Gefangen im Tour Pomègues

m'aidez !may day oder Es geschah nicht an einem Tag im Mai. Zwei-Tage-Intermezzo.

Raymond. Raymond Saint-Louis. Ich erinnere mich wieder — ich glaube, es war 1996. Nein. Da war ja noch alles im Lot aufm Boot, und es gab noch keine Lebensstürme. Also eher 1997. Oder doch 1998? Wie auch immer — ich war ins Wasser gefallen. Zunächst hatte er mich befreit. Das erste Mal. Ich war oben in diesem kleinen Häuschen auf der Île Pomègues. Na ja, was heißt Häuschen, doch in einer nicht ganz so winzigen Ruine, die der mittlerweile restaurierte Tour Pomègues damals gewesen war.

Obwohl eigentlich alles verrammelt war, hat meine Neugierde es geschafft, mich dort hineinzuzwängen. Also, ich hatte mich irgendwie — nein, als ich eine Stunde herumgeschnüffelt hatte, stellte ich auf einmal fest, daß die Eingangstür nicht versperrt war. Und da bin ich — der oberste aller Oberangsthasen! — hinein. Es war eigentlich nicht viel zu sehen. Müll, in erster Linie. Wahrscheinlich haben ihn alle möglichen Clochards hinterlassen. Oder auch junge Leute, die dort Parties gefeiert hatten. Vermutlich hat man deshalb den Turm auch abgesperrt gehabt. Oder weil er baufällig ist. Damals war das noch eine Ruine. Nur für mich muß ihn jemand geöffnet haben — auf daß ich in die Geschichte eingehe. Sozusagen als Turmgeist. Denn als ich wieder hinauswollte, war die Tür verschlossen.

Es war zwar glücklicherweise noch Nachmittag, wenn auch später. Aber dort ist ja eigentlich nie was los. Drüben, auf der anderen der Îles du Frioul, der Île Ratonneau, ja, da hat man zu tun, muß man sich der Dauerangriffe der Möwen erwehren. Zumindest während der Brutzeit. Und die Viecher treiben's den ganzen Sommer lang. Aber auf Pomègues, da kann man während der Woche ewig herumspazieren, ohne daß man einer Möwen-, geschweige denn Menschenseele begegnet. Herrlich. Aber nicht, wenn man Gefangener des Turms ist. Also habe ich gebrüllt und gebrüllt: Au secours ! A moi ! Aidez-moi ! — dieses falschfranzösische m'aidez ! von dem ich später irgendwo mal gelesen habe, daß aus diesem Hilferuf das internationale may day entstanden sein soll, weil die Amis oder die Engländer das so verstanden hätten und so daraus der deutsche Frühlingstag der Panik und der Maibaum-Kletter-Besäufnisse entstanden ist. Es hat natürlich nichts genutzt. Es war ja auch längst tiefer Sommer. So habe ich mich langsam darauf vorbereitet, die Nacht in meinem historischen Verließ unter Mäusen und wahrscheinlich auch Ratten verbringen zu müssen. Ein nicht eben beschaulicher Gedanke.

Das Gespenst wurde wieder zum Menschen. Denn auf einmal rief jemand: Monsieur! Monsieur. Là-dedans ?! Lá-dedans ?! Dans le tour ?! Und ich brülle wie wild in Richtung der Stimme. Und da sehe ich auf dem Gang, der um den Turm herumführt, einen tiefdunklen Herrn — und rufe. Ici, Monsieur ! Ici, Monsieur ! Délivrer, s'il vous plaît !

Es waren damals, wenn ich mich recht erinnere, gute vierzig Grad. Draußen. Im Schatten. Wenn's denn einen gab. Der einzige hier war der Turm? Und der war Glut-Turm. Auch noch ein bißchen sehr muffelig dazu. Also, er dirigierte mich sprachlich irgendwie zur Tür. Aber die war verschlossen. Irgendjemand mußte sie eben hinter mir verriegelt haben. Dem war auch so, wie ich später erfahren habe. Der Inselhüter hat die geöffnete Tür gesehen und sie ordnungsgemäß verschlossen. Wie sich das gehört. Und mein Befreier hat sie kurzerhand eingetreten. Ganz einfach so. Mit einem Tritt hat er die bevorstehende Geschichte korrigiert.

