Zeit ist Geld!

«Ein wenig erinnert mich das an das Aufkommen der Digitaluhren damals», schrieb mir dieser Tage ein lieber und freundlicher Hilfegeist aus dem Blogger-Dorf, den ich angerufen hatte, um an einem Elektroort der ständigen Zeitdokumentation den Garaus machen zu können, «als man plötzlich nicht mehr ‹halb zwei› sagte, sondern ‹13:32›, als ob das einen Unterschied machte.»

Nicht nur, daß mich das an Douglas Adams erinnert, an seine zauberhafte Geschichte vom Anhalter im All, in der er unter anderem eines der rätselhaften Attribute der irdischen Bewohner benennt: das um ein Haar leidenschaftliche Tragen von digitalen Armbanduhren. Gäbe ich mich dem Assoziationstaumel hin, landete ich dann zwangsläufig in der himmlischen Philosophenkneipe bei Michael Ende. Am dortigen Tresen würde ich ihm mal eben so im Vorübersitzen sagen müssen, daß seine Zeitdiebe zwar sicherlich passabel tituliert sein mögen, aber die Kinder vielleicht doch ein bißchen arg auf das christliche Beuteschema von hier dem Guten in Form von fröhlich Buntem und dort dem Bösen in deprimierendem Grau einfriert. Nun ja, so richtig totzukriegen war dieser Dualismus eigentlch nie, und diese Form der Kindheitsunterweisung nahm zu dieser Zeit ohnehin seinen gegenaufklärerischen didaktischen Lauf.

Dennoch war der Fortschritt nicht aufzuhalten. Was insofern naheliegend ist, als er das Leben schließlich doch einfacher machen sollte. Allerdings konnte Michael Ende, als er Momo verfaßte, nicht einmal ahnen, in welcher Weise die Zeit das einfache Leben überrollen sollte. Heutzutage reicht ja beispielsweise einer Hausfrau und Mutter so eine schlichte digitale Armbanduhr längst nicht mehr aus. Am Abend programmiert sie nicht nur den Eierkocher, die Brötchenback- sowie die Kaffeemaschine, da der Gatte morgens immerfort ruft Zeit ist Geld, dabei ständig auf die von Quarzen getriebenen Zeiger starrend; der Kunde wartet nicht auf seine Zertifikate, zumal die sich momentan sowieso irgendwie schleppend bewegen. Auch der Terminplaner im hochsicherheitsstählernen Automobil will gefüttert werden. Die Schulzeiten hat die jungdynamische Mutter noch im Kopf, auch ihre morgendlich Fit- und Wellnessübungen kann sie sich gerade noch merken, weil die Freundin immer pünktlich um neun zum Frühstück vor der Tür steht. Aber dann geht's los: 13:00 Jean-Luc von der zwanzig Kilometer entfernten Schule abholen (die fünfhundert Meter entfernte hiesige geht ja überhaupt nicht, bei den lahmarschigen Lehrern, bei Anna-Louise ist das was anderes, ist ja ein Mädchen, das setzt sich schon durch, aber abgeholt werden muß sie auch, bei der Kriminalität im Dorf); Jean-Luc 15:00 Tennis, Anna-Louise 15:05 Ballett, 15:25 Einkauf (Champagner für 20:00 nix vergeß!) Jean-Luc 17:00 Nachhilfe Mathe, Anna-Louise 17:20 Schach-Meistertraining, 19:00 Abendmahl, 20:00 Gäste, 22:59 Planer, 23:03 Kaffeemaschine, 23:05 Backofen programmieren. Die nicht ganz so begüterte Freundin, man kennt sich seit dem Sandkasten, hat sich so ein abgelegtes Gerät günstig aus dem Internet herausgeschossen und in ihren von der Abwrackprämie Ausgeschlossenen, da's für den Restkredit nicht gereicht hätte, an dessen Zigarettenanzünder gehängt. Damit wird für Lisa, Leonie und Lukas geplant: Cheerleader (Kinderjugendkultur), Eiskunstlauf auf Pferd sowie Vorschule zum Fernsehen. Leicht unangenehm ist es, daß es täglich um 17:45 laut und vernehmlich Lotto! piept, aber das läßt sich nicht abstellen beziehungsweise, was wichtiger wäre, auf Mittwoch und Sonnabend programmieren; die Software ist halt doch etwas ältlich, war aber günstig.

