Küchenkulturoptimismus

Herr Mark schrieb auf seiner dunklen Seite:

«Mag sein, dass ich als Stadtkind weite Wege habe zu dem, was Großmutter noch wusste. Meine nicht mangel-, kriegs- und inflationsgeprägte Logik sagt mir, dass so ein klassisches Suppenhuhn, das im Leben tausende Eier gelegt hat, im Zweifelsfall wesentlich ausgemergelter und verausgabter sein wird als so ein junger Hahn, der in Saft und Kraft steht. Und damit dürfte klar sein, von welcher Variante ich mir eine kräftigendere Brühe erwarte. Wenn ich damit falsch liegen sollte, dann bitte ich darum, mit Argumenten widerlegt zu werden und nicht mit diffusen nostalgischen Anwandlungen und Küchenkulturpessimismus. ;-)»

Zugestanden, meine Äußerungen waren etwas kryptisch. Deshalb muß ich etwas ausholen und verlege aus diesem Grund die Widerlegung auf meine helle, hoffentlich erhellende Seite, da ich ihm mit meinen allzu üppigen Zutaten nicht alle Zu- und Ausgänge verstopfen will.

Mit Küchenkulturpessimus hat das eher weniger zu tun. Sondern mit Geschmack. Und der Hoffnung, es möge selbiger nicht mit einer Nostalgie in einen Topf geworfen werden, die nichts anderes bedeutet als «Verklärung der Erinnerung» (Wolfgang Ruppert). Die ist tatsächlich saft- und kraftlos. Das ist wie der Erwerb von Oma's Kochbuch, das dann direkt im Regal landet oder weiterverschenkt wird. Nennen wir's einfach Althergebrachtes, Überliefertes, das als natürliches — nicht naturnahes! — Aroma mit hineinsoll.

Gerne gebe ich mich als jemand zu erkennen, der Frösche oder Hühner oder anderes Viehzeugs nicht nur gerne ißt, sondern allesamt auch seit Jahrzehnten zu jagen und zu zerlegen und zuzubereiten in der Lage war und ist: ein maître de cuisine auf dem Lande hat's mir mal beigebracht. Nicht neue Küche, sondern ländliche, des Südens. In dieser Gegend (und anderen des Landes, aber durchaus auch anderswo) wird auch heute noch so gekocht. Durchaus auch in Städten. Und sehr häufig stehen in den Küchen Mütter oder Schwiegermütter, die's wiederum von den ihren haben. Und auch Töchter gibt's, die von der Tradition überzeugt sind. Und nicht unbedingt, wie das bei Söhnen häufig der Fall ist, zum Kochen eine Kamera sowie viele Zuschauer benötigen, denen sie anschließend noch ihr elftes Druckwerk verkaufen können. Gerne denke ich an Aufenthalte in badischen oder pfälzischen Gasthöfen, auf jeden Fall in eher südwestlicher Geographie, wo mir das eine ums andere Mal sozusagen Überliefertes vorgesetzt wurde. Während der Mann anderswo geackert hat, und sei's in der Wirtsstube.

Der junge Hahn, in unserem Fall: das Hähnchen ist in der Regel eines, das fürs offene Feuer, in technischer Weiterentwicklung Grill genannt, auch fürs zum Rohr mutierten Erdloch und allenfalls in der Brustpartie für die Pfanne gezüchtet ist, und zwar in der Fabrik, meinetwegen auch in einer freilaufenden, auf jedenfall in Massen. Ansonsten wird er ja für längere Zeit benötigt, um die Hennen auf dem Hof nicht nur zu betören. Hat er lange genug rumgehühnert, landet auch er im Topf. Er ist, wenn er nicht ohnehin für den rascheren Verzehr herangezogen wurde, sich also länger im Amt befand, burned out, ausgelaugt aufgrund seiner ständigen revierausrufenden und sexuellen Aktivitäten, die ihm viel von der geschmacklichen Substanz genommen haben — im Vergleich zum trägen vor sich hinpickenden Huhn. Das hingegen, auch fette Henne genannt und erst nach dem Nachlassen der sogenannten Legeleistung fürs Lebensende bestimmt, hat für die Brühe und die sich ergebenden folgenden Mahlzeiten wesentlich mehr Fleisch und eben auch Fett, das dem Hahn aus den genannten Gründen abgeht. Fett ist das, was jeder guten Küche unabträglich ist: es ist Geschmacksträger (und wird vom Körper sehr viel besser abgebaut, als uns die Lebensmittelindustrie das aus umsatztechnischen Gründen permanent vorbetet). Zusammen mit dem vielen, im Idealfall langsam gewachsenen festen Fleisch, mit vielerlei Gemüsen, Kräutern, Knoblauch, behutsam eingesetzten Gewürzen und weißem Wein – alles je nach Gusto – und lange genug, also gerne Stunden, auf dem Herd, ergibt es jene kräftige und schmackhafte Brühe, die sich auch als Fond verwenden läßt, beispielweise für ein Coq au vin (ich mache das jedenfalls so: feine, fleischige Hähnchenschenkel marinieren, mindestens zwölf Stunden ziehen lassen, anbraten und dann hinein in den köchelnden Sud, bis sie rosig bis weiß gegart sind).

