Ich werde gedacht

Brief aus den Kolonien

Mon bien-aimé,
ich habe einen Ausflug gemacht nach Louisiana, das Geschenk einer Dame, die ein Haus hat bei uns, gelegen am Wasser von Fort-de-France, und auch ein flinkes Fluggerät besitzt, das sie benutzt wie andere ihr Automobil, um in ihr Haus nach Baton Rouge zu kommen. Man spricht nicht mehr Französisch dort, obwohl es naheliegender wäre, wurde es doch besiedelt und nicht erobert wie die Insel hier. Aber ich habe dort Kunst gesehen, bei meiner Gastgeberin. Und Kunst ist Esperanto. Sie hat mich an uns erinnert, an unsere Gespräche. Er ist ein spanischer Maler, nein, dort hat er gelebt wie in vielen anderen Ländern, auch in Paris, das auch ein eigenes Land ist, er stammt aus Uruguay, wie die Familie, die mich eingeladen hat und die ich seit Paris kenne, wo sie ebenfalls immobilisiert ist. Selbstverständlich kennst Du ihn: er heißt Joaquín Torres-García. Er ist geboren wie Dein Papa, so gegen 1875. Sie hat mich seltsam angerührt, diese Mischung aus Construction und Chiffre. Es ist immer ein Versuch — ein Zeichen dieser Zeit —, diese Organik zu greifen, zu fassen. Es in eine feste Ordnung zu geben. Und dabei bin ich in Gedanken gestoßen auf Nietzsche. Aber ich höre Dich zuvor bereits reden:

Dieser Maler war einer, der sich hat wie viele dieser Zeit mit großer Euphorie aufgeschwungen hin zur neuen Welt-Ordnung ...

Diese «einfühlsame» Ordnung — aber alles muß eine Form haben. Doch sein Wesen aus Lateinamerika hat nach meiner Meinung immer ein Korrektiv der reinen Ordnung gegeben — Vernunft. Bei Nietzsche habe ich gelesen, in Menschliches, Allzumenschliches, eine Note: Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken. Daß es ihn gibt, diesen Kult der Symmetrie. Nun, wenn er ist satt davon, der Mensch, sucht er — höre ! — Vernunft in einer scheinbaren Unvernunft. Ich sehe es so. Nietzsche schreibt von einem ästhetischen Rätselraten. Er meint, daß nach einer Übersättigung durch die Symmetrie ergo Vernunft vulgo Regel der Mensch auch sucht in der Verborgenheit des Nichtwissens, in der Vermutung, in einer Ahnung. Vielleicht wie die Maya als die Nichtwissenden, vielleicht auch das Sanskrit-Maya im Veda — als eine Illusion. Ja, Schopenhauer singt hier mit, Du hast es oft erwähnt. Diese Veda, die hineingebracht worden ist von indogermanischen Immigranten! Zweitausend Jahre vor dem großen, heiligen Jesus Christ!

Ich meine nicht diesen trivialen okzidentalen Humanismus von einem Glauben an das Wahre und Gute in den Menschen. Auch nicht diese scheinbaren Geheimnisse, die man sich seit langem bemüht, als Esoterik auf einem Markt zu verkaufen. Diese andere Vernunft liegt nach meiner Meinung in einer Welt des Gefühls. Es ist eine Welt der Naturvölker. Torres García greift — ich glaube, seine Mutter war eine Indio — zurück auf eine Sprache des Fühlens. Ich habe es gespürt in diesen Bildern. Und ich ahne, daß Nietzsche es so gemeint hat. Es ist dies eben die andere, die verborgene Seite dieser Vernunft. Worüber wir einmal gesprochen haben — diese andere Vernunft. Eine andere Vernunft als diese, die wir so sehr Gebildete aus einer zivilisierten Welt haben geschaffen, wir Abonennten und Leser einer Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, wir Kinder von Diderot, wir französisch Aufgeklärten und die Welt Aufklärenden. Es ist quasi — die Rückseite der Medaille.

