Gut Kirschen essen

ist zur Zeit. Nein — war. Es ist vorbei. Jedenfalls, was die feinen knackigen und knurpsigen tiefdunkelroten im Land kurz vor Hintersibirien betrifft. Mein Lebtag habe ich noch nie so viele davon gegessen wie in diesem sechsten Jahr meiner Teilansiedlung im ländlichen Obst- und Gemüseparadies. Einem Schaufellader gleich hatte ich mich zuvor bereits durch sämtliche Erdbeerfelder und Himbeersträucher Holsteins gearbeitet. Und nun bin ich von tiefer Trauer erfüllt.

Meine diesjährige Kirschen-Sucht schien am Sonnabend zunächst im Desaster zu enden. Am Nachmittag hatte die Büddenwarderin noch ein gutes Werk getan, indem sie einem der im Norden überall anzutreffenden Verkäuferinnen und Verkäufer einen früheren Feierabend ermöglichte. Sie hat einfach die Reste aufgekauft. Befeuert hatte ihren Kaufrausch — man hört und liest es ohnehin allenthalben, wie locker das Geld sitzt, wenn auch weniger für Lebensmittel; aber die Krise ist beendet — die Mitteilung, das seien die Reste, dann sei Schluß für dieses Jahr. Quasi Sommerschlußverkauf. Fünf Kilo waren es. Sie packte ein. Und bekam sie, des früheren Feierabends wegen, auch noch billiger. Sofort legte ich mich hinein. «Waschen!» meinte meine Aufpasserin auf mich. Pah, das dauert mir zulange und verwässert diesen unvergleichlichen Geschmack. Ist ja zudem kein Schweinegerippe dran. Da muß sogar der Pastis hintanstehen, den verschmähe ich dann. Diese Kirschendroge hat mich in völliger Abhängigkeit. Es wurden immer weniger. In der Sonntagsfrüh lag noch ein kläglicher Rest in einer Schale. Der entschwand im gierigen Frühstücksmaul. Ich grämte mich, daß wir den lieben, freundlichen alten büddenwarderschen Vermietern ein Schälchen hatten zukommen lassen. Ich wollte Kirschen, nichts als Kirschen. Es könne doch nicht sein, daß die mit einem Mal nicht mehr vorkämen da oben auf den Bäumen. «Die Stare», meinte die Vogelsehrliebhaberin, dabei fröhlich in mein entsetztes Gesicht hineinfeixend. Fortan, schwor ich, würde ich für die Ausrottung dieser diebenden Raubvogelart sorgen; es müßten ja nicht immer Wachteln oder Tauben sein. Sie machten ohnehin einen Höllenlärm, wenn sie in Scharen über die Bäume herfielen. Mir meine Kirschen stahlen.

Es könne doch nicht angehen, daß es keine mehr gebe, jammerte ich rum und schlüpfte in Hos' und Schuh'. Mehr als verdutzt fragte mich die Büddenwarderin nach meinem Begehr. Das war ihr noch nie vorgekommen, daß ich mich sonntags freiwillig außentürmäßig dreßte. Kirschen, stöhnte ich lustvoll. Auch am Montag wolle ich im Büro nichts anderes als Kirschen. An jeder zweiten Biege hier gäbe es Obstbauern. Da müsse doch einer in der Nähe noch ein paar in seinem Giftschrank versteckt haben. Mein mit gutem Orientierungssinn (ex oriente lux!) gepaarter Instinkt (neudeutsch: Bauchgefühl) ließ mich auch dieses Mal nicht im Stich. «Süßkirschen» verhieß ein kleines Schild in Richtung einer dieser hierzulande zahlreichen winzigen Sträßlein, die äußerst selten ins niemandes Ranch und meist zu mittleren Gehöften führen. Zwei, dreihundert Meter weiter dann: «Schattenmorellen.» Ich war so auf Droge, sogar diese leicht säuerlich nach Herbst klingenden, eher hellroten Gewächse hätte ich genommen. Aber: geschlossen. «Ab 27. Juli.» Weiterfahrt durch die Felder und die Auen. Riesige Pferdeäpfelzuchtstationen. Aber keine Kirschen. Dann irgendwann die Büddenwarderin: «Da, Kirschen!» Ein kleines Schild an einem weit abgelegenen Hof. Das Tor weit geöffnet, aber wochenendliche Stille. All meinen Mut nahm ich zusammen, der Geschmack von Kirschen verdrängte sogar meine übermächtige Angst vor Höfe hütenden Hunden. Nun gut, die Büddenwarderin, Schmieds Töchterlein seit sechhundert Jahren, gab die Avantgarde. Und tatsächlich, der Herr über die Kirschen stand vor uns. Und freute sich. Denn wir nahmen auch die geplatzten. Eine Kiste. Und eine mit Schattenmorellen gleich dazu, eildieweil: Hochgenuß an Pfannkuchen. Am Montag sei endgültig Ende, meinte der leicht bedröppelt dreinschauende Bauer. «Die Stare», nickte die Büddenwarderin heftig in ihrer fröhlichen Weisheit. «Nein», lautete die Entgegnung. «Der Regen.»

