Le kitsch

Von Zeit zu Zeit lese ich eines der früher mal gerne gelesenen Bücher erneut, auch deshalb, um herauszufinden, ob die damalige Begeisterung die Jahre in und mit mir überstanden hat. Momentan ist Milan Kundera an der Reihe, und ich mache den Anfang mit dem Buch, das damals die Spalten füllte und das mich als Präsent erreichte, was zu Folge hatte, daß ich es erstmal lange liegenließ, da ich von jeher ungern gelesen habe, das zur Lekture von Millionen Fliegen gehört. Bis heute ist das so. Wer mir eine Freude machen möchte, schenkt mir ein Buch, das völlig in Vergessenheit geraten, aber vermutlich noch nicht in einem meiner Regale (oder unausgepackten Bücherkartons) zu stehen beziehungsweise zu liegen scheint. Oder eben eines, das nicht irgendwie gespiegelt ist. Die Wahrscheinlichkeit ist dann sehr hoch, daß ich für eine Weile unansprechbar bin.

Die aktuelle Freude ist allerdings getrübt. Was nicht am Buch liegt, das in mir Bestand zu haben scheint. Sondern an dem, was mit diesem Buch, nein, mit dem Titel des Buches geschieht. Da ich wissen wollte, ob es noch nicht verramscht ist und/oder es noch vom angestammten Verlag angeboten wird, schaue ich im Internet nach. Und dann das:

Wo auch immer ich hinschaue, herumblättere, auf der Tastatur durchs Netzall suchend surfe — überall stelle ich fest: Nahezu jeder Dritte dieser Intelligenzquotientler unter dem Frontspoiler eines Maulwurf GTI — allen voran unsere Medien- und Werbemeister — gebrauchen ihn, biegen ihn sich hin, wie sie's gerade brauchen, den Titel von Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Wahllos herausgegriffen ein paar Beispiele:

• die unendliche Leichtigkeit des Seins durch Brille des Albrecht Maurer Trios (www.kunstsalon.de)

• Die «unendliche Leichtigkeit des Seins», das klappt eben nur mit einer Dachmarke, die von vielen mit der Vorstellung der «grenzenlosen Dehnbarkeit» verbunden ist. (medien.hamburg.de/Die «richtige» Markenarchitektur finden)

• Nahezu jeder Text war ein Bringer: Felix Bonke rief ein neues Zeitalter, die Googlegotik, aus, Grög! gab voller Inbrunst den Reimjunkie auf Entzug, Philipp Noss hatte eine Geschichte über nette und daher «unfickbare» Männer und Sacha trug einen Text aus seiner beliebten Reihe «Die unendliche Leichtigkeit des Seins» vor und strich die Verbindung von Lachmöwen und Xavier Naidoo heraus. (blog.claudio.de)

• planetSNOW
Nebel, Regen, November-Blues — da hilft nur noch die Vorfreude auf die unendliche Leichtigkeit des Seins — auf der Piste, beim Freeriden oder auf Tour. Als wirksames Breitband-Antibiotikum gegen ... (outdoor-magazin.com)

• Ein schöner Tag
Den Stock aus dem Arsch, den Frack in den Schrank und die unendliche Leichtigkeit des Seins zelebriert. Doppelter Rittberger, Schraube, Katerlandung und Lippenstift am Hemdkragen. So kann der Tag beginnen. Bosse dreht sich. Und die Welt gleich mit. (www.plattentests.de)

• So sieht für mich «Traumurlaub» aus:
Ein Mix aus Kultur und Erlebnis — wie tauchen, Sportboot fahren, Fahrad fahren, Land und Leute erkunden und natürlich auch relaxen. Oh je, jetzt hätte ich fast das geniesen vergessen........ Einfach, die unendliche Leichtigkeit des SEINS übernehmen .... (Kontaktanzeige in www.friendscout24.de)

• Die unendliche Leichtigkeit des Seins ... Zürich. Er sucht Sie ....
sehr humorvoller, mehrsprachiger, kommunikativer mann (45j., 185cm, 80kg) sucht die gebildete, vielseitig interessierte sie, um gemeinsam ... (Kontaktanzeige in zuerich.kijiji.ch/f)

• Die unendliche Leichtigkeit des Seins: «Titanium Click» (bike-sport-news)


Wie hatte Milan Kundera noch in seinem großartigen Roman geschrieben?