Was an Hühnern für Brühen et cetera in den Supermärkten angeboten wird, ist meist zu jung, es fehlt ihnen an langsam gewachsenem Fleisch. Klar, so viele alte Hennen kann es gar nicht geben, und es will ja umgesetzt werden, weshalb die Viecher in der Regel einer Schnellwachsprozedur unterzogen werden. Aber ein halbes Jahr sollte so ein Huhn mindestens auf den Rippen haben, ein ganzes gäbe bereits mehr her. Wer die Möglichkeit hat, sollte für eine kräftigende Brühe auf jeden Fall Suppenhühner von einem Bauern- oder zumindest Geflügelhof kaufen, und da es die in der Stadt eher seltener gibt, in einem Fachgeschäft. Auch wenn's ein bißchen mehr kostet. Aber man hat länger davon, denn das macht in der Geschmackserinnerung als Glücklichmacher fest.

Selbstverständlich wird man im nächsten Dorf schon wieder anderer Meinung sein als in dem, in dem man mich das lehrte. Das aber macht die Vielfalt der Küchensprache aus: Es gibt unendlich viele Dialekte. Und die sind in der Regel nur mündlich überliefert.
 
Fr, 17.10.2008 |  link | (2139) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache


hap   (17.10.08, 13:04)   (link)  
Wer so kompetent
über Suppenhühner schreibt, kann gar nicht sooo krank sein. Freut mich, dass die vielen Genesungswünsche offenbar geholfen haben. Bleib dran, werd' gsund!


mark793   (17.10.08, 13:20)   (link)  
Besten Dank
für die erhellenden Ausführungen. Sie haben völlig recht, es müsste idealiter ein Huhn mit viiieeeel Fett in den Topf. In Köln gibt es ja eine Straße "Unter fetten Hennen", aber ich weiß nicht, ob ich dort fündig werden würde. Was einem beim Metzger oder im Supermarkt für gewöhnlich als Suppenhuhn angedient wird, ist wahrlich nicht der Bringer. Und auf eben dieser Prämisse beruhte wohl der Tipp, davon die Finger zu lassen und halt in drei Teufels Namen ein Hähnchen zu nehmen, so dass wenigstens bisschen mehr Fleisch auf den Knochen ist. Aber ich werde beim nächsten Mal größere Anstrengungen unternehmen, vielleicht doch irgendwo eine betagte fette Henne aufzutreiben, versprochen. Mein Nachbar kocht ja beruflich im gehobenen Segment, vielleicht hat der eine vertrauenswürdige Bezugsquelle.


gorillaschnitzel   (18.10.08, 02:09)   (link)  
Von südlichen Schlachtern:
Ich wunderte mich dereinst -als ich noch in Miete wohnte- über recht laute "Klopfgeräusche" des Nachbarn, was dann die Nachbarin einige Tage später auch erklärte: Sie habe 'mal schnell' ein Lamm zerlegen müssen, das ihr der Gatte mitgebracht habe, um Muttern zu beglücken.
Die meisten Menschen stellen sich jetzt grobschlächtige Menschen mit zuviel Oberarmmuskeln und vielzuviel Gewicht vor: Falsch! Rank und schlank und jung und Anzugträger.

Zum Coq au vin: Die Franzosen meinen ja, da gehöre eine Flasche Chambertin in den Topf und eine Flasche Chambertin auf den Tisch, aber ich zumindest bin in einer dialektischen Gegend groß geworden, da hätte diese "Aushausigkeit" aber mal locker gereicht, enterbt zu werden....
Überhaupt Dialekte! Jawollja! Richtig! Es gibt nicht "DAS" Bayrische oder "DAS" Schwäbische, das differiert von Ort zu Ort (wie übrigens viele Engländer nach verbalem Kundtun des Landsmanns in der Lage sind, genau zu orten, woher ein anderer Engländer stammt und welcher Schicht er angehört: Ich kann das -bezogen auf meine Umgebung, meine Region- auch.)


jean stubenzweig   (18.10.08, 03:15)   (link)  
Die Franzosen?
Und «eine Flasche Chambertin»? Das klingt, mit Verlaub, nach einem Hochfranzösisch, das es allenfalls in Kochbüchern für, sag ich mal, Deutsche gibt. Sie haben das, was ich oben schrieb – «unendlich viele Dialekte», was Küchendialekte meinte – ja ein paar Zeilen weiter unter selbst mit belegt. So läßt sich auch sagen, selbst in der Bourgogne, wo der besoffene Hahn ja sein Muttergelege haben soll, wird von Kleinstregion zu Kleinstregion, von Haus zu Haus jeweils ein anderer Wein genommen, um den Hahn zu ertränken, eben gerade so wie's paßt. Daß es trockener und ein guter und kein süßer Maury oder gar Pineau sein darf (gleichwohl die, nach meiner Praxis, zum Ablöschen der angebratenen Schenkel hervorragend geeignet ist), das ist klar. Und ich lasse die Regel durchaus gelten, man solle den Wein in den Topf geben, der auch getrunken werden will. Aber einen Grand Cru für einen Hahn? Ich weiß nicht. Das mag in einem Restaurant geschehen, in dem die englischen Acht- oder Zwölfzylinder vor der Tür stehen und deren Besitzer gerade fatalistisch ihre Restpfunde in den Mägen versickern lassen. Aber dort, wo man's mich gelehrt hat, nein, wirklich nicht. Da tut's auch eine Nummer kleiner.

Außerdem bin ich ohnehin nicht religiös. Ich ersäufe das Federvieh gerne in Weißwein. Da mag es manchen köchelnden Papst noch so schütteln – es schmeckt großartig.















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