Sechshundertdreißig Seiten

sind sozusagen eine lange Geschichte. Sie erzählt ein anderes Denken, ausgelöst durch einen nicht ganz undramatischen Vorgang in meinem Körper vor ziemlich genau zehn Jahren. (Wenn man es so betrachtet, fällt mir eben ein, habe ich am 12. November einen zusätzlichen Geburtstag, den ich aber nicht feiere wie auch nicht den anderen.) 2002 habe ich diese Denkspitzkehre, es ließe sich auch sagen: mein irgendwo im verkopften Irrgarten bis dahin verborgenes anderes Ich oder vielleicht sogar ein ganz klein winziges Etwas vom so oft ge- und mißbrauchten, aber immer noch von Arthur Rimbaud stammenden «Ich ist ein anderer», mit Blick auf meine geliebte Badewanne Mediterranée blitzartig als Roman aufgezeichnet, ganz schnell mit fliegenden Fingern, da ich befürchtete, es könnte sich wieder verflüchtigen. Als Roman und unter einem eigens dafür erdachten (neuen) nom de plume deshalb, da sich die Form unterscheiden sollte von dem, was ich sonst so notiert hatte in meinem (Berufs-)Leben. Es wurde eine dicke Schmonzette: Weltschmerz, auch anderes Leid, Glaube, Liebe, Hoffnung, aufgehängt an einem Schock, der die Erinnerung langsam wieder zurückkehren läßt, sich langsam auffüllendes, anschwellendes kleines Glück, das zum Fluß wird und als Bouche-du-Rhône, am Mund der Rhône also, einmündet in eine bessere Welt, die sich vor Afrika ausbreitet oder vielleicht sogar dort anlandet. Aber ebenso ließe sich vermuten, der andere Kontinent habe sich in mir breitgemacht. Keine kritischen Entwürfe mehr, sondern nur noch davon erzählen, daß es auch anders geht: Mikrokosmen miteinander verbinden, alles miteinander vereinen.

Zur Hälfte bereits gesetzt, kam das Aus für die kleine, finanziell ohnehin asthmatische Société d'édition. Sie wurde geschluckt von einem größeren Verlag, der neuen Geschäftsführung mißfiel mein Geschwurbel pseudo-philosophique. Ich wurde mit ein paar Francs abgefunden. Danach wollte ich nicht mehr. Ich habe zudem mittlerweile alles in meinem von jedweder beruflichen Hektik befreiten und deshalb stillen Kopf, wie die vielen Bilder im Süden, wo ich bewußt nicht (mehr) photographiere, da die übermäßigen Buntheiten einem nur die Phantasie verflachen oder gar plattmachen. Etwa so:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati eben.

Das war alles auch ganz gut so, denn kurz nach dieser Enttäuschung kam der neue Roman von Martin Suter heraus, der sich mit der Thematik beschäftigt, offenbar nicht nur mit der der Amnesie, sondern auch mit Leid, Liebe, Hoffnung, Freundschaft, Glück et cetera. Da hätte es mit Sicherheit geheißen: Hier hat einer ein Thema geklaut. Ich habe es vorsichtshalber auch nicht gelesen. Da habe ich dann doch jenen Tucholsky zu sehr gefürchtet, dessen Kaspar Hauser behauptet hat, es gebe keinen Neuschnee:
«In Polen lebte einmal ein armer Jude, der hatte kein Geld, zu studieren, aber die Mathematik brannte ihm im Gehirn. Er las, was er bekommen konnte, die paar spärlichen Bücher, und er studierte und dachte, dachte für sich weiter. Und erfand eines Tages etwas, er entdeckte es, ein ganz neues System, und er fühlte: ich habe etwas gefunden. Und als er seine kleine Stadt verließ und in die Welt hinauskam, da sah er neue Bücher, und das, was er für sich entdeckt hatte, das gab es bereits: es war die Differentialrechnung. Und da starb er. Die Leute sagen: an der Schwindsucht. Aber er ist nicht an der Schwindsucht gestorben.»
Auch würde ich das heute so nicht mehr veröffentlicht sehen wollen, jedenfalls nicht das ganze dicke fette Buch. Zumal es überholt ist, jedenfalls dort, wo es sich auf aktuelle politische und kulturelle Ereignisse bezieht. So nehme ich mir hier und da das eine oder andere Stückchen ohne aktuellen Zeitbezug heraus. Das Angenehme und bisweilen auch Überraschende daran: Es hat Bestand. Jedenfalls vor mir. Und manchmal auch vor anderen. Womit wir manchmal schon zu zweit wären (ohne ich und ich). Das reicht mir.

