Afrutopia Ein unangenehmer kühler Wind wehte vom Archipel, den Île du Frioul herüber. Nein, kalt war er, wie alle Ostwinde, egal ob an Ost- oder Nordsee oder eben auch hier am Mittelmeer. Im Sommer mochte er Linderung bringen, aber jetzt im November war auch die Afrika und Europa oder andersherum verbindende Badewanne und damit deren landmassige Umgebung unangenehm heruntergekühlt. Die Außentemperaturen gingen früh am Morgen um einiges unter die Zehn-Grad-Grenze, vor allem dann, wenn der Wind nach Norden drehte oder besser: von der Rhône herunter nach Marseille hineinfegte. Der Mistral kühlte auch bei hochsommerlichen Temperaturen allenfalls Touristen ab. Den fluchenden Kellnern blies er gar gefüllte Wasserflaschen von den Tabletts, und dieser Blasprotz vermochte durchaus, Schöße zu befeuchten, was manchem dezent geschminkten, zum Vergnügen angereisten Mündchen nicht unbedingt ein Juchzen, sondern eher ein derbes Merde entfahren ließ. Doch selbst im August säße um diese Uhrzeit niemand in einem der Cafés um den Alten Hafen, auch nicht um sich abzukühlen von den alltäglichen rund vierzig Grad plus. Daß er im November früh um fünf das kleine Boot bestieg, das er hinter den beiden Türmen festgemacht hatte, die die Ein- oder Ausfahrt zum View Port bildeten, der seit Jahrzehnten schon fast nur noch der Freizeit diente und in dem, bis auf ein paar Fische für die drei Tische am Quai des Belges, bis auf Touristen keine Waren mehr angelandet wurden, lag auch nicht daran, daß er eine äußere Linderung suchte. Es ging ihm um eine innere. Nach Afrika aufzubrechen war er gewillt. Die einen kommen, die anderen fahren dahin. Auf dem Weg dorthin erhoffte er, endlich ein Zuhause zu finden. Und sei es im Wasser. Er hatte sich von seinem letzten Geld einen passablen Kompaß gekauft, der ihm garantieren sollte, auf jeden Fall nicht in Marokko anzulanden. Der Kurs mußte ihm also genau den Süden, eher Südwest anzeigen, der ihn am europäischen Appendix Nord-Afrikas vorbeiführen sollte. Andererseits bliebe für diesen unglücklichen Fall immerhin die Möglichkeit, man könnte ihn aufgrund seines Äußeren für einen flüchtigen Einheimischen halten, etwa für ein Überbleibsel der Pied noirs, jener im 19. Jahrhundert nach Afrika geflüchteten Menschen, die größtenteils aus Armutsgründen der alten Welt den Rücken gekehrt hatten; nach heutigem Sprachgebrauch wären sie Wirtschaftsflüchtlinge genannt worden. Dann würde ihn die Außengrenze bewachende europäische Fremdenpolizei mit Sitz in Nordwestafrika möglicherweise nach Algerien abschieben. Dort herrschte zwar mittlerweile der Islam, aber die alten, einst vom Vater geschenkten Schekel, von denen er allerdings nicht wußte, ob sie noch Gültigkeit hatten, könnten einen Hinweis dafür geben, daß er nach Israel weiterverfrachtet würde. Dort wollte er zwar auch nicht hin, nicht nur, weil er den einstigen Exodus wegen ihres Glaubens Vertriebener nicht nachvollziehen wollte, aber dort wurden seit einiger Zeit schließlich auch Menschen in Frieden gelassen, die keinerlei Religion anhingen. Doch er hatte ohnehin nicht die Absicht, anzulanden. Denn das hatte ihn die Erfahrung gelehrt: Es gibt kein Ankommen. Er wollte nichts als wegkommen. Und vielleicht oder hoffentlich von einem dieser schwarzen Löcher auf- oder weggesogen werden, die auch das All der Meere beherrschen. Der Weg sei das Ziel, schreibt die äußerst freie Übersetzung, die sich auch als Allgemeinplatz bezeichnen ließe, Konfuzius zu. Doch der hatte wohl, wenn überhaupt, damit gemeint, er habe seinen Willen auf den Weg gerichtet. Dào legen die Sinologen, die nicht mehr wie früher Coca Cola oder Bier auf den Weg bringen zu müssen scheinen, ohnehin anders aus: Ich kenne seinen Namen nicht, darum nenne ich es ‹Dào›. Mein Weg ist also nicht nur kein Ziel, sondern er ist obendrein unbenennbar, hat schlicht keinen Namen. Sein Weg wäre demnach oder allenfalls der nach Utopia, dem Nichtort. Oder auch das Nichts. Es ist der Beginn einer Geschichte, von dem ich noch nicht weiß, ob sie sich weiterschreibt, ob sie ein Ende haben wird.
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