Kein schöner Zug

Mich hat mal wieder geträumt.

Ich erwache. Ich höre das Rattern von Rädern. Es sind Bahnräder. Seit wann fahren Döschwoh auf Schienen? Lustig. Nein. Seltsam. Ich schaue hinaus. Ich will hinausschauen. Doch da. Da ist ein Spalt, durch den ich etwas sehen kann. Er klafft zwischen den Brettern des uralten Güterwagens. Er reicht für einen Blick. Schön. Ich sehe den Bahnhof von Valence. Großartig. Doch draußen ist diffuses Licht. Es wird die Morgendämmerung sein. Aber wo fährt der denn hin! Ich will nicht in den Osten! Auf dem Wegweiser steht in kyrillischer Schrift ein Ortsname. Es hat im Süden diese Schrift nicht zu geben, ein klares Nein zu den von Joseph Roth ersehnten Wäldern im Licht der Provence. Ich will das nicht. Aber Marseille ist doch griechisch. Es ist beruhigend. Doch es ist Kyrilliza! Es ist russische Schrift. Was steht da? Unsinn. Ich kann doch keine kyrillische Schrift lesen, schon gar keine russische. Aber ich kann sie lesen. Das Rattern des runden Eisens auf den Geleisen wird immer heftiger. Nein. Ich lese nicht. Ich höre. Es wird meine Französisch-CD-ROM sein. Doch nicht. Die Räder lesen es mir vor, rhythmisch, immer lauter. Stakkatohaft. Le-nin. Le-nin. Le-nin-grad. Wie der Mob, der skandiert. Was soll ich in Leningrad? Dort ist es kalt. Als Kind habe ich da schon jämmerlich gefroren. Ich will in meine Höhle, in meinen weichen Leib. Ich muß das Ei mit sonnigem Meeresschaum füttern. Und nun fahre ich auf Schienen nach Norden, gar in östlicher Richtung. Dafür habe ich keine Zeit! Im Süden liegen meine Aufgaben. Ich sehe an der Waggonwand einen Zettel kleben. Was steht darauf geschrieben? Über Krakau. Nach Leningrad. Nun faucht die Dampflokomotive. Swerd-Lowsk. Swerd-Lowsk. Swerdlowsk. Um des lieben Himmels willen. Der Tate ist doch schon ewig tot! Ich will nicht in die Vergangenheit. Mir reicht die jüngste. Ich muß zurück in die Zukunft! Gottseidank. Gott? Richtig, Naziza hat ja einen. Er soll ja jetzt auch für mich zuständig sein. Ich höre Bremsen quietschen. Gleich wird der Güterzug umdrehen und seine Fracht in die andere Richtung befördern. Es war sicher mal wieder ein Fehler in der Software. Hier am Ural, kurz vor Asien sind sie noch nicht so weit. Und für deutsche Weichware haben sie kein Geld. Auch bringen die Deutschen anderes Material. Sie bringen mich. Wie? Mich? Mit kreischenden Rädern kommt der Zug zum Stehen. Wieder höre ich das Skandieren. Ein Pulk von Menschen. Er grölt paukenschlagartig meinen Namen. Ri-sa-cher! Ri-sa-cher! Die-te-rich. Die-te-rich Ri-sa-cher! Es klingt nicht sehr freundlich. Sie rufen es sehr deutsch. Die Tür des Güterwagens wird aufgeschoben. Oh Schreck. Da stehen hunderte Uniformierte. Sie sind schwarz. Die Uniformen. Die Köpfe sind alle hellblond. Semmelblond, wie der Bayer sagt. Obwohl es Semmelblonde eigentlich eher in Friesland gibt. Und da gibt's keine Semmeln. Die strohblonden Köpfe sind alle — auf allen Körpern befinden sich zwei dieser Köpfe. Vor dieser Menschenmenge steht jemand, der aussieht wie ein Heerführer. Ein verheerender Führer. So groß. Sehr blond. Sehr blauäugig. Nein. Das kann man bei diesem Gesicht wirklich nicht sagen. Wie eben gerade gelöschter Stahl. Da ist fast noch Glut drinnen. Es ist die einzige Uniform, die nur einen Kopf trägt. Und es ist eine französische Uniform. Die rechte Hand der Uniform hält eine Leine, die zu einem Hundehalsband führt. Es ist kein Hund. Es ist mein lieber alter Grigorije. Mein alter lieber Vater. Auf allen Vieren. Seine Hände-Füße sind ganz schrundig. Um Himmels willen. Dann kann es sich nur — mein Blick wandert auf der Leine zurück zur Uniform, zurück zur Hand, den Arm hinauf, zur Schulter. Dort befindet sich ein französisches Generalszeichen aus dem ersten Weltkrieg. Mein Blick tastet sich ganz vorsichtig weiter, erst zum Hals. Ein schlanker Hals. Hätte ich nicht ein sehr ungutes Gefühl, ich würde sagen, es ist ein schöner Hals. Es könnte ein Frauenhals sein. Ein Frauenhals in einer französischen Generalsuniform aus dem ersten Weltkrieg? Das geht doch nicht. Träume ich? Nein. Ich träume nicht. Es ist Mon Générale Philomène Risacher. Das Gesicht lächelt. Ach ja. Das kenne ich. Wenn dieses Gesicht lächelt, steht mir nicht Gutes bevor. Vermutlich muß ich mal wieder drei Monate am Stück reisen. Wenn ich Glück habe. Andere kriegen einen Tag Hausarrest, wenn sie nicht artig waren. Ich werde auf Reisen geschickt. Es ist die perfideste Strafe für ein Kind überhaupt. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Allerdings weiß ich mal wieder nicht, was ich ausgefressen habe. Irgendwas wird es schon sein. Mon Générale hat noch immer was gefunden. Vermutlich habe ich mal wieder ein Eselsohr in eine Buchseite gemacht. Es wird mir beim Einschlafen auf der sonntäglichen Chaiselonge hinuntergefallen sein. Das darf nicht passieren. Mit Französischvokabeln geht man so nicht um. Und dann ist es wohl überhaupt auf den Innenseiten zum Liegen gekommen. Das verheißt Höchststrafe. Ein halbes Jahr Reisen. Meistens in Hotels. Die Reise hierher war wohl erst der Anfang. Na ja, dann muß ich wenigstens nicht Klavierüben. Was auch immer. Ich werde es schon noch erfahren. Mit Erstaunen stelle ich fest, daß sich außer mir niemand in dem scheinbar endlos langen Zug befand. Ich bin der einzige Deportierte. Bin ich das? Der Zeigefinger des Generals winkt mich mit langsamen, zwingenden Bewegungen heran. Angekommen, werde ich vom Pulk der zweiköpfigen, aber gesichtslosen Uniformen eingekreist. Eingeschlossen. Fast lautlos, aber für diese Masse offensichtlich unüberhörbar, marschieren wir los. Ich kann nicht marschieren und gerate sofort außer Tritt. Cela donne séparément, zischt mir die Generalsstimme zu. Ah ja, Extraportion. Wir kommen im völlig heruntergekommenen Bahnhofsgebäude an. Ein mehr als ungemütlicher Saal. Doch Bahnhofsgebäude kurz vor Sibierien waren noch nie angenehm. Ich kenne das von unseren Reisen mit dem General und unserem Hund Grigorije. Es ist also nichts neues. In der Mitte des Raumes steht ein äußerst gepflegter Rennaissance-Schreibtisch und dahinter ein filigraner Rosenholzschrank mit Büchern darin. Es sind Gesetzeswerke. Auf allen Rücken steht: Du sollst nicht! Darüber ist ein Transparent gespannt. Darauf steht geschrieben: Tribunal gegen Dietrich Risacher! Die Masse Uniform ordnet sich im Halbkreis hinter dem Schreibtisch an. Alle setzen sich auf den Fußboden. Auch ich will mich setzen. Es knallt eine Peitsche. Sie peitscht: Stehen! Ich schlafe ein. Die lange Reise hat mich müde gemacht. Ich schlafe im Stehen. Ich träume. Ich träume vom weichen Bauch, in dem wir zu Millionen spielen. Es ist ein sehr schöner Traum. Alles ist warm und weich und so schön glitschig. Manchmal hüpfen wir ein bißchen. Es ist immer so, wenn sie lacht, weil wir sie so kitzeln. Ich bekomme auf diese Weise nichts mit von der Gerichtsverhandlung gegen mich wegen böswilligen Verlassens einer mir zugewiesenen Staatsangehörigkeit. Es handelt sich um einen besonders schweren Fall von Pflichtverletzung. Er bedingt von vornherein eine höhere Höchststrafe. Also ein Jahr reisen. Aber fast habe ich mich an diese Strafen gewöhnt. Es wundert mich, daß es so glimpflich abgehen wird. Ich höre den Urteilsspruch des obersten Volksrichters des elsässischen und lothringischen Weltreiches mit Sitz in Saverne, Philomène Risacher: Sie erhalten wegen der Schwere des Verbrechens Strafverschärfung. Wir verurteilen Sie hiermit zur verschärften Haft in einer unreinrassigen armenisch-persisch-arabisch-afrikanischen Familie. Na ja. Frau General hat ja noch nie durchgeblickt. Sie begreift einfach nicht, daß Menschen sich verändern. Daß es überhaupt Menschen gibt. Doch jetzt kommt die Verschärfung. Die Todestrafe wird Ihnen genommen. Sie dürfen nicht mehr sterben. Ich verurteile Sie zu überlebenslanger Haft in der Einzimmerwohnung einer unreinrassigen armenisch-persisch-arabisch-afrikanischen Familie. Sie dürfen sie nie verlassen. Ohne Genehmigung der dortigen Kommandatur dürfen Sie überhaupt nichts tun. Die Reise ist sofort anzutreten. Sie dauert ein Jahr. Habe ich mir doch gedacht. Ich kenn' die doch. Sie führt über Grönland und die Arktis. Das Reisefahrzeug ist der Güterwaggon in dem Güterzug, mit dem Sie hierhergefahren sind. Ihre Verpflegung besteht aus Bier und Rosenkohl. Das ist schon hart. Doch ich werde mich wohl in mein Schicksal fügen müssen. Adieu mein schöner warmer weicher Bauch.


Er setzt sich fort, der Traum, ich kenn mich doch. Nach dem Wiedereinschlafen geht's weiter.

Der zweite Teil

 
Do, 16.04.2009 |  link | (1973) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Traeumereien















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5814 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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