Oasenbetreiberin in der grünen Höllenwüste des antikulinarischen Nordostens kurz vor hinter Sibirien unweit des tückischen mare Balticum, gab von ihrer Terrine und servierte sommerlichen Riesling aus — so schlimm ist's ja gar nicht mit dem französischen Fremdeln, Hauptsache, es schmeckt gut — der Pfalz (obwohl: der nicht so gemeine Südpfälzer fuhr zum Einkaufen schon immer ganz gerne in die Nachbarschaft Alsace und Lorraine). Erst kam einer von Schäfers Terrassen von 2005 dran, dann einer von Knipser aus dem folgenden Jahr. Verbale Ausflüge in die Heimat der Dame des Hauses, in die Ardennen, in diesen französischen Weltendezipfel, der ganz rechts oben im Belgischen Land nimmt und von dem nichtmal die meisten Franzosen wissen, daß es ihn gibt, daß er ihm, daß er zur Grande Nation gehört. Nun ja, manche halten ja auch Marseille für eine afrikanische Exklave. Womit sie nichtmal so ganz falsch liegen, denn wie heißt es doch so schön prosaisch da unten in der alten mediterranen Griechen-Metropole unter der Tricolore, nach der auch die rauen nationalhymnischen Kampfgesänge benannt sind: die Kanonen seien schon immer gen Festland gerichtet gewesen.

Wieder einmal erzählt Madame ihre unsererseits immer gerngehörten Geschichten aus der Kindheit, deren materieller Reichtum einzig darin bestand, inmitten von selbstangebautem Obst und Gemüse oder auf Feld und Wiese gefundenen Löwenzahn und Brennesseln, zum eigenen Wohlsein liebevoll gepflegtem Borsten- und Federvieh aufgewachsen zu sein. Und aus alldem Köstlichkeiten zuzubereiten sind wie etwa Konfitüren und Gelées, wie sie auch heute noch alljährlich im heimatfernen Herzogtum Lauenburg aufgekocht werden, dazu gebacken eine Brioche, wie sie eben nur jemand hinbekommt, der's von mère oder gar von grand-mère und die wiederum es in Zeiten lange vor der nie getanen Äußerung dieser Österreicherin beziehungsweise deren und anderer nachrollenden Köpfe gelernt hat — früher also schlichtes Gebäck und heutzutage großes Kunsthandwerk. Von dem Mieter samt Löwenzahn (cramaillot)- oder Quitten(cognassier)gelée immer wieder mal was abbekommen, nicht nur, wenn oder weil sie kein Brot haben.

So führt irgendwann zwangsläufig einmal mehr das Gespräch hin zur Qualität und dem dazu erforderlichen Bewußtsein, das eigentlich nur in einem Elternhaus entstehen, allerdings auch nachgeholt werden kann, vor allem, wenn man das Glück hatte, als junger Barbar während einer dieser ungestümen Paris-Ausflüge in den Anfangssiebzigern einer dieser entzückenden kleinen Bilderbuch-Französinnen begegnet und von der dann auf den Geschmack gebracht worden zu sein, sowohl in der anschließenden ehelichen Küche als auch auf den vielen Reisen durchs Land, in dem der tägliche gut durchgebratene Batzen Fleisch und sonst nichts nicht eben zu den höchsten Lebensgefühlen gehört.

Eigentlich müßte man ja Champagner trinken, denn das vor etwa fünfunddreißig Jahren der Liebe wegen verlassene Zuhause liegt in der Région Champagne-Ardenne, etwa eine Autostunde von den Heiligen Champagner-Gärten entfernt. Selbstverständlich liegt auch der im Keller des Hauses nahe der Ostsee, wenn auch in einer Geschmacksrichtung, für die der euroglobalisierte Deutsche nie auch nur eine einzige Stufe nach unten ginge. So etwas wie den herrlich nach historischer Lagerstatt duftenden 99er Duménil mag er nicht, er zahlt lieber fast das Doppelte für den von den großkonzernigen Herstellern für den Weltmarkt produzierten alle Jahre wieder immergleichen Geschmack. Daß das Lebewesen Wein einmal im Jahr Stimmungen unterworfen ist wie wir gleich alle Tage, das darf nicht sein. Dann hieße es ja Laune. Und Laune wird hierzulande gerne als schlechte definiert, da mag er noch so launig am Gaumen herumtänzeln. Also kommt er in den Käfig Anpassung. Doch die auch geschmackliche Entindividualisierung durch die Lebensmittelindustrienorm hat auch sein Gutes, denn so bleibt für die Anhimmler des feinen Wohlseins mehr. Aber heute werden ja zwei Sorten Pfälzer getrunken. Der Sohn als gelernter Sommelier bringt so etwas von seinen Verkostungsreisen mit.