Er freute sich vermutlich in erster Linie dann ein wenig darüber, daß wir klaglos auch die geplatzten nahmen. Sie sind nämlich nicht zu verkaufen. Nicht nur der Groß- oder auch Kleinstädter mag sie nicht, ebenso der Landbewohner. Der hat seinen letzten Kirschbaum bereits zu Zeiten der Holzniedrigpreise auf dem Oster- oder Sonnwendfeuer verheizt und die Brombeer- sowie Johannisbeersträucher gleich mit und anschließend sein Grundstück grün betoniert. Macht alles Arbeit. Sie alle wollen zudem die edlen, in praller Jungfräulichkeit leuchtenden Früchte, keine mit Kerben und Schlitzen. Da zahlen Sie den doppelten Preis für die Elite unter den Kirschen. Auch wenn die geplatzten mindestens genauso gut schmecken und im vollen Saft stehen. Und geplatzt sind neunzig Prozent. Zehn Tage hintereinander habe es geregnet, meinte der Obstbauer, dabei ein wenig traurig nickend. Zwei Euro das Kilo hat er haben wollen dafür. Daß er trotzdem rauf muß auf den Baum, um sie runterzuholen für uns, danach fragt keiner. Das sind schon Verluste. Bereits die Erdbeeren waren ja recht angegriffen. So erklärte mir vergangene Woche meine ganz persönliche Züchterin Frau Antje jedenfalls den wesentlich niedrigeren Preis als beim Discounter. Bei ihr schmecken sie ganz besonders fein. Sie sind aber auch empfindlicher, da sie die Chemieindustrie nichts verdienen lassen will. Die Feuchtigkeit läßt sie auch rascher verderben. Also müssen sie schnell verkauft werden. Den Leuten ist das egal. Sie fahren trotzdem aus dem Dorf hin in den kleinstädtischen Supermarkt. Und dort gibt es sie schließlich das ganze Jahr. Sie schmecken zwar genauso wie Tomaten oder Paprika oder Kartoffeln. Aber sie sehen gut aus. Und garantieren überdies chemischer Industrie und Großgrundbesitzern das kärgliche Überleben.

Deshalb stellt sich auch die Frage, wozu wir in ländlichen Gebieten noch Bauern brauchen. Erd-, sowie Himbeeren oder Kirschen et cetera kommen doch ohnehin allesamt aus der spanischen Wüste. «Das Gejammer über niedrige Milchpreise können wir nicht mehr hören. Wir sind nicht dafür da, überkommene, nicht mehr zeitgemäße Industriezweige mit Almosen aus unseren Steuergeldern am Leben zu erhalten.»
 
Di, 28.07.2009 |  link | (4937) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache


nnier   (28.07.09, 10:17)   (link)  
Ach, wie sehr ich das verstehe. Man konnte mich mal nur mit Gewalt davon abhalten, eine große Dummheit zu begehen: Ein großes Stück Land mit heruntergekommenem (und ich meine heruntergekommenem) Bauernhof in ödester Umgebung zu kaufen, ohne dies auch nur annähernd finanzieren zu können, geschweige denn zu wissen, wovon ich in dieser Umgebung hätte Leben können usw. usw. - aus heutiger Sicht: Puh, Glück gehabt.

Grund meiner irrationalen Kauflust war die üppige Bepflanzung mit den schönsten Obststräuchern und -bäumen, und der Gipfel waren die zwei großen Kirschbäume, welche die Eingangstür säumten: Links und rechts die prallsten, dunkelroten, ach, schwarzen Süßkirschen meines Lebens, fleischig und groß und auf dem Höhepunkt ihrer Reifung.

Was waren dagegen schon eine verfallende Scheune, hundert Quadratmeter Asbestdach, aufsteigende Feuchtigkeit im Haus und die paar Hektar Land, die man wieder in Ordnung bringen musste.


jean stubenzweig   (28.07.09, 13:01)   (link)  
Vermutlich stehen auf
dem Grundstück nun ein paar wunderschöne Doppelhaushälften drauf, diseint by Überall in diesem schönen Lande. Die Besitzer wissen auch nicht, wovon sie in dieser Umgebung leben sollen. Weshalb sie auch wieder verkaufen müssen. Von der Sorte Verkaufsschilder gibt es, nicht nur in Holstein, weitaus mehr als die für Obst.

