Bier, Rosenkohl und dann Champagner Des Traumes zweiter Teil. Ich erwache. Ich bin angekommen. Ich bin ganz aufgedunsen von einem Jahr Bier und Rosenkohl. Was ist jetzt? Dasselbe Bild wieder. Eine riesige Menge Uniformen vor einem Bahnhof, aber diesmal mit arabischen Schriftzeichen. Auch die Uniformen sind alle schwarz. Ebenfalls die Doppelköpfe. Aber alle tragen Tücher um den Hals, die mit runenartigen Zeichen in SS-Manier versehen sind. Wieder ein General, der eine Frau ist. Die kenne ich aber nicht. Oder doch? Auch hier wieder diese Hundeleine. Mein Gott! Oder Güte? Nein. Dieses Mal ist es nicht mein lieber alter Vater. Es ist Naziza, die auf ihren ehemals so schönen zarten, aber nun völlig zerfetzten Pfoten steht und zittert. Meine Naziza! Mein wunderschöner lieber weicher zarter Bauch. Die Generalin ist ihre Mutter. Mon Générale Marietta Taline el Fatah Al Arfaoui. Ich kenne sie also doch. Mütter sind die Hölle. Mir wird verkündet, daß ich meine Strafe in der Einzimmerwohnung sofort anzutreten habe. Alle Rechte sind mir aberkannt. Auch meinen Hund darf ich nicht sehen. Als Lektüre ist nur der von den Islamisten überarbeitete Koran zugelassen. Jede Zuwiderhandlung wird mit einem weiteren Jahr Unsterblichkeit bestraft. Ich erwache erneut. Ich befinde mich allerdings nicht auf einem Strohlager in einer armenisch-persisch-arabisch-afrikanischen Einzimmerwohnung, sondern auf dem Schreibtisch eines schlichten, aber peinlich sauberen Büros. Schon wieder höre ich eine Menschenmenge. Aber sie skandiert nicht irgendwelche bösartigen Parolen gegen mich. Doch wieder höre ich Risacher. Allerdings nicht Dietrich Risacher und auch nicht in harter deutscher Prononcion. Sie rufen fröhlich lachend und sehr französisch: Di-dier. Di-dier. Didier Risacher! Ich stehe vom Schreibtisch auf und gehe ans Fenster. Offensichtlich befinde ich mich in der Préfecture von Marseille. Über den Köpfen der ausgelassen herumhüpfenden und Champagnerflaschen schwenkenden Gruppe von Menschen hängt ebenfalls ein Transparent. Darauf steht in Kinderkrakelschrift: Bienvenu à patrie! Papa! Die Tür öffnet sich. Herein kommen drei Hähne. Naziza würde sagen — drei coq d'gaulois, denn sie sind eingewickelt in jeweils eine Tricolore. Jeder dieser drei Kapaune trägt etwas sehr feierlich auf je einem Samtkissen. Sie bauen sich mit einer synchronen Verbeugung vor mir auf. Es sieht recht komisch aus und nicht nach einer neuerlichen Höchststrafe auf die Höchststrafe. Der eine macht einen Schritt nach vorne. Er nimmt eine Urkunde vom Samtkissen und liest vor: Aufgrund eines Erlasses des Kaisers der welt- und wertfreien Stadt Marseille — Sa Majesté l'empereur Bernard Tapie! — verbunden mit dem Ableben von General Philomène Risacher verkündigen — ja, verkündigen steht da — wir hiermit Ihre Begnadigung. Sie dürfen ab sofort wieder sterben. Einher mit dieser Begnadigung geht die der Calypso Naziza Risacher geborene Al Arfaoui. Auch sie darf sterblich werden. Er tritt zurück ins Glied. Der Mittlere tritt vor. Hiermit verleihen wir Ihnen die Ehrenstaatsbürgerschaft der welt- und wertfreien Stadt Marseille. Da die weltfreie Stadt Marseille die Grenzen zu Frankreich respektiert, dürfen Sie visumfrei überall hin und uneingeschränkt reisen. Er überreicht mir einen Paß, der dem französischen täuschend ähnlich sieht. Er tritt zurück ins Glied. Der Dritte macht einen Schritt nach vorne. Erst jetzt sehe ich, was auf seinem Samtkissen liegt — es ist ein Ei. Es ist das Ei der Naziza! Ich bekomme es ehrenhalber lebenslang verliehen. Es ist allerdings nicht übertragbar. Nur ich darf es befruchten. Die Drei entfernen sich aus dem Raum, lassen jedoch die Tür geöffnet. Das ist wohl ein Zeichen dafür, daß ich frei bin. Also verlasse ich das Büro und gehe nach unten. Es ist tatsächlich die Préfecture meiner Heimatstadt Marseille. Links neben dem Ein- beziehungsweise Ausgang steht ein Zeitungsständer mit La Provence. Ich schaue darauf und sehe das Datum. Flüchtig nur, denn die Menschen, die mir zugewunken haben, laufen auf mich zu. Es ist August 1998, soviel kann ich gerade noch lesen. Dann bin ich umringt. Alle umfassen mich und küssen mich und herzen mich. Als ich wieder einigermaßen durchatmen kann, sehe ich ein paar Schritte zurück Naziza stehen. Sie sieht zauberhaft aus in ihrem leichten, weißgepunkteten dunkelblauen Sommerkleid. Sie hat eine Leine in der Hand. Mir fährt der Schrecken durch alle Glieder und in alle Poren. Nein. Lieber Himmel nein! Doch dann sehe ich, daß es keine Leine ist. Es ist eine Schnur, die zu einem Luftballon führt. Aber