Platt und Volkstheater Bei letztgenanntem Begriff, lieber Hanno Erdwein, habe ich zunächst mal meine Bedenken. «Für den Münchner Ober-Grantler Gerhard Polt ist der Begriff Volkstheater ein Widerspruch in sich: Was sei denn, meinte er anläßlich der Diskussion um die Notwendigkeit einer solchen Institution, das Publikum im Parkett eines Theaters anderes sei als das Volk?» Lesen Sie mal in den den Text des Kollegen unter diesem Link hier rein, der ist zwar schon etwas älter, aber das Rad des Thespiskarrens rollt ja auch schon eine ganze Weile. Oder so: Was in der Regel als solches ausgewiesen wird, zähle ich nur bedingt dazu. Wenn Sie jedoch das ursprünglich Mundartliche – das auf diesen sogenannten Volksbühnen in der Regel nichts ist als eine synthetisch gequirlte, für den Tourismus aufbereitete, na ja, Masse ist – meinen, dann rücken wir zusammen. Früher konnte ich gar nichts damit anfangen, vermutlich, weil mir jeder geographische Bezugspunkt fehlte und ich idiomfrei deutsch gelernt hatte. Aber mit der vor etwa zwanzig Jahren einsetzenden Altersweisheit zog bei mir wohl die Erkenntnis ein, daß uns da eine ungemeine kulturelle Vielfalt verlorengeht, wenn die Dialekte zusehends verschwinden. Das dürfte zur Folge haben, daß bald nur noch ein undefinierbarer Kauderwelsch zur Verfügung stehen wird, der keiner Region mehr zuzuordnen ist. Wie beim Essen, das für viele junge Menschen ja heute schon aus der Fabrik kommt und die nicht mehr in der Lage sind, den Geschmacksunterschied zwischen Erbsen und Linsen zu erkennen, da alles unter einer industriell vorgefertigten Gewürzpampe verschwunden ist. Die sich häufenden Kochsendungen dürften damit einhergehen: Das kochende Volk spürt, wie sehr sein Organ verkümmert, da es kaum noch gebraucht wird. Daselbe dürfte auch auf das allgemein angestiegene Interesse an regionalspezifischen Sprachen zutreffen. Das trifft nicht nur auf die deutschen Lande zu. Gut in Erinnerung habe ich noch, welchen außerordentlichen Zulauf beispielsweise im Südwesten Frankreichs etwa seit Anfang der neunziger Jahre das Okzitanische hatte, das vom zentralistischen Paris quasi verboten und wieder zugelassen worden war, als man merkte, wie sehr die EUropäisierung die eigene altsprachliche und literarische (Ur-)Kultur verdrängte. Nicht anders dürfte die Zuwendung zu werten sein, die die deutsche Sprache an sich und die einzelnen Dialekte im besonderen des deutschen Sprachraums erfahren. Koch- und Sprachauftritte diverser Prominenter sind dabei vermutlich bei weitem mehr als Kuriosa; denn ohne die scheint es offensichtlich nicht zu gehen, muß auf ein Problem oder auch Phänomen aufmerksam gemacht werden, und sei es, sie funktionierten als schlichte Aufhänger. Meines Erachtens lugt dabei aus allen Ecken eine Renaissance der Romantik. Das ist nicht einmal bedingt unfreiwillig komisch. Renaissance bedeutet Wiedergeburt, Wiedererwachen; als Epoche die Wiederbelebung der griechischen und römischen Antike in Europa. Nun gut, die alten Römer kannten immerhin Bad, Toilette und Zement. Aber während der Romantik sehnte man sich nach dem Mittelalter — zurück zur quasi naturbelassenen Natur, ungeachtet des Kots und des Unrats, der mitten durch die Dörfer floß. Es war die Angst vor dem Verlust des Lebens durch eine zunehmende Industrialisierung, die viele Menschen in die heimeligen Erdlöcher trieb, aber auch großartige, scharfsinnige Poeten wie E. T. A. Hoffmann, Novalis und zum Ende hin Heinrich Heine hervorbrachte. Ähnliches ist heute wieder zu beobachten. Die einen gehen in den Wald, singen liebliche Lieder, würden in ihrer Not auch auf sanitäre Anlagen verzichten, glauben sinnsuchend wieder vermehrt an den da oben und kämpfen nach dem Freiluftgottesdienst mittelalterliche Schlachten nach. Und am Rand schreiben einmal mehr (nicht ganz so?) große Geistesgrößen wie ich kokett Geschichtchen vom verlorenen besseren Leben auf, die nichts anderes bedeuten als jene klaglose Hoffnungslosigkeit, die den dichterischen Geniussen der Romantik immanent war. Wenn es einen Sprachraum gibt, der mir schon immer wohl in den Ohren klang, dann ist es der norddeutsche. Begründen kann ich das nicht, habe ich doch keinerlei Wurzeln dort. Sprachlich und musikalisch unbegabt, wie ich leider bin*, werde ich auch das nicht lernen, das so köstlich liederlich bei mir ankommt, wenn mir der gerade noch verbliebene Bauer op'n Dörp weise sagt: «Sei moal weck'n Tähn di stött, wenn d' upp d' Kriessoag sittst! — So geiht dat dat Mäk'n ok, de wett ok nich, von wäm se dat Jöör hett!»** Aber ich bin mir dessen gewiß: Wenn wir dieses Theater, das ja das Volk und dessen Kultur spiegelt, nicht festhalten, dann können die in zweitausend Jahren noch so tief graben, aber finden werden sie nichts; nicht einmal die Grabräuber der unbezähmbaren Gold- oder Geldsucherei. Wenn ich also auf solche Seiten verweise wie auf die von Wolfgang Biegemann in Husby, dann nicht nur des Klamauks wegen, der dabei anklingen könnte. «Die richtige Internetseite für alle, die bereits im niederdeutschen Fahrwasser schwimmen», setzt er zwar als Motto ein, «aber», fügt er an, «besonders auch für diejenigen, die noch zögernd am Ufer stehen.» Ich bin ein solcher Zögerling, der sich allerdings bewußt ist, daß er fortgerissen wird, wenn er nicht mitschwimmt, solange es es noch ein Wässerlein ist. Und die gar nicht genug zu lobende Arbeit eines Liebhabers — wie der Dilettant*** früher mal hieß — wie Biegemann (und anderer!) steht für mich zweifelsohne als Synonym auch für andere Sprachregionen. Längst haben sich die Linguisten an den Universitäten der Protokollierung angenommen. Doch ohne Unterstützung aus dem Volk dürfte nichts gehen an diesem Theater. * Auch fast dreißig Jahre Bayern haben mich die unterschiedlichen Landessprachen nicht zu lehren vermocht. ** «Sag mal welchen (Säge-) Zahn du dir stößt, wenn du auf der Kreissäge sitzt! — So geht es dem Mädchen auch, sie weiß auch nicht, von wem sie das Kind hat.» *** So er in diesem Fall überhaupt einer ist und nicht ohnehin Sprachforscher?
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