Den Zahn ziehen ...

Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Allzu gerne wird von der jüdischen, der israelischen Rachementalität geredet. Man schiebt der jüdischen Religion dieses Gebot als Formel dafür unter. Aber vermutlich glauben es viele Israelis, viele Juden selber, daß es so ist, so sein muß. Vor allem hat es wohl den Arabern gegenüber Gültigkeit. Und die Araber meinen dann, sie würden nach jüdischen Gesetzen handeln. Es ist abstrus.

Auge um Auge ... Es geht um Rache. Falsch. Um Selbstjustiz. Oder Vergeltung. Oder auch — beides. Im Alten Testament steht von Rache nirgendwo was. Ich vermute ja auch, daß es sich dabei um einen Übersetzungsfehler handelt. Bewußt oder unbewußt. Das mag dahingestellt sein. Oder es verhält sich wie mit dem Koran, in dem ebenfalls (nach Gusto) ausgelegt wird. Vermutlich ist es so. Die Problematik ist allerdings auch über Jahrhunderte hin von den Gelehrten diskutiert worden. Doch die neuere theologische Forschung besagt, daß es sich in der korrekten Bedeutung um eine schlichte gerichtliche Anweisung zum Ausgleich von Schadenersatz handelt. Es geht dabei um das Zivilrecht, wörtlich Geldurteile, also um Rechtsstreitigkeiten, die mit Geldwert ausgeglichen werden. Einer, der geschädigt hat, soll geben. Im Original steht gib und nirgendwo nimm. Im höchsten Fall heißt es, einer, der geschädigt habe, soll. Der Judaist Reinhold Mayer verweist in seinem Talmud-Kommentar auf die ius talionis, auf diese uralte nomadischen Rechtssprechung, die ursprünglich die Angemessenheit einer Bestrafung forderte. Er schließt eindeutig, daß in der Rechtsprechung der talmudischen Zeit nur Schadenersatz infrage kam.[1] Also — nichts: mir den Schädel einschlagen, weil mein Cousin deinem das Haus in die Luft gejagt hat. So einfach ist das. Und hat dennoch solche Folgen.

Zudem ist das ja ohnehin so eine Sache mit der Bibel. Die gibt es ja als solche gar nicht. Zum einen erkennt der Mensch mosaischen Glaubens nur den ersten Teil des Buches, der von den Christen Altes Testament genannt wird, als Heilige Schrift an und spricht vom «Gesetz und den Propheten». Zum anderen besteht die Bibel als Ganzheit ja geradezu aus einer Bibliothek von Büchern, die durch die Jahrhunderte hindurch entstanden sind. Das gilt für das ganze «Buch der Bücher», also für das Alte wie für das Neue Testament.[2] Das ist das eine. Das andere ist: Die Geschichte der Israeliten ist ausschließlich aus dem Alten Testament übernommen worden. Kein außerbiblischer literarischer Beleg beziehungsweise archäologisches Zeugnis ist mit den Berichten des Alten Testaments eindeutig in Verbindung zu stellen. Dennoch gelten heute David und Salomon als historische Persönlichkeiten. Selbst ihre Herrscherzeiten, etwa um 1000 vor unserer Zeitrechung vor Christus — nach dessen Himmelfahrtskommando wir also auch noch unsere alltägliche Zeit berechnen — stehen fest.

So weit, so gut. Doch es gibt ja, wie das bei Mayer angedeutet ist, sehr viel ältere Kulturen als diejenigen, auf die im Alten Testament verwiesen wird. Gilgamesh beispielsweise zählt nicht mehr bloß zu den sumerischen Legenden, sondern es wird ihm eine historische Bedeutung zugerechnet, wobei auch seine Herrschaftszeit — 2700 vor unserer Zeitrechnung! — feststeht. Während also das Alte Testament und die mesopotamischen Legenden als Wegweiser der Altertumskunde gelten, ist den iranischen Überlieferungen, dem Avesta und der traditionellen Geschichte Persiens, der gebührende Wert bisher verweigert worden. Somit sind aus der Sicht der westlichen Forschung die frühesten Phasen der iranischen Geschichte in den Berichten Herodots gesammelt. Aber selbst dessen Berichte über die älteren Perioden der Iranier werden grundsätzlich übersehen. Das ist ja überhaupt ein Problem: Die Geschichtsschreibung besteht aus lauter Aussagen über Ereignisse, die durchweg weit in der Vergangenheit stattgefunden haben. Diese Ereignisse sind im allgemeinen einmalig und nicht nach Belieben reproduzierbar. Hier liegt der Unterschied zu den Naturwissenschaften. Während in den Naturwissenschaften versucht wird, Theorien zu konstruieren, die dann eine immer umfangreichere Gesamtheit von reproduzierbaren Erscheinungen erfassen, werden in der Geschichtswissenschaft aus den gegebenen Spuren und Dokumenten die einmaligen Ereignisse gedeutet. Dieser Vorgang ergibt hier, wie auch in der Kriminalistik, oft kein eindeutiges Bild. Daher spiegelt die Geschichte nicht die Wahrheit über die älteren Perioden, sondern stellt eine Kette von Hypothesen dar — siehe Kunstgeschichte! —, über die sich eine Gruppe der Forscher einig ist. Das ist die übliche Auffassung von der Geschichtstheorie. Der Autor des Beitrages, aus dem ich diese Erkenntnisse habe, meint, daß diese Art Beurteilung irreführend und oft irrelevant sein kann; sie kann oft von persönlicher oder gar politischer Motivation beeinflußt sein. Aber auch sonst steht heute die Geschichtsschreibung unter starkem Einfluß der Ideologie, Politik beziehungsweise des politischen Klimas.[3] Siehe die katholische Kirchengeschichte. Das ist zwar insgesamt eine Binsenweisheit, über die der einigermaßen Aufgeklärte also bereits verfügt, aber es sind hier ja lediglich erklärende, einleitende Worte zur Problematik.