Also, ich habe mich ganz herzlich bedankt. Habe ihn gefragt, ob ich das irgendwie wieder gutmachen könnte, schließlich verdankte ich ihm ein Stückchen meines Restlebens. Er hat immer nur gelacht und gesagt, es sei schon gut. Es klang so wie das hamburgisch-holsteinische Dafür nicht, das anstelle des dankerwidernden Bitte gesagt wird. Dann wünschte er mir freundlichst einen guten Tag und rauschte ab. Er hat noch irgendwas gesagt und dabei auf die Tür gedeutet — irgendwas von réparer und so.

Da ich nun ziemlich verdreckt war, vor allem an Händen und Füßen, ging ich hinunter zum Wasser. An die Bucht, ein hafenähnliches Gebilde. Dort sollte ich meiner Dame eröffnen, meine Liebe zu France sei grenzenlos. Ich würde es anders machen als Walter Benjamin. Ich würde in Frankreich ins Wasser gehen und nicht zum Sterben ins spanische Port Bou auswandern.

An diesem Tag muß mich die Abenteuerlust geritten haben. Oder der Schwachsinn. Vermutlich eher letzterer. Ich will mich also säubern. Will zum Wasser. Doch anstatt in Richtung Fährhafen und damit zu einer der kleinen Calanques zu gehen — es war ja auch schon relativ spät —, kraksle ich die Felsen hinunter zu diesen Fischbecken. Nein, zum Hafen, offenbar. Der Weg außen herum war mir zu weit. Deshalb habe ich das Bergabsteigen geübt. Ich Übersportler. Weshalb, weiß ich nicht. Ich habe nur drei, vier Menschen gesehen da unten. Das wird wohl der Grund gewesen sein. Die Sehnsucht nach Menschen, da ich gerade dem sicheren Einsamkeitstod entronnen war. Daß es am Fährhafen noch mehr Menschen gegeben hätte, kam mir nicht in meinen Schwachkopf. Unten angekommen plätschere ich in dieser dunkelgrünen Brühe herum. Das war ja kein richtiges Meerwasser, solches für Moules eben. Schmecken tun Muscheln ja gut. Aber — na ja, ich rutsche aus auf so einem veralgten Stück Stein. Vermutlich das einzige weit und breit. Ich falle rein in diese Brühe. Und ich hänge fest.

Also wieder gefangen — in meiner eigenen Dummheit. Also wieder rumbrüllen — au secours ! au secours ! Dieses Mal geht's rascher, daß jemand angerannt kommt. Und wer ist es? Wieder mein Anderspigmentierter. Und was macht der? Er lacht. Er lacht sich fast so kringelig wie du gerade. Irgendwas von keinem guten Tag für mich, erzählt er. Und ich schäme mich fürchterlich. Was macht der?! Er hüpft hinein in die Brühe und löst mich aus irgendwas heraus. Irgendein Netz oder sowas ähnliches, was so ein Muschelangler da reingehängt hat. Aber sicher nicht, um mich altertümlichen Weißfisch zu fangen. Dann hievt er mich, mal eben so, auf die steinerne Beckenabgrenzung hinauf und steigt mir — sehr, sehr! sportlich — nach — hups, und er ist draußen. Na gut. Drinnen war ich ebenso schnell. Ich bin sprachlos angesichts solcher Güte und umarme ihn. Es war nicht weiter tragisch, denn naß waren wir ja beide. Dann schüttelte er mir die Hand. Aber nicht, um das Wasser aus uns herauszurütteln, sondern um sich vorzustellen. Sicher nannte er mir seinen Namen. Den hatte ich allerdings, wie üblich, schnell wieder vergessen. Eines blieb mir jedoch auf ewig, Absence hin oder her, in Erinnerung: Guten Tag. Ich bin hier der Hilfsneger, gemäß unserer uns zugedachten Gene: immer zu Diensten.

