Fadila

Zwei, drei Briefe gab es noch. Sie waren in Vergessenheit geraten. Bis ich erst kürzlich einen gefunden hatte. Auf der Suche nach Zukunft flatterte mir Vergangenheit entgegen. Aus einem Buch von Novalis, aus den Gedichten. Er lag in einem Distichon. Ihre Widmung drückte sich in einer feinen Bleistiftlinie aus, unterhalb des Titels: Kenne dich selbst.
«Eins nur ist, was der Mensch zu allen Zeiten gesucht hat;/
Ueberall, bald auf den Höhn, bald in dem Tieffsten der Welt –
Unter verschiedenen Namen — umsonst — es versteckte sich immer,
Immer empfand er es noch — dennoch erfaßt er es nie.»
Das schloß an unsere damaligen Gespräche an. Und zwei Seiten weiter befand sich ein Kreuz, wahrhaftig kein christliches, eher solch ein typisch französischer Handschriftenschnörkel, dessen Herkunft man aus allen Schriften dieser Welt heraus erkennt. Doch ein wenig arabisch Ornamentales meinte ich auch darin zu sehen. Er wies darauf hin: «Frei mich gemacht und gewiß eines unendlichen Glücks.» Sofort mußte ich an Ingeborg Bachmanns Dreißigstes Jahr denken: «Ich liebe die Freiheit, die doch in allem Feststehenden zu Ende geht, und wünsche mir schwarze Erden und Katastrophen aus Licht. Aber auch dort ginge sie zu Ende, ich weiß.» Das kam dem näher, als an die von mir erhoffte Liebe zu denken. Ich hatte diese faszinierende Algerierin nie wirklich verstanden. Doch ich hatte mir ja auch nie Zeit dafür genommen. Unendlich zugeplappert mußte ich sie haben. Später habe ich dann in Baudelaires Tänzerin Fanfarlo erfahren, wie ich mich wohl aufgeführt habe: wie Samuel Cramer, dieser von unserem so wunderbar wahnsinnigen Dichter so mild gezeichneten Kreuzung aus einem bleichen Deutschen und einer braunen Chilenin, aber unter Hinzufügung einer französischen Erziehung und einer gepflegten literarischen Bildung. Vermutlich hielt ich das in meiner Aufgeregtheit für weltmännisch. «Samuel gehörte, wie man sieht, zu jenen einen ganz einwickelnden, unausstehlichen und leidenschaftlichen Menschen, bei denen das Handwerk die Unterhaltung verdirbt und denen jede Gelegenheit gut genug ist, sogar eine im Augenblick gemachte Bekanntschaft an einer Baum- oder Straßenecke — und wäre es auch nur ein Lumpensammler, — um hartnäckig ihre Gedanken zu entfalten.» Oder ich war gar diese Figur? Irgendwie verwandt waren wir sicherlich. «Er war immer der sanfte, wunderliche, träge, schreckliche, gelehrte, unwissende, höchst lockere, gefallsüchtige Samuel Cramer, die romantische Manuela de Monteverde ...» — war das eine Vorwegnahme von Lautréamont, dem Anderen vom Berge mit seinen Gesängen des Maldoror, der 1867, zwanzig Jahre nach Fanfarlo, in Paris auftauchen sollte? — «Er besaß die Logik aller edlen Gefühle und die Wissenschaft aller Verschlagenheiten, und nichtsdestoweniger ist ihm niemals etwas gelungen.» Heute habe ich eine exakte Abbildung der Situation im Kopf: daß ihre fast schwarzen, in sanfter Weichheit gebetteten Augen mehr als einmal belustigt zuckten. Sie saß immer nur still da. Auch hatte ich sie nie kommen sehen. Und wenn ich noch so angestrengt Ausschau gehalten hatte. Jedesmal saß sie auf einem Stuhl neben mir, sobald mein erwartungs- und sehnsuchtsvoller Ausguck wieder in sich zusammengesunken und in meiner kleinen Welt wieder zum Löchlein ohne Horizont geworden war. Als ob sie nie weggewesen wäre. Selbst wenn dieses bisweilen damenhaft wirkende, dennoch jugendliche Wesen im wallenden Gewand — wohl eine kleine Verbeugung vor der Herkunft — mal für kleine Mädchen entschwebte, empfand ich ihre Rückkehr jedesmal aufs neue als Überraschung. Sie saß einfach wieder da. Und lächelte. Und nicht immer nur ironisch.