Nur zu gerne wird das Alte Testament, die Bibel herangezogen, und alles andere fällt durch diese Raster. Oder der Koran. Manch ein kritischer Geist äußert auch schonmal: Was wollt ihr? Dieser Koran riecht noch nach Druckerei, noch nach frischer Farbe. Es ist ein Witz, was ihr erzählt. Und er ist teilweise abgeschrieben, quasi übersetzt aus den Bildern der Armenbibel, der biblia pauperum. Es ist wie mit dieser Geschichte vom Heiligen Gral — die Nähe zum Groschenroman ist fatal. Sie nennen es Romantik — La vie est un roman. Wie das Leben von Allah und Jesus und König Arthur und dessen Rundem Tisch, an den vor allem deutsche Politiker sich so gerne gesetzt (und von denen die aktuell regierenden bis auf eine allesamt ihren Eid auf den lieben Gott geleistet) haben.

Es hat ja alles angefangen unten im Süden. Da hat einer einen Kelch geklaut und ihn nach Frankreich gebracht. Und wieder andere haben ihn dann von anderen geklaut und nach England gebracht. Bis er in den Pyräneen eingegraben wurde. Ob darin wirklich das Blut von Jesus Christus war, steht in keinem von diesen Büchern, in keiner dieser Reisebeschreibungen mit viel Phantasie für Menschen, denen es daran mangelt.

Nichts als Spekulation
Im achtzehnten Jahrhundert ging man davon aus, daß Buddha ein aus Afrika nach Indien eingewanderter, bei den alten Ägyptern ausgebildeter Weiser gewesen sei: «qu'il se donna pour un autre Hermès, pour un nouveau législateur, et qu'il enseigna à ces peuples non seulement la doctrine hiéroglyphique des Egyptiens, mais encore leur doctrine mystérieuse.»[4] Es gibt einen Hinweis darauf, die Bilder von Buddha seien wie «un visage éthiopien et les cheveux crépus». Dann sind wir mit einem mal beinahe wieder in der Geographie der schönen Jeminitinnen. Auch wird die Buddha-Lehre mit der jüdischen Kabbala und der En-Soph-Lehre verglichen, diese Lehre vom Infiniten, vom Unendlichen. Und diese Diskussion über den ägyptischen oder indischen Ursprung der Philosophie zieht sich hinein bis weit in das 19. Jahrhundert.[5] Die ganze Industrie der Esoterik, im Ursprung mal geheimes Wissen, schürt dieses Feuer des Glaubens, um daran Geld zu verdienen. Fakten interessieren nicht. Der Wissenschaftstheoretiker Lutz Geldsetzer schreibt:

«Die spürbare Verunsicherung in den eigenen abendländischen Traditionen stimuliert ein weites populäres Interesse an allem Fremd- und Andersartigen. Dem weltüberspannenden Tourismus entspricht ein geistiger und stimmungsmäßiger Tourismus mit Neugier und viel gutem Willen zur Kenntnisnahme und zum Einleben in exotische Verhältnisse. Ersichtlich kommt dem in Indien und bei seinen geistigen Repräsentanten eine recht missionarische Kulturpropaganda entgegen, die mit modernen Werbetechniken einstige und auch noch andauernde christliche Missionstätigkeit in umgekehrter Richtung beantwortet.
Die Unzufriedenheit mit dem herrschenden realistischen Weltbild, der Verwissenschaftlichung aller Lebensverhältnisse und der Technisierung der Welt im Westen insgesamt motiviert zur Suche nach der Alternative zu alledem. Diese Alternative wird ersichtlich weniger in den eigenen in den Hintergrund gedrängten Traditionen des Idealismus, des ‹einfachen Lebens› und der ‹Nachfolge Christi› oder eines Franz von Assisi, und des handwerklichen und künstlerischen Umgangs mit den Dingen und der Natur gesucht, als vielmehr in meditativer Versenkung in höhere Regionen oder tiefere Schichten des Bewußtseins, in der Verweigerung gegenüber den Ansprüchen des Herkömmlichen oder in der schieren Untätigkeit, wozu indische Philosophie und brahmanische Weisheit frustrierte Abendländer einzuladen scheint.»[6]