Es war dennoch kein endgültiger Abschied. Denn wir sollten uns noch einmal begegnen an diesem Tag. Lange sollte es nicht dauern. Vermutlich wußten wir damals schon, daß wir beide Andersgeartete sind und auch zu einer Familie gehören. Ich trotte also über den Digue Berry gen Hafen, um zum Festland hinüberzufahren. Als ich ankomme, fährt gerade ein Schiff. Es war das letzte dieses abenteuerlichen Tages. Dachte ich. Heute weiß ich, daß um Mitternacht noch eines fährt. Aber damals war ich einfach nur erledigt.

Da sitze ich nun am Anleger auf einem Poller und hadere mit meinem Schicksal. Beinahe eins mit mir. Was soll's, dachte ich mir. Besser, als im Turm gefangen zu sein. Dann werde ich mich eben windgeschützt in eine der Calanques legen und die Natur der Nacht kennenlernen. Das einzige, was mir nicht so recht war, war die Tatsache, am Abend verabredet zu sein. Doch das war eben auch nicht mehr zu ändern. Telephon hatte ich keines dabei. Aber das war damals ohnehin noch fest im Auto installiert. Doch dann kommt ein Boot um die Kurve. Dem bedeute ich nichts weiter bei. Es fahren viele Boote hier ein in den Hafen. Es liegen ja sehr viele vor Anker hier, vor allem im größeren Hafen in Blickrichtung Hôpital Caroline. Aber dieses Boot tuckert langsam auf den Anleger, auf mich zu. Und wer ist es? Mein Nicht-von-der-Sonne-Gebräunter. Und was macht er? Er lacht. Und er fragt mich, ob er vielleicht heute noch einmal etwas für mich tun könne. Er täte es gerne. Er habe sich so an mich gewöhnt, quasi wie an jemand Angeheirateten oder so ähnlich. Schmeißt mich in sein Bateau und schießt mich nach Marseille. Dort trinken wir einen gegenüber im Tabac. Oder auch zwei. Und ich lache mit ihm. Meine Verabredung sage ich ab. Es hat dann nämlich noch ein bißchen gedauert.

Auf jeden Fall war's ein wunderschöner Abend. Er hat sich nur mal eben kurz zurückgezogen, um zu telephonieren. Ich nehme an, er hat meine spätere Schwägerin angerufen, um ihr zu sagen, er müsse auf einen extrem gefährdeten Menschen aufpassen. Wir waren dann noch essen — oben, an diesem Platz, in den die Rue de Rome einmündet, wo man diese Fisch- und Austern- und so weiter Berge besteigen muß, um sie zu verputzen. Um sich einen Eiweißschock fürs Leben zu holen. Oben, ja genau, am cours Saint-Louis — ja, richtig, cours Saint Louis! Ich war offensichtlich mit Saint-Louis in Saint Louis. Ich hatte ja längst wieder vergessen, daß der auch so hieß, mein späterer Schwager.

Ihr wart bei Toinou.

Genau. Selbstverständlich haben wir auch Muscheln gegessen. Irgendwie war das naheliegend, sozusagen natürlich.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Fr, 23.01.2009 |  link | (3720) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (23.01.09, 11:53)   (link)  
Eiweißschock
Sie sind ja momentan in Hochform! Oder holen die besten Stücke aus dem Keller. Zum Glück haben sie bei Karstadt neulich die gute Hachez Cocoa 88% Premier Cru wegen einer Verpackungsumstellung für einen Euro ausverkauft. So kann ich heute an der nicht von der Sonne gebräunten Schokolade knabbern, mich über das Stichwort Port Bou freuen und mir so ganz langsam eine Reise ins Gedächtnis rufen, über die ich auch mal erzählen werde. Mit Maschinenpistolen und so.


jean stubenzweig   (23.01.09, 12:17)   (link)  
Maschinenpistolen?
In Port Bou? Wollten die Benjamins Grab stürmen, die Dauertrauernden verjagen und ihn posthum wegen terroristischer Umtriebe verhaften, ihn exhumieren und auf irgendwelche Gifte untersuchen, die er nach wie vor verbreitet? Oder das Grab zerstören wegen Entarte Kunst und so?

