Fragmentarisches

«Offen gestanden halte ich die unterhaltsame, poetische Kritik für die beste, und nicht die kalte, algebraische Kritik, die unter dem Vorwand, alles zu erklären, weder Haß noch Liebe kennt und sich freiwillig jeder Art von Temperament entäußert. Da ein schönes Bild die von einem Künstler gespiegelte Natur ist, wird die beste Kritik diejenige sein, die zeigt, wie eben dieses Bild sich in einem einsichtigen und einfühlsamen Geist spiegelt. Demnach kann die beste Besprechung eines Bildes ein Sonett oder eine Elegie sein. — Aber diese Art Kritik bleibt Gedichtsammlungen und poetischen Lesern vorbehalten. Hinsichtlich der Kritik im eigentlichen Wortverstand hoffe ich, die philosophischen Köpfe werden mich verstehen: um gerecht zu sein, das heißt, um ihre Daseinsberechtigung zu haben, muß die Kritik parteiisch, leidenschaftlich, politisch sein, das heißt, sie muß unter einem ausschließlichen Gesichtspunkt erfolgen, unter einem Gesichtspunkt jedoch, der möglichst viele Horizonte eröffnet. — Die Linie auf Kosten der Farbe, oder die Farbe zum Nachteil der Linie zu preisen, ist zweifellos ein Gesichtspunkt; nur zeugt das von einem weder sehr aufgeschlossenen noch sehr gerechten Sinn und verrät eine beträchtliche Unkenntnis individueller Schicksale.»
Charles Baudelaire

Zitiert nach: Henry Schumann, in: Die Modernität Baudelaires, in: C. B. Der Künstler und das moderne Leben, Essays, ‹Salons›, intime Tagebücher, Leipzig 1990, S. 408

Philosophie und Wissenschaft allein sind dieser unergründlichen Welt nicht kommensurabel, beide müssen daher poetisch werden, sagt Novalis. Und Harro Zimmermann schreibt dazu: «Wenn sich die Poesie mit ihren Mitteln der sprachlich-ästhetischen Konstruktion, mit ihrer technisch reflektierten Phantastik von den Denk- und Erfahrungsfesseln des Gewöhnlichen und Normierten zu lösen versteht, wenn sie Ergebnisse wissenschaftlichen Scharfsinns zu leuchtender Sinn-Bildlichkeit umzuschmelzen lernt, wenn ihr gleichsam die imaginierende Verrätselung ihrer Enträtselungserfolge gelingt, dann kann Sehnsucht zum intelligenten Ferment eines wirklichen Wissens werden. Das Fragmentarische und Verworrene, das Undarstellbare und Unbestimmte, so hat es der Philosoph Wolfram Hogrebe beschrieben, erscheint dann als Sinnverheißung an den Zauberworten und Wunderdingen der Poesie. Wie an der blauen Blume, die eine ‹Monstranz des Nicht-Wissens› darstelle. Ohne diese Sehnsucht besäßen wir keinen Sinn über die bloße Endlichkeit hinaus, wir wären nicht erkenntnisfähig. Die blaue Blume steht dafür, daß es ein abschließendes, ein beruhigendes und stillgestelltes Wissen nicht geben kann, sondern daß uns nur Endlichkeiten ohne Ende beschieden sind.»

Harro Zimmermann: Romantiker der praktischen Vernunft, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 70 vom 24./25.03.2001, SZ am Wochenende

Das ließe sich auch zusammengefaßter, geraffter aufschreiben, aber es ist meiner Meinung nach so passergenau, daß es an eben dieser Präzision verlöre, drückte man das bereits Komprimierte noch einmal zusammen. Und ich bin ja auch nicht Rhetor in einem Crash-Kurs für klappentextwissende Mittelbaumanager.

«... nur im Weiß zwischen den Zeilen ...» — also das Weiße zwischen den Zeilen erkennen (Between the Lines, heißt es im Englischen; Mitte der Siebziger gab es einen bewegten, bewegenden, aber dennoch stillen Film mit diesem Titel). Ich sage das gerne und schreibe auch gerne so, auch wenn es dem «aufrichtigen Geradeausdenken» einiger zuwiderläuft: Etwas zwischen die Zeilen schreiben.
 
Mi, 06.08.2008 |  link | (1633) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino















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