«Bevor die Schönheit endgültig aus der Welt verschwindet, wird sie noch eine Zeitlang aus Irrtum existieren. Die Schönheit aus Irrtum, das ist die letzte Phase in der Geschichte der Schönheit.»

Vielleicht sollten diese ganzen Textbieger und Rosinenpicker und Klappentextabschreiber tatsächlich mal das Buch lesen! Es gehört (nach wie vor!) zu den besten (und spannendsten!) der Literatur der vergangenen Jahrzehnte. Darin hat Kundera beispielsweise geschrieben:

«Der Streit zwischen denen, die behaupten, die Welt sei von Gott erschaffen, und denen, die denken, sie sei von selbst entstanden, beruht auf etwas, das unsere Vernunft und unsere Erfahrung übersteigt. Sehr viel realer ist der Unterschied zwischen denjenigen, die am Sein zweifeln, so wie es dem Menschen gegeben wurde (wie und von wem auch immer), und denen, die vorbehaltlos mit ihm einverstanden sind.

Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das
kategorische Einverständnis mit dem Sein.

Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.

Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des
kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.»

Ich setze mich jetzt in den Sessel, höre ein wenig in Herrn Beethovens Coriolan-Ouverture in der wunderbar bombastischen Interpretation von Léo Ferré auf der Platte je te donne hinein, lasse ihn laut fragen Muß es sein? und lese — jawoll, mit einer gewissen Leichtigkeit (über die Zickereien von Madame Magenta hinwegsehend, die mal wieder behauptet, die Leitungsruckeleien lägen nicht an ihr und außerdem interessiere sie das sowas von überhaupt nicht): Kundera!

«Obwohl Tomas Teresa zuliebe begonnen hatte, Beethoven zu lieben, verstand er gleichwohl nicht viel von Musik, und ich zweifle, ob er die wahre Geschichte von Beethovens berühmtem Motiv ‹Muß es sein? Es muß sein!› kannte.»

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Roman
Aus dem Tschechischen von Susanne Roth, Hanser Verlag, München-Wien 1984

 
Mo, 14.07.2008 |  link | (5405) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


fluechtig   (14.07.08, 17:24)   (link)  
Ich liebe dieses Buch, entgegen jedem Verriss und jedem dummen Spruch, den ich ernte, wenn ich es irgendwo erwähne. Ich liebe es wegen seiner Sätze, in denen manchmal so viel steckt, dass ich es fortlegen musste, das Buch, und nicht weiterlesen konnte, für einige Zeit, weil mir die Sätze weh taten. Ich hatte es übrigens zuerst als Hörbuch, aber das ging gar nicht, weil ich dort nicht zurückblättern und mir die Worte ansehen konnte.

Ich werde keine der von Ihnen aufgeführten Seiten besuchen, weil ich vorhabe, dieses Buch irgendwann noch einmal zu lesen. Auf meine Art und mit meinen Gedanken dazu.


hap   (14.07.08, 21:57)   (link)  
Glückwunsch
"Ich werde keinen der von Ihnen aufgeführten Seiten besuchen, weil ich vorhabe, dieses Buch irgendwann noch einmal zu lesen. Auf meine Art und mit meinen Gedanken dazu."
Jaaa! Prima Entschluss! Der arme Stubenzweig, der sich den ganzen Mist ansehen musste. Die Tatsache, dass der Titel des Buches im Lauf der Jahre zu einem "geflügelten" Wort geraten ist, spricht nicht gegen das Buch. Und ich muss noch was anbringen: Einer der wenigen Filme, die einer Buchvorlage gerecht wurden, war der Film "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" von Philipp Kaufmann. Ach, wie ich mich in Juliette Binoche verliebt habe. Der Film hatte angeblich "Überlänge" - iss mir nicht aufgefallen.
Wobei ich mich frage: Weshalb hab ich seit Jahren nichts von Milan Kundera gehört, gelesen, gesehen? Lebt der noch? Was macht er?
Schöne Tage!
hap


fluechtig   (15.07.08, 00:23)   (link)  
Das Buch der lächerlichen Liebe könnte ich noch empfehlen, falls Sie es noch nicht kennen. Falls doch, würde es mich freuen, dazu von Ihnen zu lesen. Ich verschenkte es einmal, gänzlich ohne Rückmeldung zu erhalten. Weiss nicht einmal, ob es gelesen worden ist. Inzwischen.