Nun ja, Sie haben Glück gehabt. Aber Kirschen haben Sie auch keine – «die prallsten, dunkelroten, ach, schwarzen ...»


vert   (28.07.09, 13:14)   (link)  
irgendjemand mus doch
sie ahnen gar nicht, was ich den ganzen sonntag gemacht habe:
die himbeeren wollten marmeladisiert werden.
und dann habe ich gesehen, dass die mirabellen reif sind (marmelade!).
die pflaumen brauchen noch (marmelade!!!); und dann kommen die birnen. und äpfel.
(kirschbaum vor zwei jahren umgefallen, leider.)


jean stubenzweig   (28.07.09, 13:15)   (link)  
Keine Zeit!
Ich muß in den Garten.


jean stubenzweig   (29.07.09, 06:40)   (link)  
Himbeeren marmeladisiert?
Ich weiß nicht so recht. So verkocht mag ich sie nicht so gerne. Auf kleinen Crèmetörtchen nähme ich sie schon eher. Am liebsten stecke ich sie mir jedoch frisch gepflückt in den Mund. Wie alle Früchte.

Aber ach! stöhnte gestern, nachdem ich auf Ihre Aufforderung hin runtergehüpft war, der Hüter unseres Obst-Parkes, der ihm auch noch gehört – wohin mit all den Johannisbeeren, Plaumen (die frühen sind schon da), Äpfeln, Birnen (allesamt ganz alte Sorten; na gut, die Äpfel versaftet er) und was sonst noch alles dieses Jahr, jetzt auch noch Sauerkirschen, fünf, sechs Bäume, alles voll. Sie könne gar nicht so schnell und so viel einkochen, seine arme Lucette, wie das Zeugs dieses Jahr wüchse. Bitte! rief er: nehmen Sie, nehmen Sie. Aber bei Ihrem heimatlichen Marmeladenaufkommen kann ich mir den Vorschlag der neuerlichen Anreise ja ersparen ...


nnier   (29.07.09, 10:25)   (link)  
Beim Beerenobst muss ich immer an meine fleißige Oma denken, deren köstliche Marmeladen ich als Kind (und später) ständig und bedenkenlos vertilgte, ganz abgesehen vom Eingekochten und den Säften. Dass der Vorgang des Einkochens mit viel Arbeit verbunden ist, wurde mir irgendwann klar. Dass sie erst noch tagelang am Waldrand und im Garten Brombeeren, Himbeeren usw. gesammelt hat, erst viel später.


jean stubenzweig   (29.07.09, 20:04)   (link)  
Ah! Brombeeren,
da fällt mir eben ein – auf der sonntäglichen Suche nach den süßen Kirschen bzw. einem Obstverkäufer sahen wir am Rand der kleinen Sträßchen unendlich viele Sträucher. Es könnte allerdings sein, daß man beim Pflücken recht malträtiert wird, da die Prachtücke sich nach hinten ins Dickicht verzogen haben.


vert   (29.07.09, 22:12)   (link)  
den marmeladisierungsvorgang hat man ja erst begonnen, nachdem man sich die wänste ausreichend gefüllt hat -bedauerlicherweise haben die beerlis eine gewisse halbwertzeit

anreise, mmh. johannisbeeren, pflaumen, birnen, äpfel, sagen sie?
vielleicht habe ich ja demnächst ein paar tage frei;-)


damenwahl   (28.07.09, 10:40)   (link)  
Ohhhhh. Sowas gibt es hier alles nicht. Nur Bananen, die aber auch gebacken. Erdbeeren. Erdbeerquark. Erdbeerschorle (mit Alkohol). Erdbeerwein. Johannisbeeren.... jetzt haben Sie meine Konzentration für den heutigen Arbeitstag ruiniert. Sehnsucht.


jean stubenzweig   (29.07.09, 06:41)   (link)  
Bananen?
Die gibt's ja sogar hier.


jean stubenzweig   (29.07.09, 13:09)   (link)  
Wenn das hier
so weitergeht, beginne ich Verständnis aufzubringen für den grünen Beton, der die Dörfer allüberall kennzeichnet.

Vor allem, nachdem ich gestern den (verbotenen) Scheiterhaufen zu vergrößern half (und mich der Rücken arg zwackt).


jean stubenzweig   (30.07.09, 18:06)   (link)  
Bauchgefühl et cetera
Meine Instinkte scheinen noch einigermaßen intakt.















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