Und dann auch noch Hachez Cocoa 88% Premier Cru für einen Euro. Das Gute ist auch nichts mehr wert, wie wir wissen. Ich kenne das von den Verramschaktionen bei Buch und Film etc., da bekomme ich auch immer wieder Kostbarkeiten fast umsonst, weil die Leutchen lieber viel Geld für wenig Qualität bezahlen (das werde ich demnächst mal thematisieren). Oder sollte das die Deflation sein?

Ich hab's aus dem Keller der 630 Seiten geholt. Allerdings abgestaubt und etwas aufpoliert.


jean stubenzweig   (23.01.09, 12:21)   (link)  
Nachklapper
Wir wollen uns zwischendrin ja auch mal ein wenig vergnügen. Schicksale werden ja bisweilen auch von Heiterkeit begleitet. Bekleidet?


aubertin   (23.01.09, 12:54)   (link)  
Bilder von den Îles du Frioul
gibt es hier ein ganzes Paquet. Aber nicht digital. Yves! Il est vieux jeu ...

Ist es eigentlich bemerkt worden: Auf der Seite des Photographs dinormis (rechts, tour pomeguet) sind viele der Möwen der Île Ratonneau gezeigt, von denen hier geschrieben steht. Aber es ist kein Bild dabei, auf dem sie angreifen. Sie sind alle voller Frieden. Er ist wahrscheinlich ein Verehrer der intacte Natur.

http://www.flickr.com/photos/84019257@N00/sets/72157604846944755/

bises

Anne (et Yves?)


jean stubenzweig   (23.01.09, 13:18)   (link)  
Mon Dieu ! Merci !
Da sieht man mal wieder, wie wenig ich sehe, wenn ich hingucke ... Ich habe nur den Turm gesehen, der genauso abgelichtet war, wie ich ihn, nicht nur in dieser Geschichte, gesehen habe (wenn er hier auch restauriert ist, was er vor ein paar Jahren noch nicht war). Und da ich ja einige Jahre unterwegs nicht photographiert habe und das eigentlich auch weiterhin so halten möchte, weil ich mich auf meine Festplatte bei mir da oben verlassen möchte, muß ich auf die Bilder anderer zurückgreifen. Die sind ohnehin durchweg besser, als wenn ich sie geschossen hätte. Aber das geht nunmal nur digital. Außerdem habe ich was besseres zu tun, als nebenan von Toulouse-Lautrec Bildchen zu gucken ...

Aber ich gehe jetzt tatsächlich mal auf die Suche nach angreifenden Möwen. Wer das nicht erlebt hat, kann es nicht nachvollziehen. Das gibt es im übrigen auch am Atalantik und an der Nordsee, anzunehmenderweise überall, aber auf Frioul sind so schön im Kriegerischen. Selbst brav auf den Wegen zu bleiben, bringt da überhaupt nichts. Man wird gejagt.


jean stubenzweig   (23.01.09, 15:11)   (link)  
Richtig fündig geworden
bin ich nicht. Man könnte meinen, am Mittelmeer seien die alle so brav. Dem ist aber nicht so. Denn sehr oft gucken die einen so an wie ihre canadische Schwester. Aber immerhin hat der Photograph einen französischen Namen. Wahrscheinlich ist das sogar ein Selbstportrait – während er aufs Copyright verweist ...

Bei mir sehen die immer aus wie Wullewullentchen beim Schiffchenspielen in der Badewanne (ja, ich hab heimlich doch photographiert ...).
















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