Gerade das Indisch-Eingefärbte hatte während meiner studentischen Sturm- und Drangzeit ja Hochkonjunktur. Ich hab immer noch den Gestank der Räucherstäbchen in der Nase. Jede Jungfrau oder eine, die's nicht mehr sein wollte, hatte davon mindestens einen Karton in ihrer Kreuzberger oder Tempelhofer Bude gelagert. Daran waren Schopenhauer und, vor allem, Hermann Hesse nicht ganz unschuldig; wenn man den beiden auch zugute halten muß, als Rosinenkuchen mißbraucht worden zu sein. Über Nietzsche zu sprechen war ja strengstens untersagt, also las ihn auch brav keiner (oder heimlich). Ständig klimperte Hesses Glasperlenspiel oder sein Siddhartha irgendwo. Schwerst nervig. Mich hat das Zeugs eher in die Impotenz getrieben. Ich habe lieber bis morgens um sechs direkt neben Otto Schilys Kanzlei auf Beethovens Neunte Rock'n'Roll getanzt, bis die Freudenfunken der irdischen Götter auf der metallenen Tanzfläche stoben.

Und heute? Es ist dieselbe Merde, es hat sich nichts geändert. Versatzstücke, Rosinen herauspicken und daraus eine große, nicht nur Medienindustrie bauen. Und diese intellektuell Minderbemittelten saugen diesen Geistersatz begierig auf. Wie unsere Euro-Pampe. Und bloß nicht in die Tiefe der Ur-Küche greifen. Es könnte ja sein, daß was anderes dabei herauskommt als das, was in diesen Rezeptbüchern steht. Wahrscheinlich schmeckt das Original überhaupt nicht. Wie die Lieblingsitaliener der Deutschen, die ans Deutsche angepaßt kochen, die Deutschen aber glauben, es sei italienisch. Es ist eben so eine Sache mit dem Glauben. Es gibt ja auch genügend sogenannte Restaurants, bei denen es transparentgroß angeschrieben steht: Asiatische Küche — vietnamesisch, thailändisch, chinesisch. Manchmal steht dann noch darunter: Wiener Schnitzel. Und das klopfen sie dann aus dem Schwein heraus. Dabei gibt's schon in China hunderte unterschiedliche Küchen. Oder in Indien. Um näher am Thema zu bleiben. Ich hab mal während meiner Berliner Studienzeit bei einem Inder — ich bin ja auch schon infiltriert: als ob's eine einzige indische Küche gäbe! —, also, bei einem Inder, von dem ich nicht mehr weiß, wo er herkam, eine Zeitlang essen dürfen. Nach etwa zwei Wochen hab' ich so langsam was rausgeschmeckt. Weil das so scharf war, daß mir anfänglich die Flammen aus den Ohren geschlagen sind. Und nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, es also richtig gut wurde, ist er umgezogen. In die DDR. Wahrscheinlich hat er jetzt 'ne Softwarefirma in Bitterfeld. Oder in Goa. Und stellt Weichware für übriggebliebene Hippies her. Oder Yuppies. Europa- ach was, globalweit.

Küche oder Philosophie? Küchenphilosophie.
«Brucker — er ist der eigentliche Begründer der deutschen Philosophiegeschichte und hat sich 1742 dieser gewidmet —», so Geldsetzer, «Brucker kennt die genannten Quellen aus der Antike und meint, die besten Köpfe Griechenlands hätten es für notwendig gehalten, bei den Indern Weisheit und Tugend zu lernen — was in der antiken Literatur ja auch bezüglich der griechischen Vorliebe für die ägyptische Weisheit behauptet worden war.»[7] Jetzt ist es erwiesen, daß es keine Parallelen gibt zwischen einer Philosophie des Abendlandes und der indischen. Auch wenn man sich immer wieder darum bemüht. Doch die klassische indische Philosophie — die vedische Periode beginnt 2000 vor unserer Zeitrechnung mit dem Herrn! — ist nicht aus unserer Perspektive zu beleuchten. Das ist es, was immer wieder falsch gemacht wurde. Es entstand im Abendland kein vergleichbares Bewußtsein von einer Verantwortlichkeit oder Zuschreibung auch fernerliegender und späterer Verhältnisse. Und wo es geschah, etwa die Seelenwanderung oder bei Platon, dann geschah es erwiesenermaßen unter indischem Einfluß![8]

