Erklär' mir Europa! Ich stehe in einem nahezu ausnahmslos vom Tourismus genährten Fischerdörfchen. Allenfalls zwei oder drei dieser Schiffchen fahren noch hinaus, um die drei oder vier Fischlein reinzuholen, die da verloren noch herumschwimmen im mer meditteranée. Die letzten größeren sind längst von den großen Fischen abgefischt und unterwegs nach Japan oder in die Konserve. Hat einer viel Glück, bringt er noch einen thon mit, auf den sich sofort die einheimischen Hausfrauen stürzen, um mal wieder diesen im Land sehr beliebten Fisch unverfroren in die Pfanne hauen zu können. Ein paar Meter weiter verkaufen sie an einem Stand Unmengen von diesem schwimmenden Getier. Frisch aus Paris, der gigantischen Fischumverteilungszentrale für Europas feine oder nicht so feine Schmecker, gefangen von nicht minder riesigen schwimmenden Fabriken, die mit ihren Schleppnetzen nicht nur den letzten Fitzel Seegrasnarbe auf dem Meeresgrund weit draußen abrasieren, dem Laichplatz und der späteren Vorschule für die süßen kleinen Fischlein, sondern deren euroglobalistischen Großkapitaleigner sich darüber hinaus sonstwas darum scheren, was mit den Existenzen an der Nordsee, dem Atlantik oder dem Mittelmeer geschieht. Die verbliebenen multinationalen Billigheimer Europas benötigen 50-Centimes-Konserven und panierte Stäbchen für die Kleinen, die ja bekanntlich keinen Fisch mögen. Und das geht eben nur so. Nein. Halt. Es geht ihnen eben nicht sonstwo vorbei. Sie betreiben gar den Niedergang der Kleinfischerei. Ausreichend Lobbyisten hocken vor den Brüsseler Amtsstuben, und in denen willfährige, vom Volk entsandte Vertreter, die den Restfischern Steuergelder in die Hand drücken möchten, auf daß sie ihre Böötchen stillegen. Wie den Bauern für ihre eine Zeitlang brachliegenden Äcker — bevor ein paar ganz Findige eurosubventioniertes Getreide darauf anbauen. Aber nicht für Mullers Mühlchen beziehungsweise des (noch mit reinem, noch nicht chemieangereichertem Mehl arbeitenden) Bäckers Backtrog, sondern für ökobiologischdynamischen Sprit. Auf daß die Fischverarbeitungsmonster auf hoher See und deren vorstandsvorsitzenden Besitzer zu Lande umweltfreundlicher fahren. An diesem Verkaufsstand mit seinen Bergen an Fisch, fast wie bei bei Toinou in Marseille, der eben überall, nur nicht in der Nähe eingesammelten Fisch anpreist, hängt ein Schild. Irgendwas mit allemand lese ich. Nicht ungewöhnlich für diese Gegend, die von Deutschen auf der Durchreise nach Spanien gerne für einen kurzen Abstecher in die römischen Ruinen genutzt wird. Die Autoroute führt direkt am Meer entlang. Die Kultur kostet dann nicht allzuviel Zeit. Wißbe- oder auch neugierig, wie ich nunmal bin, schaue dennoch genauer hin, was an Deutschem da feilgeboten wird. «Original Thüringer Bratwurst», das läge nahe. Zumal es die sättigungsbeiliegenden Pommes namens Fritz mittlerweile ja bis in dieses fröschefressende Land geschafft haben. Diese handgeschnitzten dünnen Dinger schmecken zwar nicht so gut wie zuhause die dicken in Erna's Chill out. Aber die verstehen ja sowieso nichts davon, denn die essen das labberige Zeugs ja sogar zu Muscheln. Ich gehe also näher heran an das Schild. Und was steht da? crevettes allemande. Ist da was vom LKW gefallen? (Leider ist der Photoapparat zu weit weg, und mein Mobile ist so ein unmodernes Gerät, mit dem man nur telephonieren kann und sonst gar nichts.) An der früher sehr gerne von mir besuchten Nordsee hatte ich nach allerlei einheimischen Hinweisen die Nebenpfade gefunden, an diese entzückenden kleinen Schalentierchen zu kommen, bevor sie in Ameisensäure ersäuft und nach einer geradezu grotesken, jede Vernunft außeracht lassenden LKW-Tour in Marokko oder Tunesien geköpft wurden, um dann nochmals viele tausend Kilometer ans Wattenmeer zurückgekarrt zu werden, um mit billiger Industriemayonnaise aneinandergeklebt in den auf Masse programmierten Schlunden von Menschen zu verschwinden, denen eigentlich Currywurst und rotweiße Pommes lieber gewesen wären, die es aber nunmal nicht gab an der meeresnahen Fischbude. Früher war so etwas Heimarbeit für