Und all diese köstlichen Lebenssäfte gibt's dann auch noch zu kaufen in dem kleinen mittelständischen Betrieb, dem der Junior mittlerweile als Geschäftsführer des elterlichen Handels vorsteht. Bei den moderaten Preisen mag man dann auch noch verwundert den Kopf schütteln, vergleicht man sie mit den Offerten der Warenumschlagplätze allüberall. Fast wähnt man sich in Frankreich, wo ein Wein eben nicht den Gegenwert einer Tankfüllung eines dieser Renn-LKW kosten darf, in denen die Deutschen so gerne zu den Billigheimern einkaufen fahren, weil man ja irgendwie an irgendwas zu «sparen» anfangen muß. Dort kaufen sie dann das, was den erwähnten mittelständischen Betrieben, vor allem aber den kleinen Läden in den Dörfern und auch den Städtchen den Garaus gemacht hat: Hauptsache billig. So sehr lange sei es noch nicht her, erzählt Madame, daß der dorfansässige Händler wochenweise hunderte von Kisten mit Getränken verkaufte. Den Händler gibt es natürlich nicht mehr, das Geschäft machen diejenigen, die ihn aus dem Dorf radiert haben, ihr Personal überwachen und zu Billiglöhnen knechten, anstatt ihm ein Schwätzchen zu gönnen mit den Kunden.

Aber was soll's, die haben ohnehin keine Zeit mehr. Sie sind immer in Eile, geht es doch darum, Paul-Martin, Amalia Marie oder Jimi Blue und San Diego zum Ballett- oder Klavierunterricht, zum Cheerleaders Hüpfing, zum Tennis und zum Reiten und zum Junior-Golfing, zu diesen ganzen durch den Medien-Rummel samt angeschlossenen Ratgeberlein suggerierten Lebensnotwendigkeiten zu karren. Vielleicht auch noch zum erforderlich gewordenen Nachhilfeunterricht, wobei das ja längst zur feineren Lebensart gehört. Die Kleinen fröhlich über die Koppel hüpfen oder ein Schlammbad in der Schweinesuhle nehmen zu lassen, das würde sie nicht auf die Fährnisse des späteren Alltags vorbereiten helfen. Für oder gegen Allergien hat man schließlich Kinderärzte und Krankenkassen. Außerdem wär's zu prollig. Was sollte denn da der Nachbar von einem denken?!

Aber es sind ja beileibe nicht nur die Pilotinnen koreanischer (einen bayerischen oder schwäbischen hat der Haushaltsplan nicht hergegeben) SUV-Panzer, die zwar die Maße ihrer Geräte nicht kennen, dafür aber die Preise für das Kilo pharmaziegefüttertes Massenvieh, das ihr Bürohengst am Abend unbedingt braucht, wenn er von seinem anstrengenden Sesselritt nachhause kommt. Immer wieder liest unsereins auch bei denen, die sich als feine Schmecker gerieren, wie wunderbar lecker doch der Wein von diesem oder der Champagner von jenem Preiskämpfer geschmeckt habe. Daß diese Nach-unten-Nivellierer mit ihrer Einkaufspolitik «im Dienste des Kunden» die Winzer platt- und sich selber noch reicher machen, indem sie ihnen Preise aufzwingen, daß die gar nicht mehr anders können, als irgendwann Eurogülle zu produzieren oder aufzugeben. Welche gesellschaftlichen Folgen das nach sich zieht, darüber wird eher weniger nachgedacht. Egal. Hauptsache billig. Auch Öko. Aber das hatten wir ja auch schon.

Und daß Knigge eher weniger eine Anleitung für vollsaftige Handküsse und abzuspreizende Kleinfinger oder nicht geschrieben, sondern sich eher über die Begleitumstände des (auch oder gerade heute gültigen) Hofschranzentums, überhaupt zum Thema Umgang mit Menschen geäußert hat, das zu wissen, das wäre billig und käme einem Rückfall in den Konservativismus gleich, dem man ja gerade erst entronnen ist.

