Flieg, Abstraktum

Brief aus den Kolonien

Mon bien-aimé,
manchmal glaube ich, je weiter wir im Raum voneinander getrennt sind, um so mehr sind wir es auch in unserem Geist. Beharrlich kehrst Du zurück in Deine Reine Vernunft, die ich entfernt sah aus Dir. Auch wirst Du wieder dieser Sarkast, diese Krankheit, die ein solcher Beruf mit sich brachte? Aber der bist Du nicht mehr. Das wolltest Du aber auch lange zuvor schon nicht mehr sein! Das macht mich wirr.

«Und einmal für das Jahr die schönste Zeit ...», das habe ich geschrieben: es meint vieler Menschen beliebteste Tätigkeit: Urlaub. Aufklärung? Dann gibt er Ruhe nämlich. Und die Politiker haben ihre. Das sind Deine Worte, ich habe Dich lediglich zitiert. Doch ich verstehe es auch. Wer immer gehen mußte in eine Fabrik wie ein Tourismusbüro, wie ich früher, an ein solches Fließband der Tristesse, der darf einmal in einem Jahr sich freuen auf eine andere Zeit. Dann lernt man es: sich in Einheit verbrennen lassen Geist und Körper. Man will auch keinen Inhalt, nur Bronzage. Man will nicht wissen, daß ein Ornament wie ein Tatoo ist das Bild einer Information. Man will es als Dekoration. Für die Krönung des dicken Hinterteils. Darum herum und tief hinein maschinelle Bräunung durch Natur. Wer kennt es besser als ich?

Wieder schreibst Du wie voll Wut gegen alles. Ich weiß es doch, mir mußt Du das nicht schreiben: Auch das sinnentleerte Ornament: die schlimmen Protestanten mit ihren nicht vorhandenen Vorhängen! Diese sind auch nur Färbung. Sie haben sich von ihrem calvistinischen Gott ihren Kopf austrocknen lassen — weil sie diese Merde in sich nicht sehen wollen, vielleicht wirklich nicht können. Sie glauben, jeder darf hineinsehen in ihre Häuser, in ihr Inneres. Sie irren nicht, wenn sie sagen, es ist keine Sünde in ihnen. Es ist nämlich gar nichts in ihnen. Doch: Merde aus Lüge. Oder auch ein Buch. Eines! Nicht mehr als eines: das Testament von irgendwoher stammenden Geboten. Es ist ihre Reinheit. Es ist eine deutsche, nein, deutschsprachige Scheiße, von der ihnen der Franzose Calvin gesagt hat, daß es das nicht geben darf in ihnen, das Böse. Und sie glauben es, das Gute. Wie diese Musulmans, die nur dieses eine Wort gelten lassen. Ihr Wort. Dieses Wort ist Behältnis für Unfreiheit. Und deshalb ist es eben auch Kitsch. Weil sie nicht lesen können. Weil die Lüge damit verdeckt ist. Kundera. Ah! Was sage ich?! Ich weiß es doch. Schon seit langem sind es nicht mehr nur Deine Worte, es sind auch meine, wir haben sie ineinandergefügt, haben sie vereint, und schöne Bastarde aus Orient und Okzident waren daraus geworden. Vor allem eines. Doch nun?