jean stubenzweig   (15.07.08, 17:35)   (link)  
Lächerliche Liebe
Nein. Ich habe es nicht gelesen. Aber wenn ich das so lese:

«Dann war alles vorbei. Der junge Mann löste sich von der jungen Frau, griff nach der langen Schnur über dem Bett und löschte das Licht. Er wollte ihr Gesicht nicht sehen. Er wußte, daß das Spiel aus war, hatte aber keine Lust, in das gewohnte Verhältnis zurückzukehren; er fürchtete diese Rückkehr. Er lag neben ihr im Dunkeln, und zwar so, daß ihre Körper sich nicht berührten ...»

dann warte ich doch erstmal ab, bis mich die entsprechende Stimmung ereilt, na ja, vielleicht doch eher: überkommt. Ich bin in der glücklichen Lage, im wesentlichen nur noch zu meinem Vergnügen, also je nach Lust und Laune lesen, schreiben und hören zu dürfen.


P. S. Ich mag den Alles-Plattmacher und Datensauger Amazon nicht. Bücher werden von mir im Buchhandel gekauft, und wenn's gar nicht anders geht, dann gibt es andere Versandhändler, die auch kostenlos und schnell liefern. Sogar den Nachwuchs und dessen Umgebung habe ich mittlerweile so weit hingegebogen gekriegt, sich daran zu halten.


hora sexta   (14.07.08, 23:51)   (link)  
Zeihen Sie mich der Beckmesserei, aber heißt das Buch nicht "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"? Oder ist es gar die Verunglimpfung und süßliche Verebnung des Titels, die Sie geißeln wollen, und ich hab's nicht verstanden?


fluechtig   (15.07.08, 00:24)   (link)  
Ich habs auch nicht verstanden. :)))


jean stubenzweig   (15.07.08, 02:10)   (link)  
Mesdames ! Monsieur !
Ich bin untröstlich.

Da muß irgendwie Gevatter Freud mit reingespielt haben, der's wohl genug des Unerträglichen fand. Gegeißelt hatte ich's ja wohl ausreichend, da hätte ich nicht auch noch den Titel verumbauen müssen. Möglicherweise war ich auch inspiriert von den Verballhornungen. Dank Ihnen für den Hinweis. Ich werde es ändern.

Mit ein klein wenig beruhigender Schadenfreude stelle ich fest, daß mein ausgewiesener Hauskorrektor oder auch Schlußredakteur Hans Pfitzinger das auch überlesen hat. Denn normalerweise entdeckt der alles, sogar LSD im Fernseher.

Für nachfolgende Leserationen: Ich hatte meine Kreativität genutzt und das Buch in Die unendliche Leichtigkeit des Seins umbenannt.

Auf Film und Hörbuch gehe ich noch ein.

Bin ich eingegangen


hap   (15.07.08, 11:14)   (link)  
Die unendliche Leichtigkeit der Fehlersuche
Lieber Stubenzweig, na klar hab ich das überlesen, weil ich die angeführten Beispiele nur überflogen habe. Ich war schon froh, dass mir noch der richtige Titel eingefallen ist. Nebenbei bemerkt: Neulich hab ich mal in der Emeramsmühle die unerträgliche Zähigkeit des Schweins erlebt. Aber das ist eine ganz und gar andere Geschichte. (Man gebe in der Suchmaschine "Delfina Paradise" ein.) ;-)
Was Hörbücher auf CD anbelangt: Da hat der Jochen Hoff wohl recht. Der Boom dieser Gattung hat mit der Gewohnheit des Autofahrens zu tun. Mein Schwager, der seine Tage beruflich auf Autobahnen zubringt, gehört zu den Abnehmern, hat das Zeug stapelweise im Handschuhfach. Ich kann damit gar nichts anfangen, auch wenn ich mir einrede, die gehörte Literatur wäre ja eine Rückkehr zur tatsächlich erzählten Geschichte in vortechnischer Zeit. Geht völlig an mir vorbei.
Schöne Tage!


caterine bueer   (24.11.10, 21:51)   (link)  
Unerbittlich.
Notiz über Kitsch.















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