Platon und der liebe Gott Gratulation an einen Staat Die einen haben einen lieben Gott, die anderen haben Platon. Denen antworte ich jetzt hier auf Seite eins, weil mir das gerade recht kommt und weil's schließlich einen Geburtstag zu feiern gibt; hier geht sowas ja, im gehaltvollen Qualitätsjournalismus wäre das nicht seriös oder so. Ich meine das nicht negativ, also nicht ironisch, und schon gar nicht, wie man das heute sprachlich leicht reduziert so bezeichnen würde: zynisch. Mir ist der alte große Weise in seiner Höhle ohnehin näher als der da oben über uns Wachende, dem anderen so ähnlich Sehende nämlich, der uns, wie ich gestern aus dem Mund von Frau Käßmann erfahren habe, die Menschenrechte geschenkt hat. Bei solchen Äußerungen müßte ich die Frau eigentlich und tatsächlich zynisch auf das reduzieren, auf das es gerne nach wie vor viele Menschen tun: auf das Weib. Die titelige Aussage trifft auf sie selbstverständlich nicht zu, dazu ist sie zu gebildet und zu aufgeklärt. Aber als Bischöfin muß man sowas vermutlich sagen. Täte sie das nicht, beispielsweise auch noch solches wie mehr Kirche ins Fernsehen, ich könnte mir durchaus vorstellen, mit ihr an einem Tisch oder sonstwo zu sitzen oder sonstwas zu wollen. Doch wieder Exkursion über Gott und Götter beziehungsweise den Glauben an sie oder auch nicht? Eigentlich habe ich mich ja eindeutig genug erklärt. Aber es treibt mich doch immer wieder um und voran. Ach, Herr Cosidetto, sind sie wirklich gestrandet? Als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, hätte man das sicherlich sagen können, da war's wirklich noch gefährlich für Menschen wie Sie. Aber heute? Ja, die Moral schreitet unaufhörlich fürbaß wieder zurück in die Zeiten vom guten alten Kaiser Willem, den man wieder zurückhaben will in nicht nur einem bundesdeutschen Ministerium. Aber so ist das eben bei vielen, die sechzig und älter geworden und dort angekommen sind, wo sie vor vierzig Jahren möglicherweise nun wirklich nicht hinwollten. Bei solchen wie mir ist das nicht der Fall, ich gehöre zu den Unverbesserlichen. Oder so: Wer sich ein wenig mit der Entwicklung der Gesellschaft(en), also mit (Kultur-)Geschichte beschäftigt hat, mit der Histoire de la Civilisation, wie das in Frankreich heißt, der, sei's drum, setzt sich zu Ihnen an den Meeres(st)rand, schaut den Horizont erweiternd ins olle Griechenland und hört Ihnen zu. Gerne. Ich gehöre zwar nicht Ihrer Fraktion an, halte aber Ihre intensionalen Intentionen (nur mal so, zur Erklärung für diejenigen, die damit nichts anfangen können) für bedeutungsvoll in Richtung der persönlichen Freiheiten, die der Mensch (eben nicht Gott) sich im Lauf der Zeit geschaffen hat und die die Kirche und was alles dranhängt an ihr immer zu verhindern gesucht hat — zumindest früher, wo man wieder hinwill (Frau Käßmann sicherlich nicht, aber die ist ja, das sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt, auch kein Man; allerdings hat sie einige Kollegen, nicht nur in Rom). Was mich zunehmend ins Grübeln bringt: daß diese vielen mans, zu denen eben auch viele Frauen gehören, unter bisweilen seltsam anmutenden Vorwänden das Licht wieder löschen wollen, nicht nur das in den Schlafzimmern, sondern auch das des siècle de la lumière (obwohl's da ja nun wirklich den lieben Gott noch geben durfte; zumal man nichts anderes kannte). Ständig wird von Geschichte, von Geschichtsbewußtsein gesprochen und geschrieben, und daß das ja so wichtig sei. Nur, wann beginnt Geschichte? Bei Kaiser Willem? Oder nicht vielleicht dann doch ein bißchen früher? Möglicherweise sollte man sich mal darauf besinnen, daß das Denken und die Gedanken an die Freiheit, mit allem, was sich damit verbindet, zu Zeiten dieser anderen Götter bereits fröhliche Urständ gefeiert hat. Aber das, das wäre dann doch ein bißchen zuviel, soweit wollen wir dann doch nicht gehen. Dann wäre wir ja wieder bei 68 und diesen ganzen «frivolen», wie man früher mal das «Anzügliche» nannte, Begleiterscheinungen, bei diesen unapetittlichen und auch noch kriegsgegnerischen Hippies zum Beispiel. Und damit ist ja nun wirklich kein Staat zu machen. Mit Platon oder so.