Es geht, werter Herr über Mumien, Analphabeten und Diebe, erst heute los. Die Dame, die mich zum Abheben bringen soll und die sich schon gerne mal überhebt, hat sich diesmal übergeben (nein, nicht so wie bei den vielen fruchtbaren Frauen hier, einfach irgendwas Überdrüssiges in Magen und Darm). So hat die Übergabe meiner eben später stattzufinden. Ich hoffe es klappt. Sonst muß ich doch mit dem Auto los, was mir aus Witterungsgründen nicht eben angenehm wäre. Bahn kann man zur Zeit ja vergessen, oder so: das tue ich mir nicht an.
 
Sa, 08.11.2008 |  link | (3429) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres


loreley   (08.11.08, 10:02)   (link)  
Heisst es bei Rimbaud nicht: Ich IST ein anderer? "Je est un autre."


jean stubenzweig   (08.11.08, 10:43)   (link)  
Ja doch!
Selbstverständlich. Wieder mal schludrig gewesen. Ich danke für den Hinweis.


hap   (08.11.08, 10:57)   (link)  
Wenn ich nur wüsste
wer ich bin. Rimbaud wusste wenigstens, dass er nicht ich ist, und Stubenzweig hatte - auf sich bezogen - auch recht, wenn er sagt: "Ich bin ein anderer." Und weil das mit dem Ich eh zu nichts führt, arbeiten ernsthafte Buddhisten ein Leben lang an der Überwindung desselben. Und viele Leute wie Woody Allen, Truman Capote, Joseph Conrad und Loreley sind gar nicht die, zu denen sie sich gemacht haben.
Wenn ich nur wüsste, wer hinter meinem Pseudonym steckt.


jean stubenzweig   (08.11.08, 11:49)   (link)  
Wir sind doch
(fast) alle irgendwie viele. Wie heißt noch mal dieses Gesundheitsbild? Multiple Persönlichkeit? Im Krankenblatt steht Dissoziative Identitätsstörung. Aber da steckt doch sicher wieder die Ärztekammer dahinter in der Hoffnung auf ein bißchen mehrwerte Dienstleistung.

Bei Dir allerdings, lieber Hans, war ich mir nie so sicher, wer alles in Dir steckt. Revolutionär oder Rockpoet. Oder ist die dasselbe? Und vermutlich noch ein paar andere. Aber auf keinen Fall nicht: Barackenschreiber.

Übrigens: Dank für Deine Elektropost. Aber Jetzt bin ich und ich dann aber wirklich erstmal weg. Die Sonne scheint. Klar, Multiple Engel reisen.


hanno erdwein   (08.11.08, 12:47)   (link)  
Mediterran
leben zu dürfen, sich der Sonne, der Wärme innen und außen hingeben, sich den Wurzeln der europäischen Kultur nahe zu wissen, ist die Sehnsucht vieler, welche den naßkalten Norden nicht fliehen können - aus welchem Grund auch immer. Wie schrieb Ingeborg Bachmann so treffend über Italien: Mein erstgeborenes Land. Und noch stärker kommt das Empfinden in ihrem herrlichen Epos "An die Sonne" zum Ausdruck.
In diesen Blog eintauchen zu können, ist, als bade man in durchwärmender mediterraner Literatur. Verweile hier gern und freu mich an allem. (Hanno Erdwein)


sabinef.   (11.11.08, 03:13)   (link)  
Lange nichts
gelesen! Mir fehlen ein bißchen meine eigentlich ja täglichen Ausflüge mit der Sänfte entlang der Erzählflüßchen. Ich hoffe alle wohlauf. Sie und die Sänfte.


hap   (11.11.08, 21:56)   (link)  
Recht so
Der Stubenzweig-Fan braucht seine Dosis, und wenn der Stubenzweig verhindert ist, alte oder neue Überlegungen und "Erzählflüßchen" in die angeklickte Welt zu setzen, macht man sich erst mal Sorgen um ihn, und dann um sich. Wie könnte "es" weitergehen, ohne die alten Gewohnheit, erst mal morgens zu gucken, was bei Stubenzweig steht?
Also, bitte: Bei längeren Unterbrechungen das "Vorübergehend geschlossen" Schild ins Fenster hängen, oder das wunderbar unsinnige "Bin in zwei Stunden wieder da."
Stubenzweig, bitte melden!















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