Im jüdischen Neuplatonismus findet die Seelenwanderung allenfalls in der Lehre vom Adam-Kadmon, dem Urmenschen, eine gewisse Entsprechung, der alle folgenden Geschlechter in sich vereinigt. In der christlichen Version in der Erbsündenlehre, nach der jeder Mensch in sich «den alten Adam» als Tatfolgenhypothek des ersten Sündenfalls wiederfindet. Das spätere Christentum aber hat sich schnell dabei beruhigt, daß Gott die Sünden der Väter nur bis ins dritte und vierte Glied bestrafen, Wohlverhalten aber in tausend Generationen belohnen wolle. So hat es zwar die schönen oder schlechten Umstände der Existenz des Einzelnen erklärt, aber die Verantwortung dafür Gott zugeschrieben. Die säkuläre Gesellschaft der Moderne aber hat auch den verantwortlichen Gott noch abgeschafft und zuletzt die Grundlosigkeit und pure Faktizität der menschlichen Existenz entdeckt. Sie feiert Freiheit und Spontanität und versteht sie als grund- und ursachenlosen Anfang. Und damit ist sie sehr weit davon entfernt, einen Gedanken wie den vom Karman nachvollziehen zu können.[9] Und deshalb wird das nix mit Siddhartha und seinen Nachfolgern auf Tele Dingsbums, dem Sender mit der Philosophie der nächtlichen bäuerlichen Nackheit, oder mit der Astrologieberatung im WDR oder so.

Gleichwohl sie stattfindet, die Karten- und/oder Kaffeesatzlesung, quasi im Öffentlich-Rechtlichen deutschen Fernsehen — direkt nach dem abendlichen Abschalten des Kinderkanals um einundzwanzig Uhr. Da mittlerweile auch deutsche Kinder kaum mehr früher ins Bett gesteckt werden, verinnerlichen sie nahtlos den Übergang vom Kult-Brot zum Kanal medial. Da ständig irgendeiner seine Schäfchen in die Unwirklichkeit plappert, besser: sie ins Trockene bringt und der letzte Kokolores-Betreiber dem nächsten die Türklinke in die Hand gibt, könnte man diesen Sendeplatz doch gleich den Kreationisten geben. Eine ehemalige Bildungsministerin (siehe den Kommentar von vert) hatte sogar gefordert, deren Lehre auch an deutschen Schulen einzuführen. Im Bayerischen Fernsehen heißt der Schwachsinn wenigstens noch Kanal fatal. Nur wird der glücklicherweise nicht ernstgenommen.

Es ist schon erstaunlich, daß die christlichen oder anderen in Deutschland ansässigen regierenden Kirchen dagegen noch nicht Sturm gelaufen sind. Aber wahrscheinlich fehlt ihnen das Protestpersonal. Oder sie sind sich darüber im klaren, daß sie es selbst sind, die Volksverdummung betreiben, und schweigen lieber, um nicht ausgelacht zu werden. Obwohl: Die richtig Armen im Geiste haben ja keine Angst vor Häme.

Und Nihilisten im klassischen Sinne dürfte es ohnehin keine mehr geben. Und bei diesem Begriff fällt man immer wieder gleich über diejenigen, die Nietzsche nur vom Klappentext oder von Büchlein wie Nietzsche zum Einschlafen her kennen. Und dann an Pissoirwände oder in ihre Internetpoesiealben schreiben: laut ihm sei Gott tot. Weil sie nicht gelesen haben, nicht haben lesen können, was er davor und danach geschrieben hat. Oder nachplappern, er sei ein Wegbereiter des Antisemitismus oder gar der Nazi-Ideologie gewesen. Jener Nietzsche, der erwiesene Pazifist und Atheist, Atheist aus Instinkt oder, wie Rüdiger Safranski ihn so treffend bezeichnet hat: Anti-Antisemit[10], weil er diese Kleingeister haßte, die sich mit ihren Balkongeranien ihren sehr eigenen Horizont schaffen, die nichts, aber auch gar nichts verstanden hatten und wahrscheinlich auch nichts verstehen wollten, denen ein knapper Satz als Konstruktion fürs Weltgebäude ausreicht. Ein Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gedacht war, quasi eher für den Tiefbau. Und — er sollte ja nach Mamas Willen protestantischer Pastor werden — vor allem Freigeist war. Freigeist! Frei von allen Ismen und Ideologien.

Der Wille zur Macht! Obwohl das nachgelassene Hauptwerk sich längst als Fälschung erwiesen hat, also wider besseres Wissen, murmeln genügend – heimlich — national gesinnte Geistheiler diese magische Formel auch heute noch dem ungesunden Volkskörper ins Herz, die den Dauerwahlkämpfern Hitlers so recht kam wie ihrem teppichbeißenden Führer — wenn der überhaupt mehr gelesen hat als diesen halben Satz, der da komplett lautet: «Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht.»[11] Ja ja. Sprache. Nietzsche meinte dazu, ganz nebenbei: «Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich ...»[11] Ein paar Ver(w)irrte haben sich das vermeintliche Filetstück einfach herausgeschnitten und es als Faschiert's in die Volksküche gegeben. Und das passende Signet auf der Verpackung haben sie auch goutiert.