Ich komme darauf, weil in Deinem letzten Brief zu lesen ist: «Aber mein Gefühl denkt nicht!» Hast Du Dich so verändert? Du widersprichst Dir gegenüber früher. Doch! — Es denkt Dich. Es ist noch nicht solange her, daß Du anders gesprochen hast. Non, Du bist nicht alleine der einsame große Geist! Nicht diese reine Vernunft von Descartes, die den Menschen hat total wirr gemacht mit seiner Aussage, es liege alles in Zahlen. Es liegt alles außerhalb eines Körpers, hat er gesagt. Dieser Dualismus! Hier Körper, dort Geist — res extensa, res cogitans. Dieser dumme Kopf mit seinem Kopf ohne Körper! Ich weiß, andere sehen es anders, aber ich betrachte es so. Und er hat fest geglaubt an Gott. Alles ist geschaffen von einem Gott, selbstverständlich einem der Christen. Aber — wer hat es nicht getan in dieser Zeit in Europa? Also muß er gedacht haben, wie Rimbaud es gesagt hat: Ich werde gedacht. Von meinem Gott. Oder wie sonst? Ich meine vorwiegend diesen schrecklichen Zwang, immer alles ordnen zu müssen in Kategorien, meistens in zwei, wobei aus diesem Filter immer ein Gut und ein Böse heraustropft als Nektar für das Volk. Anderes sieht es nicht, will es nicht sehen, so will es aufgeklärt werden, wie früher aus der Bibel der Armen. Ich meine, Du bist der große Geist, wenn Du Dich freimachst davon! Wir waren darin so oft geeint in unserer Meinung. So oft hast Du mit Rimbaud gesprochen, mit Baudelaire, mit Novalis und vielen anderen großen Geistern. Didier — wo ist der Connaiseur l'romantisme, le Flâneur d'romantique? Was ist das für ein schrecklicher Kampf, den Du kämpfst — gegen Dich! Ich habe gedacht, es ist vorbei!

Du wirst Deiner Tochter nicht einmal erzählen wollen, ein großer, ein guter Mensch kann nur so werden, weil er den ganzen Tag nichts anderes tut als alles gegeneinander abwägen. Wo ist der Romantiker? Der Poet? Sa vie est un vrai roman? Puh! Didier, komme zurück zu Dir. Wo ist mein Träumer? Mon rêveur! Unsere Tochter! Sie ist herauskommen aus mir, während ich unter einem Olivenbaum lag, den wir vor zweitausendsechshundert Jahren in die Calanques der Île Ratonneau gepflanzt haben, und Du meine Hand hieltest und wir wußten, daß unsere Tochter deshalb eine Göttin wird. Weil ihr Papa sich das so sehnlich gewünscht hat und weil er neben seiner Göttin noch eine hinzu benötigt. Ich habe sie ihm und uns geschenkt und dabei gedacht: Nicht Rom werden wir gründen, sondern Marseille! Ich weiß es — und Du weißt es auch: Didier und Naziza sind nicht geboren auf diesem großen alten verrotteten Haufen einer Vernunft, die zu uns, in die Welt gekommen ist als Protestant, als Calvinismus. Dieser Esprit ohne Unterleib! Du kennst diese Geschichte von diesem Indianer, diesem Huronen? Ich habe sie Dir erzählt, doch gerne will ich sie wiederholen.

Dieser Hurone sagt zu einem Missionar — hier ein Katholik, ein Franzose aus Canada: Du mußt träumen. Wie willst du sonst deinen weiteren Weg sehen? Und was antwortet dieser katholisch-demagogisch verseuchte Idiot? Er sagt, er sei zu müde zu träumen. Ihm würde Gott helfen. Und dann sagt dieser Schwachkopf noch — welche Antwort soll man geben Menschen, die Träume für Wirklichkeit halten?!

Aber was schreibst Du?! «Das ist die göttliche Vernunft. Du sollst keinen anderen Traum haben neben mir.»

Ein, pardon, lächerlicher Kommentar, das ist ein Sarkasmus, wie ihn nur eine Resignation gebären kann — pah ! pseudo-liberté, pseudo-intectuel. Diese Träume sind Wirklichkeit! Sie sind in Dir! Du hast mir gegenüber einmal gesprochen von Deinem Kampf, von Deiner Vorstellung als junger Mann von nahe fünfzig Prozent Gefühl und einundfünfzig der Vernunft. Von dieser Waage, die immer schwankt hin und her. Du hattest es erzählt, wie schlimm Du hast gelitten, so daß Du Dir eine solches Modell hast konstruieren müssen. Didier! Es ist alles gewachsen auf zwei großen Haufen voll mit Leben und Vielfalt. Dann sind zwei Misthaufen zusammengewachsen. Nein, es ist nicht richtig. Jetzt liegen sie weit auseinander, getrennt vom Atlantique. Aber es hat sich nichts geändert. Es muß bleiben, was wir damals gesprochen haben:

Und nun machen wir Agriculture biologique. Wir werden ganz kleine Farmer. Das wissen wir auch ohne José Bové. Und wir werden soviel haben, daß wir anderen davon abgeben können. Wir werden den kleinen Garten wieder anlegen. Weg mit dieser riesigen Monokultur! Das wirst Du Deiner Tochter erzählen. Nicht diesen Ungeist von einer Monokultur der Vernunft. Oder Du wirst ihr erklären mit der Kraft Deines Geistes, daß Vernunft eine Summe von allediesem ist. Das bist nämlich Du! Und nicht Deine Versuche, Dich zu enteignen von dieser Kraft, die in Dir ist — Du alter verrotteter Misthaufen an der Seite von einem alten verrotteten Misthaufen. Immer wieder treibst Du gegen diese Vernunft von einem besseren Wissen diese Mechanismen des Dualismus in Dir an. Was machst Du, wenn Amphitrite-Calypso noch einem kleinen Bruder einen großen Bahnhof für unsere kleine Welt bereitet — ein kleiner Krautkopf, von irgendwoher? Willst Du ihn vollstopfen mit diesen Gedanken, die Dich zu einem Odysseus gemacht haben? Möchtest Du diese kleine Menschen dauergießen mit diesem Kunstdünger, der Dich so hat vergiftet, daß Du vierzig Jahre und mehr gebraucht hast, um zu verstehen, daß Du sie benötigst, die Natur?! Auch wenn unsere Felder auseinanderliegen — wir sind sie, Deine Natur ...

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Sa, 25.04.2009 |  link | (3001) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


gorillaschnitzel   (25.04.09, 04:27)   (link)  
Dieses francais dort haben mitunter auch die Akadier (auchundvorallem?) am Leben erhalten (wenn nicht gar gegründet, zumal Louisiana, ja auch mal Spanisch war und Nouvelle Orleans nicht immer einen französischen Touch hatte, die Stadt an sich ja schon, weil französische Gründung, aber der Landstrich und alles drum rum) und die stammen von dort, wo ich grad gewesen bin und sind dann dahin gegangen, wo Sie grad gewesen sind (wir haben sozusagen sowas wie nen "arkadischen Zusammenschluß").
Die Akadier haben immerhin die Cajun-Küche so was wie erfunden und die ist heute berühmt im ganzen Kontinent....


jean stubenzweig   (25.04.09, 04:43)   (link)  
Die Briefschreiberin
war ja dort, nicht ich. Ich kenne mich da überhaupt nicht aus, von Nouvelle Orleans weiß ich nur, daß dort mal französisch gesprochen wurde, ansonsten kenne ich nur die Überschwemmungen, wie diese Blechmusik, mit der ich so gar nichts anfangen kann, weshalb ich (unter anderem) dort deshalb vermutlich nicht leben wollte, weil sie mir Ohrenschmerzen bereitet. Und daß das mal spanisch war, wußte ich logischerweise auch nicht. Aber jetzt weiß ich mehr, Dank Ihnen. Und «arkadischer Zusammenschluß», das klingt wirklich gut, ebenso «Cajun-Küche». Darüber wüßte ich gerne mehr. Sie wissen ja: Gutes kommt hier immer auf den Tisch.

Nachtrag: Ich lese gerade: kreolisch. Da wären wir ja wieder zurück auf Martinique. Das wiederum kenne ich. Doch der Begriff ist irgendwie an mir vorübergerauscht. Mir ist nur cuisine créole geläufig.


gorillaschnitzel   (27.04.09, 14:36)   (link)  
Diese Cajunküchensache: Davon hatte ich allenfalls gehört und neulich in den USA gabs das immer in den Restaurants in den Speisekarten. Schmeckt stark würzig und etwas scharf. Ich hab mir jetzt im Eigenverfahren mal ein Cajungewürz zum Grillen gebastelt, aber noch nicht ausprobiert

1 EL weiße Pfefferkörner
1 EL schwarze Pfefferkörner
1/2 TL Senfkörner
1 TL Thymian
1/2 Löffel granulierte Zwiebeln
1/2 Löffel granulierten Knoblauch
1 EL Cayennepfeffer

Alle im Mörser zerstoßen, fertig. Geht auch ohne die Granulate und mit frischem Knoblauch und frischen Zwiebeln (mit dem Stabmixer pürieren), nur: Dann ist es eben sehr begrenzt haltbar und sollte gleich benutzt werden...


jean stubenzweig   (28.04.09, 02:19)   (link)  
«Geht auch ohne die Granulate ...»,
schreiben Sie. Aber mit, das ginge bei mir überhaupt nicht. Ich finde dieses Zeugs widerwärtig.

«... stark würzig und etwas scharf.» Anders wäre es nicht créole. Oder «verfeinert» für Touris aus Norddeutschland. Und nichts für mich, denn bei mir ist das Standard. Für Nord- und Ostseeanrainer ungenießbar.















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