dazwischen befindet sich ein Kinderhändchen. Und zu diesem Händchen gehört ein Traum von einem kleinen Mädchen in einem Kleidchen aus exakt demselben Stoff wie dem von Mamans Kleid. Das Gesicht ist mit dem der Maman nahzu identisch. Die Augen sind allerdings blau. Na ja — immerhin dunkelblau, eher ein bißchen ins Schwarze gehend. Und in dem Lockenkopf blitzen ein paar fast rötlich-blonde Strähnen auf. Die Kleine schaut mich ganz erwartungsvoll an. Ich schaue lächelnd zurück. Auf einmal reißt sie sich von Mamans Hand los und rennt auf mich zu. Ich komme fast nicht schnell genug hinunter, um ihr meinem Hals zu bieten. Sie ruft laut und vernehmlich: Bienvenu Papa! Ich bin also doch noch angekommen. Wie sie heiße, frage ich sie. Mit schüchternem, aber auch ein wenig traurigem Lächeln antwortet sie mir, das sei aber sehr schade, daß ich nicht wisse, daß sie Amphitrite-Calypso heiße. Aber natürlich wisse ich das. Ich habe sie nur auf die Probe stellen wollen nach einer so langen Abwesenheit. Ich nehme sie auf den Arm. Aber was mache ich denn jetzt mit dem Ei? Ich werde mich wohl mit Naziza beraten müssen. Sie kommt nun ebenfalls auch mich zu und legt sich einmal rund um mich herum. Wie sie das eben so macht und wie nur sie das kann. Sie flüstert mir ihr Glück ins Ohr. Auf einmal stehen sie alle in Reih und Glied vor mir, nein, eher recht unsortiert, sozusagen entmilitarisiert. Sie bedeuten mir, ich möge ihnen doch bitte verzeihen. Nie wieder würden sie mich bedrängen. Und ich möge doch nun bitte, obwohl ich ja alle erdenklichen Reisefreiheiten hätte, endlich zuhause bleiben. Sie kämen auch nur ab und zu vorbei und würden sich nie wieder in unsere Angelegenheiten mischen. Aber ich möge doch endlich wieder zur Familie gehören. Dort sei mein Platz. Sie hätten ihre Lektion gelernt. Naziza habe ihnen auch beigebracht, daß ein Mensch auch mal alleine sein müsse. Ich nicke. Dann macht es Plopp. Es gibt herrlich leicht kellermuffeligen Champagner. So, wie ich ihn liebe — nach altem Wein schmeckend. Nicht dieses staubende Zeugs, das die Deutschen so lieben, weil ihnen ein für Deutsche zuständiger französischer Händler gesagt hat, daß dies trockener Champagner sei. Ich frage alle, ob das der Ort sei, wo ich meine Staatsbürgerschaft beantragt habe. Mit ziemlichem Durcheinander wird es bejaht. Nun kommt auch noch mein schwarzer Leibgardist angerannt. Mein Güte — wie ich mich freue. Und es ist schier unglaublich, was dieses nahezu ausnahmslos aus Muskeln und Sehnen bestehende riesige Kraftpaket für eine Zärtlichkeit in eine Umarmung geben kann. Heute, sagt er mir, wie immer lachend, müsse er mich ausnahmsweise nicht retten. Naziza habe ihn vertreten. Ich schaue mich sehr erfreut um und erkenne tatsächlich den Ort wieder, wo ich Franzose werden sollte. Als Mitglied einer armenisch-persisch-arabisch-afrikanisch- und ein auch klein wenig französischen Familie. Ich erwache. Ich höre leichtes Rauschen. Ich schaue hinaus aus dem Güterwaggon. Verflucht. Schon wieder unterwegs. Ich wollte und sollte doch nicht mehr reisen! Ich sehe ein Hinweisschild. Es ist französisch beschrieben. Darauf steht: Bollène 5. Moment mal. Hier kommt man doch zum Heiligen Berg des Dichters, zum Mont Ventoux des Francesco Petrarca. Eine frühe Zufahrt, ein Stück weit vor Cavaillon, wo er gelebt, oder Fontaine de Vaucluse, wo er im Gärtchen seine Canzoniere geschrieben hat. Dann merke ich, daß ich mich auch nicht in einem Güterwaggon befinde. Ich sitze, mit leicht verdrehten Gliedern, in einem Döschwoh. Und neben mir sitzt die schöne Frau, die mir soeben diese entzückende Amphitrite-Calypso geschenkt hat. Ouf. So hart habe ich schon lange nicht mehr gearbeitet im Schlaf. Ich gebe einen Laut von mir, der bedeuten könnte, wieder unter den Sterblichen zu sein. Die Photographie der Préfecture in Marseille stammt von Vladimir I U L und steht unter CC.
Wegen Inflation geschlossen
Verbindungsinflation. Hochzeit, die nächste. Deshalb ist hier mal wieder Päuschen. Auch bei Elektropost.>> kommentieren So herrlich lebensnah träumen zu können ...
... ist die beste Voraussetzung für kreative Texte. Neidvoll - HannoZu sortieren
hatte ich dabei allerdings einiges. Früher ging man mit sowas zu seinem ganz persönlichen Lektor. Aber den hat das Internet ja auch vernichtet.Doch vielleicht meine ich ja auch was anderes. Den ganz persönlichen Psychologen bzw. -therapeuten zum Beispiel. Allerdings gibt's den mittlerweile ja auch aus dem Internet. >> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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