Faschiert's — Fasch ... fascis? fascisme?
Ja. Fascis, das Rutenbündel der altrömischen Liktoren, das zum Symbol der italienischen Arbeiterbewegung wurde, das sich zum Faschismus wandelte, der heute ständig falsch angewandte Begriff. Heute nennen sie jeden dahergelaufenen Arbeitsplatzvernichter Faschist. Also, Faschiertes. Das ist österreichisch. Paßt ebenfalls zur Geographie des Schreckens. Ich kann den etymologischen Zusammenhang leider nicht erklären. Ich vermute jedoch, daß es damit zusammenhängt. Es meint Hackfleisch. Haché. Also volksmundgerecht hachierter Wille zur Macht. Nochmal, da wir ja beim Thema sind, Nietzsche, quasi assoziativ: Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen — an sich. Nur durch Assoziation, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanismus eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde, zum Beispiel dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (zum Beispiel beim Kommandowort) eine Handlung hervorbringen. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre![13]

Und damit ziele ich auch auf diesen Glucksmann, der in seinen Meisterdenkern geschrieben hat, «in makabrer Modernität sei Deutschland, kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt» und verbreitet wurden. Die «Einigung durch Texte» sei einhergegangen mit der «Auflösung des Territoriums».[14] Und wie wir, damals, später, heute — unter anderem und bei aller Kontroversität oder vielleicht gerade deshalb — den deutsch-österreichischen Oberwahnsinnigen damit überhaupt erst verstanden haben — in meinem Fall: begonnen haben zu verstehen. Es mußte also ein Franzose kommen. Ein jüdischer noch dazu. Der mein in das vom deutschen Kulturgut verdicktes französisch-russisches, vielleicht ja sogar, auf der Wahrheit ruht in Ewigkeit Maman, noch ein bißchen verhugenottisiertes Judenblut therapiert hat, um's wieder fließen zu lassen. Sozusagen kurz vor der Thrombose.


Anmerkungen (Literaturnachweise)
1 Der Talmud, ausgew., übersetzt und erklärt v. Reinhold Mayer, München 5. Aufl. 1980, Über Fahrlässigkeit, p 342ff.; siehe auch: Ruth Lapide: Die Lust an der Thora. Erfahrungen im Umgang mit dem Alten Testament. Eine jüdische Beziehung zum Alten Testament, Sendemanuskript, Sendung des Bayerischen Rundfunks, Abteilung Kirche, Sonntag, 29. Oktober 2000, 9.00 – 9.30 Uhr, Bayern 2 Radio.
2 Hans Friedrich Müller: Berge der Bibel; Seite leider nicht mehr erreichbar
3 Iran Ancient History, Die Arier in den nahöstlichen Quellen des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr.; Seite leider nicht mehr erreichbar
4 Engelbert Kämpfer, Geschichte und Beschreibung von Japan, hrsg. v. Chr. W. Dohm, Lemgo 1777-1779, zuerst London 1727, französisch La Haye 1729, p 130; Lutz Geldsetzer: Die klassische indische Philosophie (1999)
5 Lutz Geldsetzer, ibd.
6 Lutz Geldsetzer, ibd.
7 «De cuius — scl. Indiae — Philosophis magna apud veteres fama atque existimatio fuit, adeo, ut qui sapientiae, virtutis cultura et iustam indolem perductae, praecepta inter Graecos discendi cupidi erant, necessarium sibi ducerent, ad Indos excurrere, et sapientiam gentis tanto studio excultum atque custoditam discere; id quod magnos inter Graecos philosophos, Pythagoram, Democritum, Anaxarchum, Pyrrhonem, Apollonium fecisse, et ipsum Alexandrum M. India nuncupata non neglexisse, relationes varias feruntur», Geldsetzer, ibd.
8 Lutz Geldsetzer, ibd.
9 Lutz Geldsetzer, ibd.
10 Rüdiger Safranski, in: Allzu menschlich: Friedrich Nietzsche. Eine philosophische Reise. Dokumentation, in: Arte-Themenabend, 2. Mai 2002, 22.05 Uhr
11 Ausführliches dazu in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München, Berlin/New York 1980, vol. 14, p 7-17
12 Nietzsche: Sämtliche Werke, Fragmente, vol. 9, p 191
13 Nietzsche: Sämtliche Werke, Fragmente, vol. 9, p 289
14 zitiert nach: Willi Jasper, Der dämonische Held. Der ‹Faust› und die Deutschen — eine verhängnisvolle Affäre, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 5. Februar 1999 Nr. 6/1999

Siehe auch: André Glucksmann: Die Cartesianische Revolution. Von der Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie; aus dem Französischen übersetzt von Helmut Kohlenberger, Reinbek 1989, p 72f.; Original: Descartes c'est la France, Paris 1987

 
Fr, 28.11.2008 |  link | (4352) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches


hanno erdwein   (28.11.08, 09:00)   (link)  
Ein wahrlich weiter bogen ...
... den Stubenzweig hier spannt. Fast schon die gesamte Geistesgeschichte vom gilgamesch über Auge um auge bis hin zu den hautnahen Philosophen. Whow, das nenne ich mentale Purzelbäume. So mögen wir ihn, so lesen wir ihn immer wieder gern! Weiter so! (Hanno)


loreley   (28.11.08, 11:29)   (link)  
Welche Texte meinte Glucksmann?


jean stubenzweig   (28.11.08, 13:40)   (link)  
Die Frage
nach «welchen Texten» verstehe ich gerade nicht so recht.