Nicht nur wegen des wiedergefundenen, Unsinn: plötzlich aufgetauchten Briefes mußte ich neuerdings wieder öfter an sie an sie denken. Plötzlich? Erst vor kurzem hatte ich in einer heftig anbrandenden Sehnsuchtswoge mich in Besançon wieder auf den Ausguck hinaufgehangelt. Verschwunden war sie. Nicht mehr auffindbar. Ihr Name war aus dem Telephonbuch von Besançon verschwunden, wie meine mehr als leicht nostalgische Neugierde herausgefunden hatte. Auch über sämtliche greifbaren Auskunfteien der France Télécom war nichts zu erfahren. Nirgendwo im gesamten Frankreich leuchtete mir mehr ihr Licht. In keiner Région war ihr Name zu finden. Diesen Mann gleichen Namens in Besançon getraute ich mich allerdings nicht anzurufen. Am Ende glaubte der, ich sei der Grund ihrer Flucht vor ihm. Oder sie ist am Ende gar zu ihm zurückgekehrt. Dann wäre ein solcher Anruf einmal mehr ein Grund für einen Mord am Anrufer. Aber über meinen Tod mochte noch immer ich selber bestimmen. Ein wenig gedauert hat es mich schon. Andererseits war ich mit der Situation doch insofern im Reinen, als mir klar war, daß es so nicht geht: sich zehn Jahre nicht melden, und dann erwarten wollen, daß sie die ganze Zeit an meinen — doch arg leichtfertigen — Schwur denkt, ich würde meine Eroberungsversuche nie aufgeben. Doch saß sie nun da? Hier, vor mir? So war es wohl. Obwohl — das ging eigentlich nicht. Fadila wäre ja jetzt ungefähr sechsundvierzig, vielleicht achtundvierzig. Auf die fünfzig zugehend. Also ist es doch Fatima. Die junge blühende Schönheit von damals. Doch das kann auch nicht sein. Denn die hätte jetzt das zarte Alter von etwa dreiunddreißig, allenfalls fünfunddreißig Jahren. Also doch Fadila. Denn diese Wüstenblumen verblühen hierzulande ja längst nicht so früh — Quatsch, Unsinn. Ingeborg Bachmann hatte es mir ja erläutert, wie es sich verhält: «... die gleichen Blumen, die bei uns bescheiden und kurz blühen, kommen dort zweimal im Jahr, groß und leuchtend. Die knappe Erde, der abweisende Fels spornen sie an. Die Armut treibt sie in die Arme der Schönheit.»

Schönheit ja. Aber Armut? Diese Blüte ist doch nicht arm, geschweige denn armem Boden entwachsen. Kargem vielleicht. Aber doch nicht im Jura. Als ob das eine Rolle spielte! Das sind Wüstenblüten, prall gefüllt zudem mit ihrem ureigenen Samen! Die geben ihre Gene doch nicht preis, nur weil sie ein paar Wurzeln in Ton, Mergel und Kalkstein geworfen haben. Außerdem weißt du ja nun wirklich nicht, ob sie nicht längst wieder zurückgewandert sind in den heimatlichen Sand. Zumindest in den südfranzösischen. Und das käme ja vermutlich hin. Das könnte hinkommen. Wie auch immer. Sie bleibt entschwunden. Die schöne Vergangenheit.

Novalis: Kenne dich selbst, in: Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais, Insel, Frankfurt/Main 1987, p 75
Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr, in: Das dreißigste Jahr, Piper, München 1961, p 67ff.
Charles Baudelaire: Die Tänzerin Fanfarlo (1847), aus dem Französischen von Walther Küchler, Diogenes, Zürich 1977, p 10ff.
Lautréamont: Das Gesamtwerk. Die Gesänge des Maldoror. Erster Gesang; aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ré Soupault, Rowohlt, Reinbek 1988, p 45f.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen

 
Fr, 07.11.2008 |  link | (3629) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (07.11.08, 09:39)   (link)  
Literatur am Morgen
Nenne ich so etwas! Führe ich mit dem Auto zur Arbeit statt mit dem Fahrrad, dann könnt' ich mir solches auch gut vom Autoradio vorlesen lassen (denn ich höre fast nur im Auto Radio, wenn ich denn mal fahre). Auch wenn man in so einem Radiotext schlecht verlinken kann; den ebenfalls schönen Diga-Diga-Doo-Text hätte ich also verpasst.


jean stubenzweig   (07.11.08, 13:25)   (link)  
Oh! Ehre.
Dankeschön! Da kommt Freude auf. Vorlesen tät ich's Ihnen ja gerne, das hier leicht veränderte Stückchen aus 630 Seiten (so dick wie Neue Vahr Süd, aber ganz anders), auch fürs Auto (der ideale Ort für sowas, da höre ich seit Jahrzehnten das Wörtliche), zumal es das zweitägige Zwiegespräch (heute heißt das wohl Dialog), im längsten Teil eine Autofahrt nach Marseille erzählt. Wie bei meinen geliebten Filmen von Rohmer: da wird auch ständig gequatscht. Aber ich weiß nicht, wie das technisch zu bewerkstelligen ist. Und Studioqualität braucht's ja auch. Sonst täten Ihnen ja die Ohren weh. Also leider nein.

Ich bin jetzt erstmal wieder weg. Vielleicht schau' ich mal bei Sophie Karthäuser rein. Nicht in den Magen. Aber Sie hatten das ja schon ...


nnier   (07.11.08, 13:30)   (link)  
Offen gestanden
verstehe ich "das hier leicht veränderte Stückchen aus 630 Seiten" nicht - erläutern Sie doch bei Gelegenheit! Und gute Reise!


hanno erdwein   (07.11.08, 16:46)   (link)  
Verwandter geist -
freue mich sehr, hier auf eigene Gedanken zu treffen. Dergleichen findet sich heute selten. Auch die Fülle literarischer Anspielungen begeistert mich. Beim Lesen dieses Textes begleitete mich (wie häufig) Barockmusik und vertiefte die Stimmung. Danke für den gehabten Genuß, (Hanno Erdwein)















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