Das hätte sich Jean-Jacques Rousseau auch nicht träumen lassen, dass er von den Repräsentanten der Kirchen vereinnahmt würde. Da haben sich die Aufklärer so viel Mühe gegeben, ihren Vorstellungen Geltung zu verschaffen, haben geschrieben und geredet und wurden verboten und verfolgt und 300 Jahre später kommen die Gegner von einst und sagen: wir sind die eigentlichen Schöpfer eurer Gedanken. Rousseau
sehe ich ja eher im zweiten Glied dieser kämpferischen Aktivitäten. Für mich stehen im Zusammenhang mit der Aufklärung Diderot und d'Alembert et al. im Vordergrund, nun ja, zumindest Voltaire und Montesquieu sollten noch genannt sein, somit die Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers – wo Rousseau mitgearbeitet hatte. Die ist den meisten nicht bekannt, auch nicht im Geburtsland, in deutscher Sprache gab es ohnehin immer nur Bruckstücke, und auch die Versuche neuer Auflagen sind nicht ganz unproblematisch, wie hier zu lesen ist. Als interessant und amüsant im Zusammenhang mit Ihrer Anmerkung empfinde ich die Äußerung von Christina von Braun zu einem Stichwort (Gliederungsprinzip der Encyclopédie): «[...] eines verwundert mich doch zutiefst. Du hast sie alle über Bord geworfen: die Pfaffen, den Weihrauch, das wundersame Geschehen bei der Konsekration der Hostie. Dennoch spürt man in jedem Satz, in jeder Volte Deines Denkens, wie tief Du in den christlichen Traditionen verwurzelt bist. Du betrachtest das Christentum als veraltet und abergläubisch – und zugleich sprichst Du von der Überlegenheit der christlichen Zivilisation gegenüber anderen Völkern und Religionen. Könnte es sein [...], daß Du nur eine modernere Form von Christentum im Auge hattest? Gib zu, alter Freund, eigentlich hast Du die Pfaffen nur deshalb vertrieben, damit Du Deine eigene Kathedrale bauen kannst! » Wie ich geschrieben hatte: man kannte ja nichts anderes. Je länger ich darüber nachdenke, um so näher komme ich der Assoziation Encyclopédie und Internet. Erstgenannte setzte die Kirche ja auf den Index. Und der Staat mißtraute dem auch ordentlich; in logischer Konsequenz hängten – heute würde man es so nennen – die etablierten oder auch staatstragenden Medien (sich mit) dran. Und so gesehen ist der Begriff Teufelswerk dann nicht mehr so weit hergeholt. – Eine weitere Parallele vielleicht: die Encyclopédie kannten damals auch nur wenige, weshalb sie ein paar Textfitzelchen lasen, deren Inhalte ihnen nicht gefielen und daraufhin das Ganze dann verurteilten mit entsprechenden gesetzlichen Konsequenzen ... Dem Volk war's auch damals wurscht. Das konnte nämlich, die nächste Parallele, nicht lesen. Deshalb unterschreibt es heute Sätze wie: Ja, ich stimme für das Gesetz gegen Kinderpornographie im Internet.
Auf Rousseau kam ich wegen der Äußerung von Frau Käßmann zu den Menschenrechten. Auf wen bezieht sich das Zitat von Christina von Braun?