In Les maîtres penseurs beschäftigt er sich den deutschen (Meister-)Denkern, denen er vorwirft, durch Romantisierung dem totalitären Staat in die Steigbügel geholfen zu haben: Marx, Hegel, Fichte, Nietzsche. Vor allem seine Kritik an Marx, am Pariser Mai '68, also an den Achtundsechzigern verursachte Mitte der Siebziger ein gewaltigen Wirbel.

Beim anderen Buch sagt der Untertitel ja bereits eine Menge: Von der Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie.


loreley   (28.11.08, 15:03)   (link)  
Und damit ziele ich auch auf diesen Glucksmann, der in seinen Meisterdenkern geschrieben hat, «in makabrer Modernität sei Deutschland, kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt» und verbreitet wurden.

Mich hat interessiert welche. Selbst Hölderlin wird das teilweise vorgehalten. MRR meinte mal, dass er ihn deswegen auch nicht so mag, weil man das in ihn hineininterpretieren kann.

Die Franzosen und das meine ich nicht negativ, kommen mir ernst und vernünftig vor. La raison. Da hat er wieder recht, der Glucksmann, den ich übrigens sehr mag. Sie aber, glaube ich, nicht so oder nicht mehr.


hap   (28.11.08, 22:49)   (link)  
Was für ein Mist:
"«in makabrer Modernität sei Deutschland, kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt» und verbreitet wurden."
Uuuuuäääähhhh. Kann mir jemand sagen, was das heißen soll? Und was so ein irrealer Unfug mit mir zu tun hat, Ende November 2008?
Und dann kommt auch noch die geschätzte Loreley vorbei und überlässt ihr Denken Herrn Rrranicki: "MRR meinte mal, dass er ihn deswegen auch nicht so mag, weil man das in ihn hineininterpretieren kann." Was für ein Schmarren - Hölderlin nicht zu mögen weil es Leute gibt, die ihn anders verstehen! Es gibt keinen Text, kein Bild, keine Theorie, die eindeutig für alle und jeden dasselbe bedeuten, es sei denn, man hängt totalitären Ideen an und will - offen oder hinterhältig - Denken verordnen.
Marcel Reich-Ranicki geht mir schon seit dem Tag gewaltig auf den Wecker, als ich auf dem "Spiegel"-Titel sein Foto sah, wo er das Buch von Günter Grass zerrissen hat. Ich bin kein Fan von Grass, literarisch hat er mich (ich ihn) mit "Der Butt" verlassen, politisch mit "Ich rat euch Es-Pe-De zu wählen." Aber MRR, wie sie ihn nennen, gehört mit zu den übelsten Figuren im Literaturbetrieb - eitel bis zum Anschlag, bösartig, wenn es seinen Zwecken dient, und auf seine alten Tage mit völliger Ahnungslosigkeit bestraft. Es ist ein Jammer, dass es noch Leute gibt, die den Mann ernst nehmen.
Und was Glucksmann betrifft: Hinter diesem Zitat steht - nichts. Nada. Nothing. Rien. Jeder aufrichtig arbeitende BMW-Mechaniker im Stehausschank Freitagabend in Milbertshofen weiß mehr von der Welt als Herr Glucksmann. Er tut mir leid.


jean stubenzweig   (29.11.08, 02:54)   (link)  
La raison
ist etwas, was ich an Glucksmann durchaus geschätzt habe, aber eben in seinen früheren Büchern, mit denen ich, das lasse ich ja auch anklingen, einiges aus einer anderen Vernunftperspektive sehen durfte. Aber ich habe mit der Cartisianischen Revolution aufgehört, ihm die frühere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Seine danach folgenden Äußerungen kommen mir häufig verworren vor. Da habe ich mich das eine oder andere Mal sogar geärgert. Vor allem deshalb, da er häufig zu einer Mythisierung, bis hin zur Schwafelhaftigkeit neigt, die er zu früheren Zeiten so rigide abgelehnt hat, passagenweise geradezu déraisonnable. Und obendrein, gegenüber seinem jüngeren Werk, den Humor drangegeben hat. Das Wort vom schlechten Altern fällt mir bei ihm häufig ein. Nun gut, es ist ein anderes Altern. Aber unter Vernunft mag ich das nicht mehr buchen. Ihm ist der Aufklärungsgedanke aus dem Ruder gelaufen. Manch einer seiner Kollegen von den Nouvelle Philosophe ist da (selbst-)kritischer geworden, hat sich nicht dieser Altersstarrheit hingegeben.