Ja, Hegel. Auch das weiß ich. Wenn er auch gemeint hat, das Sinnliche sei zu unterwerfen. Gut. Er hat die Romantik nicht gemocht. Auch seine Bestrafung der Metaphysik. Er hat damit gemeint: Flucht vor der Welt, eine Idealisation ohne Realität, nur Schweben. Dieses ist auch Industrie, die verkauft: Metaphysik als Dekoration. Nicht Metaphysik als Sprache, als eine Möglichkeit, Inhalte zu bewegen. Das ist auch nicht das, was ich mit der Romantik genießen will. Eine kraftlose Schönheit hat er sie genannt. Das sehe ich nicht so. Es gibt in ihr diese Verbindung von Kraft und Schönheit. Auch wenn sie vielleicht nur scheint, wie das heute der Fall ist. Mir aber ist sie vorhanden, präsent, da ich nicht nur ihre Hülle kenne. Abwesende Dinge als gegenwärtig. «Schein als Wirklichkeit, beide täuschen», schreibt Lessing in Laokoon, «und beider Täuschung gefällt.» Gut, bei ihm ist eine andere Zeit. Jedoch, ich lebe in dieser Zeit. Sie ist zeitlos, diese Zeit. Ich habe eine Seele, und diese hat ihre Wurzeln im zeitlosen Ocean dieses Gefühls, das keine Zeit kennt. Du hast mir sehr viel erzählt von Tucholsky, und ich habe verstanden, daß dieses alles, was er geschrieben hat, auch heute exact so sehen ist, immer wieder lese ich ihn, und ich habe Dich verstanden, daß dieses alles, was er geschrieben hat, auch heute exact so zu sehen ist: nahezu zeitlos. Ich lese es so. Lessing, war er ein früher Tucholsky vielleicht? Dazwischen noch andere? Es ist bekannt, wie hast Du es genannt: ätzend, in unserer Sprache caustique —, es war caustique, wie er Winckelmann hat seziert, diesen Priester des Idealismus, des Etuis, der zwar konvertiert ist nach dem Katholizimus, jedoch immer ein protestantischer Pastor geblieben war. Und es ist eine große Wonne, diese Subtilität, dieser Esprit. Aber dennoch: Tucholsky — war er ein Romantiker? Ich werde es herausfinden. Jedoch ich bin im voraus sicher, daß er es war. Er hat nicht gehofft, er hat sich gesehnt. Deine Worte. Wir kennen diesen Lessing, der Nathan der Weise, der Nathan le Sage ist, der versöhnen will, alle miteinander. Wie Tucholsky uns beide, uns alle, die voneinander getrennt waren und sind. Wir können auch heute eine Verbindung schaffen zwischen einem Leben von Tatsachen und unserem Traum. Diese Grenzen aufheben.

Reine Vernunft! Es ist wie reine Rasse. Lebensborn. Du hattest mir von diesem Schrecken erzählt. Born? Brunnen? Vielleicht um darin ertränkt zu werden — debile werden durch reine Rasse. Merde! Hegel hat geschrieben: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. Meine Wirklichkeit ist nicht so vernünftig. Sie hat die Universität vor langem verlassen, hat zu lernen begonnen im Leben. Die Diskussion über eine Interpretation bis heute oder nicht, sie ist mir egal! Ich lese es so, wie es für mich geschrieben steht. Doch mehr Präzision? Es ist möglich: «Was zwischen Vernunft als selbstbewußtem Geist und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser unterscheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgend eines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist.» Gut, dann lasse ich es eben fliegen, dieses Abstraktum. Doch diese ist auch eine schöne Sentence — von vielen! — aus seiner Vorrede zur Philosophie des Rechtes: «Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit sich dieser zu erfreuen.» Et cetera. Ohne Ende. Es ist auch gut.

Hegel ist nicht mein Gott. Oder irgendein anderer. Diese Götter mag ich nicht. Ich mag gar nicht Götter. — Doch, Cupidon. — Nur die mißverstandene Religion kann uns von dem Schönen entfernen. Lessing, vielleicht so. Mein Gott ist in mir. Ich benötige keine Religion. Dieser Gott einer Schönheit, wie wir sie verstehen. Er ist mein Relais, er kann es sein, meine Station zwischen meinen Füßen auf der Erde, auch zwischen Traum und Wirklichkeit. Wir beide waren uns in dieser Beziehung immer einig! Kant und dieser Dualismus! Bergson hat hierzu von dieser sehr scharfen Unterscheidung zwischen der Materie der Erkenntnis und ihrer Form, zwischen dem Homogenen und dem Heterogenen geschrieben. Er ist mit schuld an viel Verzweiflung. Es macht mir Probleme, wie ein Mensch, der auf Dauer bleibt an einem Ort, der nicht reist, unter Menschen geht, unter andere, die nicht zu seinem Haus gehören — es muß nicht sein die ganze Welt, jedoch ein wenig soll es sein. Nehme dieses — deutsche — Beispiel Jean Paul. Er ist immer gereist ...

Ich reise nun zur Arbeit. Zu meinen Freunden, den Büchern.

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Di, 05.05.2009 |  link | (1580) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage















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