Und wenn es gegen die Kirchen und die Intoleranz und die Dumpfheit geht, ist ja immer noch der begnadete Spötter Voltaire mit seinem Gott aus Teig, den es vor den Mäusen zu schützen gilt, einer meiner Favoriten; und natürlich Jacques le Fataliste. Der Gesellschaftsvertrag,
ja doch, der war mir irgendwie entschwunden. Ich sollte ab und zu mal nachdenken ...Christina von Braun? Das geht doch aus dem Link « zu lesen» hervor. Oder klicken Sie auch nicht so gerne? (Das bringt ja meine gesamte Dramaturgie aus dem Konzept ... Dabei habe ich mich in diesem Text bereits auf einen zurückgenommen ... Na gut, ist vielleicht auch nicht unbedingt ersichtlich.) Der begnadete Spötter Voltaire, ja doch, sicher. Aber es dürfte teilweise auch mit daran liegen, daß vieles sprachlich phantasievoll angereichert bzw. zwischen die Zeilen gepackt ist – was man eben auch erstmal können muß – im Hinblick auf eine mögliche Indexierung. Die Zensur hat bei ihm ja ständig zugeschlagen. Vermutlich haben das frühere deutsche Übersetzungen dann mit erledigt. À propos: Kennen Sie Flauberts Bouvard und Pécuchet? Ein großartiges Buch, prall mit Komik und hochaktuell, was die nach Wissen strebende neue Gesellschaft betrifft. Die Neuübersetzung hat offenbar die Urfassung zugrundegelegt bekommen. 3sat-Text macht Appetit.
Bouvard und Pécuchet habe ich gelesen, allerdings ist das so lange her, dass es fast so ist, als würde ich das Buch doch nicht kennen.
Und ja: ich bin dem Link nicht gefolgt, trotz des überdeutlichen Hinweises und so ist eine dumme Frage entstanden. Verzeihen Sie die Nachlässigkeit. Und zum Letzten: "die nach Wissen strebende neue Gesellschaft" darüber muss ich jetzt etwas nachdenken und nachlesen. Spontan schießt mir durch den Kopf, dass heute nach einem anderen Wissen gestrebt wird als im 18. und 19. Jahrhundert; aber um darüber sinnhaft reden zu können, fehlen mir die Kenntnisse. >> kommentieren Heißa...
...ich bin in Eile und habe leider keine Zeit, Ihren Beitrag ganz durchzulesen, habe nur einen Teil gelesen und die vielen Links erstmal gar nicht, aber er macht mir jedenfalls viel Spaß. Ich denke, morgen werde ich mehr Ruhe dafür haben.Zum Herrn Cosidetto (so weit bin ich gekommen)... ich kenne den Herren aus einem gewissen zeitgenössischen Roman, den ich in Kürze einmal vorstellen will. Gibt es eine literarische Vorlage für einen Herrn Cosidetto? Oder ist er eine Erfindung des zeitgenössischen Autors (ich nenne im Moment noch keine Namen)? Nein, ich bin nicht gestrandet. Es sind ja doch die Ufer, die gestrandet sind...^^
Verschiedene Dinge, die mir noch eingefallen sind:
1. Rousseau würde ich nicht unter die Kirchenkritiker rechnen. Zeit seines Lebens ist er zwischen den Konfessionen hin- und herkonvertiert, und seine Naturromantik hatte durchaus religiöse Züge. Mit den Menschenrechten würde ich ihn weniger verknüpfen, eher den Montesquieu. 2. Flauberts Bouvard und Pécuchet könnte eine schöne Urlaubslektüre werden; ich kannte die beiden noch gar nicht. 3. Auf der Suche nach dem Herrn Cosidetto treffe ich bei google Ihr Blog auf Nr. 1. À la bonne heure! 4. Um die Spannung nicht unerträglich zu machen, drucke ich einen Ausschnitt aus dem Text ab, wo der Herr Cosidetto beschrieben wird. Klar, Herr Cosidetto heißt Herr Sowieso, aber vielleicht gab es ihn schon in der Literatur, hätte ja sein können. Das zerhaut mir zwar ein wenig den Wyneken-Artikel, aber ich bin ja flexibel^^ Rousseau
ließe sich auch als Avantgardist der Romantik bezeichnen, von seiner Natursehnsucht und seiner Religiösität gleichermaßen ausgehend; beides spielte darin ja eine entscheidende Rolle. Aber er hat nunmal den Gesellschaftsvertrag erarbeitet. Und Kritik an der Kirche steckt da durchaus drinnen, zumindest insofern, als nicht einfach mal eben so jeder der Oberen mehr schalten und walten sollte wie zuvor. Aber Kirchenkritik bedeutet ja auch nicht gleich Religionskritik. Zu der Zeit ließ man den lieben Gott ohnehin nicht mal eben so einen guten Mann sein.>> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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