Bei Novalis gibt es eine herausragende Vernunft, die den Romantikern ja gerne (und fälschlicherweise) abgesprochen wird, die sich jedoch lediglich anders ausdrückt als in mechanischem Denken. In seinem scharfsinnigen System der sehnenden Hoffungslosigkeit verwies er darauf, daß es noch andere Lebensmöglichkeiten gibt, als sich einfach den vorhandenen zu unterwerfen, einfach mitzuschwimmen im Dagegensein. Novalis ist nicht geflüchtet, er hat lediglich Sehnsuchtsorte bestimmt. Die gibt es nämlich auch, und das ist alles andere als unvernünftig.

Und Reich-Ranicki, um das mit aufzugreifen, der hatte mir immer zuviel Schaum vorm Mund. Häufig hat er die ihm ungerechtfertigterweise zugestandene Macht genutzt und Urteile gefällt, bestätigt von einer hinterhertrottenden Medienhammelherde, die durch und durch unbedacht waren; es ließe sich auch sagen: halb- oder gar nur viertelgelesen (So einen Scheißdreck lese ich nicht – oder so ähnlich). Er hat häufig genug Autoren nicht kritisiert, sondern vernichtet – «qua Amtes». Während er gerne Autorinnen in seinen ganz persönlichen Himmel hinaufgelobt hat, die eigentlich nie über den Tellerrand der unteren Mittelmäßigkeit hinausgeschaut haben. Die eigene hat er ja in letzter Zeit ausreichend oder auch definitiv unter Beweis gestellt. Und, da schließe ich mich Hans Pfitzinger an: Einen Autor abzulehnen, weil der anders denkt oder er ihn einfach nicht verstanden hat oder verstehen wollte, das schrammt schon arg hin an ideologische oder auch totalitäre Verbortheit.

Wie bei Glucksmann, der vor ihm lebenden Philosophen zumindest ansatzweise unterstellt, den Nährboden für die Allmachtsphantasien eines ganz bestimmten Österreichers und dessen Vasallen bereitet zu haben. Und keinen Jota davon abrücken mag. Das Glück der sich im Alter einstellenden Liebe zur Weisheit ist nicht jedem gegeben.


hap   (29.11.08, 11:01)   (link)  
Altersweise Besonnenheit
strahlt das aus, was du da von dir gibst, lieber St. Jean, etwas, das mir anscheinend völlig abgeht. Ich bin eher mit lebenslanger Pubertät geschlagen, inklusive neue Pickel auf der Stirn.
Danke für deine Erinnerung an Novalis - "System der sehnenden Hoffnungslosigkeit", das ist schön gesagt. Und damit hast du mich angeregt, die "Novalis Dichtungen" aus dem Regal zu holen und in den Tagesrucksack zu packen, eine Ausgabe der rororo-Klassiker von 1970, kleingedruckt, 250 vergilbte Seiten mit dem unverwechselbaren Geruch nach altem Taschenbuch, viel mit Bleistift unterstrichen, weiter hinten, im "Heinrich von Ofterdingen" sogar Anmerkungen des Studenten mit Kugelschreiber!
"Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner." (Monolog, 1798)
Schöne Tage, frohes Schaffen!


loreley   (29.11.08, 12:21)   (link)  
Wie man mich immer missverstehen kann! Da bin ich wohl auch selbst schuld, weil ich MRRs Ansicht über Hölderlin unkommentiert habe stehen lassen. Natürlich ist das Unsinn, was er über ihn gesagt hat, das versteht sich von selbst, dachte ich.

Hölderlin kenne ich in- und auswendig. Er gehört zu meinen Lieblingen. Novalis auch.

MRR ist bei mir schon lange unten durch. Allein, wie er sich gegen Frau Löffler verhalten hat, war hässlich. Auf Kritiker gebe ich wenig bis nichts, ich finde meine Bücher ohne sie.


jean stubenzweig   (29.11.08, 14:09)   (link)  
Alles romantisch
Dann ist ja alles klar im Land der Blauen Blume. Es war aber durchaus ein klein wenig mißverständlich.

Kritiker, na ja. Eine leicht fragwürdige Bezeichnung. Aber ein kluger Mensch würde sich selbst ohnehin so nicht nennen. Überdies kommt das meistens von dort, wo man meint, etwas aufwerten zu müssen.

Doch eine intelligente, sach- und fachkundige Analyse kann neue Perspektiven eröffnen. Und Buchbesprechungen können Hinweise geben. Mir ist das durchaus willkommen in diesem Bücherwald, in dem man sich ja auch schon mal verirren kann. Man erkennt ja rasch, ob's für einen taugen könnte. So bin ich in letzter Zeit auf – darunter auch ältere – Bücher gestoßen, die sonst nie von mir gelesen worden wären.