viele. Zu teuer hieß es, zu hohe Lohnnebenkosten. Für den Preis würden die mittels Handarbeit gepulten Tierchen derart kostenintensiv, daß kein Wanne-Eickeler oder Castrop-Rauxeler mehr nach diesem regionalspezifischen Produkt greifen würde. Nun tut er's also doch (und noch). Aber nur, wenn sich keine Currywurst in der Nähe befindet, und läge sie noch so lange auf dem Rost und stünde die dazugehörige Industrieschmiererei noch so lange in der Plastikflasche herum. Nun, wenn's denn sein muß, wenn seine Grundbedürfnisse nach Plaste nicht erfüllt werden, fummelt er ein paar von diesen Tierchen aus ihren Panzern, wirft sie ein wie Erdnüsse und das restliche Kilo anschließend den anderen vor. Sie kosten ja kaum was. Über diese (Er-)Kenntnisse verfügen die längst nicht einmal mehr sonderlich überraschten Möwen. Aber sie wissen es wenigstens zu schätzen. Und das muß man gesehen haben, um zu wissen, weshalb unsereinem die Zunge zusammenziehend sich einrollt wie die eines Minimöpschens: Obwohl das Angebot in der nordrhein-westfälischen Einflugschneise zu den Inseln Norderney oder Juist, an der Noterstversorgungsstätte Norddeich, bei weitem aufs Geringste reduziert ist, so ist es doch Fisch. Frischer zudem. Oftmals tatsächlich aus den küstennäheren Restbeständen. Nun gut, es muß ja nicht unbedingt Knurrhahn sein, dieses feuervogelgesichtige Meeresungeheuer. Aber so eine Scholle zum Beispiel? Nicht ins tausendtagealte Frittenfett geschmissen, wie an den Hamburger Touristenabfütterungsbuden an den Landungsbrücken oder in einem Unternehmen üblich, dem besagte nördliche See den Namen gab, samt monatelang haltbarem Eimerkartoffelsalat. Sondern so, daß die fischbratende Frau Wirtin bei der Bestellung leuchtende Augen bekommt: in Butter gegart. Der Speck dazu ist zu vernachlässigen. Schließlich benötigt der durchschnittliche Wattrandspaziergänger doch etwas weniger Kalorien als der tagelang auf See schippernde und Schwerstarbeit verrichtende Fischer. Scholle und Dorsch schmecken nämlich nicht nur nach Fisch, sondern nach Scholle oder Dorsch. Gestern hatte Monsieur Alphonse da etwas aus bayrisch-europäischer Sicht thematisiert, das eines meiner Generalthemen ist und das man gar nicht oft genug thematisieren kann. Der nicht minder geschätzte Holger Klein steht da offensichtlich immer wieder genau so atem- und sprachlos da wie unsereiner, weshalb auch er es thematisierte beziehungsweise auf meinen geradezu hilflosen ethischen Imperativ verwies: Erklär' mir Europa! Was auch immer das für ein Produkt sein mag — es reiht sich wohl ein in die sehr, sehr lange Liste des Verbotenen und noch zu Verbietenden, vom Bayernland bis an die Waterkant, besser vielleicht: von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt und weit, weit darüber hinaus. Nur Lug und Trug und (Ver-)Blendung. Da lassen sie regionale (eigenständige!) Sprachen höchster Kulturgüte wie das Okzitanische wieder zu, retten alte Schweine- und Rinder- und Hühnerrassen, aber gleichzeitig wird die mit Essensresten gefütterte Sau im Hinterhof verboten, und nun fangen sie bereits an, den Kleinviehhaltern europaweit ihren zweimal jährlich genossenen Sonntagsbraten zu verbieten («freilaufende Hühner ...»). Nichts ist mehr sicher vor diesen Menschen, die solche Gesetze und Verordnungen erlassen – und sich dann (klammheimlich?) an irgendeinem runden Slow Food-Tisch zum Ritter des Guten Geschmacks schlagen lassen. Erklär' mir Europa! Das der Regionen. Das, an das ich Depp einmal geglaubt habe. José Bové hat das seit rund dreißig Jahren versucht. Jener Bauer, der für seine Attacke gegen eine US-amerikanische Bratklopsbratereifiliale in Südfrankreich in den Kahn gegangen war und der den geistigen Hintergrund für attac mitgeliefert hatte, weil er unter anderem den Weg zur regionalen Versorgung wieder gehen wollte, der wollte, daß die Bauern von ihrer Arbeit leben können und der seinen Mitmenschen etwas Ordentliches zu essen gönnte und nicht diese Malbouffe, diesen Drecksfraß. Ich habe vermutlich nicht genau genug hingehört damals.
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