Von Erkenntnissen erschöpft lehnen wir uns zurück, blinzeln in die vom Atlantik auf Besuch weilende Sonne und nehmen dann doch ein Schlückchen dieser köstlichen Wahrheit aus Chigny les Roses. Und immer dann, wenn du meinst, es gäb' nichts mehr, kommt von irgendwo dann noch ein Stückchen Kuchen her. Wir sind zwar im Norden, aber so gut wie zuhause.
 
Fr, 11.07.2008 |  link | (5140) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache


prieditis   (11.07.08, 05:45)   (link)  
der nicht so gemeine Südpfälzer fuhr zum Einkaufen schon immer ganz gerne in die Nachbarschaft Alsace und Lorraine
sacht der pälzer da nicht auch, wenn er das Staatsgebiet der BRD betritt: "Wir fahren ins Reich" ??? - oder ist das der saarländer?!?


jean stubenzweig   (11.07.08, 06:44)   (link)  
Frühe Butterfahrten
Der französisierte Saarländer fuhr ins Reich, etwa von Homburg (Saar) nach Zweibrücken (Pfalz). Beispielsweise, um gute deutsche Butter nach Frankreich einzuschmuggeln. Das waren sozusagen die Butterfahrten der vierziger und fünfziger Jahre. Aber dann kam Adenauer und nahm Frankreich alles (das Saarland) wieder weg.


prieditis   (11.07.08, 07:06)   (link)  
aber sie sagen es heute noch ;o)


jean stubenzweig   (11.07.08, 14:32)   (link)  
Die sagen das nach wie vor?
Ich war länger nicht mehr dort (aber wenn, dann ganz gerne), da ich gewohnheitsgemäß über die Pfalz ins Franken-Reich einreise oder aber via Luxembourg durchfliege. Aber ich erinnere mich: Sie waren schon immer sehr bodenständig. Beispielsweise kein Saarbrücker Altstadtfest, das einen dort oder innerhalb der Landesgrenzen Geborenen davon abhalten würde, alljährlich dorthin zu fahren. Und wenn er am Polarkreis lebt.

Falls es Sie interessiert: Ich bin auf eine Seite gestoßen, in der sich ein Saarländer ausgiebig Gedanken über die Eigenheiten seiner Landsleute macht — sarrelibre.


prieditis   (11.07.08, 16:22)   (link)  
Ich LIEBE solche regional"patriotischen" Informationen. So lernt man wenigstens das Land in dem man lebt, ein wenig besser kennen. Und schlussendlich, irgendwie sind´se doch all´ejaal....

Und die Animositäten zwischen den einzelnen Bundesländern sind ein Spiegel der eigenen Straße. Mit dem direkten Nachbarn kommt man oft auch nicht so gut aus. Der Nachbar drei Häuser weiter, der kann dein bester Freund sein...


jean stubenzweig   (11.07.08, 16:40)   (link)  
d'accord
Absolut. Und wenn's dann auch noch unterhaltsam verfaßt ist wie bei sarrelibre: Schiller meinte, Unterhaltung sei wichtig: Die Wahrheit ist nur mit List zu verbreiten.

Dazu fällt mir ein: Ich habe immer mit (oberirdischen) Bahnen, vor allem aber in Bussen alle möglichen Städte erkundet. Einfach irgendwo einsteigen und sich irgendwo hinbringen lassen, aussteigen und zu Fuß weiter, den Kopf oben und die Nase unten (oder so ähnlich). Der nächste Bus brachte mich dann wieder woanders hin. Ins Zentrum kommt man immer (wieder). Auch habe ich, wann immer es ging, keine Autobahnen, sondern die Nebenstraßen benutzt. Auch hier: aussteigen und mit den Menschen sprechen.

Kuriosum am Rand: Nach einem Geistesblitz habe ich die Bustour mal in der Stadt ausprobiert, in der ich seit fünfundzwanzig Jahre lebte. Irgendwie war ich dann doch recht verblüfft, was es alles zu sehen gab ...


prieditis   (11.07.08, 16:49)   (link)  
Genau! Ich geh in der Stadt fast überall zu Fuß hin. Da ist man auch gleich auf dem neuesten Stand der Geschäftsinhaber, bzw. weiß, wo es was zu mieten gibt ;o)

ansonsten bin ich viel mit dem 50er Roller durch die Lande gezuckelt... Wie gesagt: "Isch liebe deutsche Land..."















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