txxx666   (21.12.08, 11:29)   (link)  
Hei, da musste ich jetzt aber doch ein wenig schmunzeln, als mir plötzlich der Name meines alten Profs Lutz Geldsetzer begegnete; er wurde bei uns in der Fachschaft Philo allgemein ein wenig belacht, da er (1.) in jeder, aber auch wirklich jeder seiner Vorlesungen spätestens in der zweiten Stunde daranging, die "Begriffspyramide vom Kopf auf die Füße", also auf die Spitze zu stellen, was so eine Art fixe Idee von ihm zu sein schien; (2.) eines seiner immer wieder vorgebrachten Mantras war, dass es in der abendländischen Philosophie seit den ollen Griechen "nicht Neues" mehr gegeben habe; und (3.) nicht zuletzt wegen seines im Reclam-Verlag erschienen Langgedichts "Die Philosophenwelt in Versen vorgestellt", welches mit den unsterblich beknackten Zeilen begann:
Bekanntlich war´s in Griechenland,
wo man Philosophie erfand;
zumindest die bei uns bekannte,
die führend ward im Abendlande

und wo er es fertigbrachte, sich selber im angehängten Philosophenglossar einen Eintrag zu schreiben, der sogar den von Sokrates (und Platon, Kant, Hegel, Nietzsche usw.) um einige Längen bzw. Zeilen übertraf...
aber natürlich ist der Mann eine Koryphäe, zumal wenn es um chinesische und indische Philosophie geht.


jean stubenzweig   (21.12.08, 14:14)   (link)  
Ein Geistesgeneralist
eben der alten Sorte, der darf sich auch mal verzetteln in seinen vielen Kästen. Er war (und ist) eben nicht Architekt FH, sondern so einer, der spezialisiert ist aufs Nichtspezialisiertsein. Und da die ohnehin am aussterben sind, lassen wir ihn doch einfach leben; wer weiß, wie lange er's noch macht (macht er denn überhaupt noch?).


txxx666   (21.12.08, 18:06)   (link)  
Ach doch, machen tut er´s glaub ich schon noch, wenn sein Wiki-Eintrag aktuell sein sollte; mit 71 Jährchen ist er ja auch noch nicht soo alt, wie man manchmal hätte vermuten können, und ich glaube, so manch wackerer Langzeitstudent legt auch heute noch seine Prüfung bei ihm ab...
Übrigens fiel mir noch ein: der lachenmachende Casus mit der Reclam-Veröffentlichung ist (für Leute mit guten Augen) auch hier nachzulesen.


jean stubenzweig   (22.12.08, 02:31)   (link)  
Herrjeminee!
Nein, ich reime jetzt nicht auf weh. Noch nicht sooo alt? Sag ich's mal so: Auf der Agora hätten sie ihn vermutlich ausgepfiffen für seine Verskunst.

Nachdem ich's mit zweifacher Vergrößererung enigermaßen lesen konnte, bin ich allerdings auf etwas gestoßen, das mich stutzig macht. Zumindest der Eindruck entsteht bei mir, daß Geldsetzer (ich kenne von ihm lediglich einige Texte über östliche Geistigkeiten) Nietzsche verteidigt gegen den Vorwurf, Mitauslöser des Nationalsozialismus zu sein, was wiederum bei dem Autor grobi nicht eben auf Befürwortung zu stoßen scheint – eine seit den Siebzigern beliebte Wertung, die ich ja auch thematisiert hatte (nachträglich eingefügter Link im Text zu «Wille zur Macht»). Es mag sein, daß ich mich irre, aber es steht hier so im Raum. Das wäre dann aber auch eine leichte Ungereimtheit. Aber ich kann mich jedoch irren.

Klar ist wohl: Diese Art von philosophiegeschichtlicher Darbietung, dieser extreme Mut zur Lücke dürfte auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts ausgelacht worden sein. Und ich frage mich: An wen wendet Geldsetzer und damit Reclam sich mit solchen Büchleins? An all die Creys aus der Feuerzangenbowle, diese sprachlosen Restposten eines untergeangenen Abendlandes? Eigentlich will ich es gar nicht glauben, daß sowas Mitte der Neunziger erschienen ist. Aber ich vermute, daß sich das eben auch verkaufen läßt. An «Schöngeister». Möglicherweise ist er damit auch noch auf Lesetournee gegangen. Das Publikum habe ich vor Augen.


txxx666   (22.12.08, 03:48)   (link)  
Ich fürchte, es war genau umgekehrt: bei Herrn G., führte von Nietzsche zu Hitler sozusagen eine schnurgerade Stammbaumlinie, der Rezensent (mir bekannt) vertrat diesbezüglich eine gänzlich andere Auffassung (und ich übrigens auch; halte insbesondere die "Übermensch"-Metapher für diesbezüglich meist völlig missverstanden).

Was ich noch ganz zu erwähnen vergaß: den Verkauf seines Machwerks kurbelte der Verfasser u.a. auch dadurch an, dass er es allen Ernstes als Grundlagenlektüre für jede seiner darauffolgenden Veranstaltungen (Vorlesungen und Seminare) zur Anschaffung emp- bzw. befahl; trotzdem lagen wohl noch so reichlich Remittenden auf Halde, dass er Ende der 1990er über den RCDS(!) eine großzügige Spende von ca. 200 Exemplaren an das bosnische Goethe-Institut (die Armen!) gehen ließ... :D















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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