Zu Zeiten, als man noch mit Momo gegen die Zeit-Diebe kämpfte und die noch ungestraft dicke Zigarren pafften (die Cohiba wurde damals nur Staatsoberhäuptern und Hochdiplomaten auf den Bauch gebunden und war Fußballspielern noch nicht bekannt, die hatten noch anderes zu tun), zu dieser Zeit war ich für den Rundfunk unterwegs. Wem auch immer ich über den Äther etwas zurufen wollte, nichts war mit Gemächlichkeit — schon damals zeichnete sich die Rennerei ab. Um elf Uhr irgendwo die Pressevorbesichtigung einer Ausstellung mit dreihundert Gemälden und Skulpturen aus dreißig Ländern sowie drei Jahrhunderten, die vorzubereiten die Kuratoren drei Jahre gebraucht hatten — egal, um 14.00 Uhr war Sendung. Da mußte der erste Beitrag fertig sein, auf daß die Hausfrau beim Bügeln in 1'50 hochinformativ unterhalten werde zwischen Udo Jürgens und Peter Maffay; na gut, füllte man eben rasch auf mit ein paar O-Tönen, das entsprach ohnehin eher der gewünschten «Lebendigkeit». Für den Kulturbericht um achtzehn Uhr konnte ich dann ein klein wenig nachdenken über das, was ich da alles gesehen hatte, was am besten auf dem Weg zwischen Studio und Schreibstube zu bewältigen war, denn damals ging noch nichts per Telephon, der Hörer hatte ein Recht auf Qualität. Sicher, das war dann bereits der Einschalthörer, der in 4'00 Dezidierteres erwarten konnte. Das Kulturjournal um einundzwanzig Uhr mit seinen 7'30 bot dann einigermaßen Freiräume für den Austausch von eigenem und fremdem Wissen (und klammheimlichen Korrekturen). Geradezu angenehm wurde das Verfassen des Textes für die Zeitung, gesetzt den Fall, es war eine wöchentlich erscheinende und der Redaktionsschluß nicht am nächsten Tag. An einem solchen frühen mußte ich auch ran, wenn ich abends im Theater gesessen hatte. Denn der geneigte Radiohörer wollte schließlich morgens um sechs darüber informiert werden, was die alles so getrieben haben, während sie darauf warteten, daß Godot endlich käme. Damals trieb noch keine private Radiokonkurrenz die öffentlich-rechtliche an. Man wollte einfach aktuell sein. Eine sehr viel angenehmere Arbeit und sicherlich auch für den Hörer informativere, weil durchdachtere Tätigkeit war die, als ich, bevor ich das immer hetzigere Medium in Richtung ruhigerer Zonen verließ, Kulturkorrespondent fürs Ausland wurde. Da mußte ich mich dann nicht mehr weigern, um vierzehn Uhr auf Sendung zu gehen mit acht Minuten über eine (frühere als diese) documenta, die gerade erst eingeläutet worden war. Da hieß es dann: Keine Hektik, die Veranstaltung geht ja noch drei Monate. Denken Sie in Ruhe erstmal nach.

Das habe ich, als ich raus war aus diesem sich damals bereits abzeichnenden Aktualitätenwahn, als Lebensform schätzen gelernt. Sicher, auch danach konnte ich sogenannten Todeslinien nicht ausweichen. Aber es macht doch einen entscheidenden Unterschied, ob man für heute etwas errennt, das morgen nicht einmal mehr in der Kurzzeiterinnerung Platz hat, oder ob man etwas produziert, das möglicherweise in hundert Jahren noch gelesen wird. Deshalb will mir die Bemerkung auch nicht einleuchten, die vor ein paar Wochen ein geschätzter Leser auch meiner elektrischen Kladderei fallen ließ: «Rückwärts» lese er nicht. Das hieße dann, alles früher — und sei es gerademal vier Wochen her — einmal Aufgeschriebene habe seine Gültigkeit verloren. Weshalb sollten dann noch diese uralten Gedanken dieser ganzen Dichter und Denker gelesen werden?

Aber wer weiß, vielleicht liege ich ja ohnehin völlig falsch und bald liest überhaupt niemand mehr — der Mensch bekommt einen Chip eingeplanzt, über den die aktuellen Politiker-Affären (immer die der anderen) und nett aufbereiteten Regierungsverlautbarungen direkt ins Gemüt gezwitschert werden — alle fünfzehn Minuten die Nachrichten in hundert Sekunden, nach der Werbung. Dann braucht man auch keine digitalen Uhren und Planer mehr.

Und schon gar keine Weblogs mehr vollschreiben.
 
Sa, 22.08.2009 |  link | (5692) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten


nnier   (22.08.09, 23:08)   (link)  
Es ist mir peinlich, denn ich mag es nicht vor mir hertragen, das Nichttragen, ich sehe mich nun also ausdrücklich nicht beifallheischend um, nehme auch keine todesmutige Rebellenpose ein, und, hier sind meine beiden Hände, ich klopfe mir nicht mal selbst auf die Schulter. Es ist nur einfach so, dass ich keine Uhr trage. Und mich hat schon oft interessiert, wie das früher wohl war, als man den Tag noch nicht in Stücke gerissen hat. Merkte man, dass im Winter die Tage "kürzer" waren? Oder stand man nun mal auf, wenn's morgens dämmerte und ging schlafen, wenn es dunkel wurde? Eine Kulturgeschichte der Zeit sozusagen ist es, die ich gerne mal abends lesen würde. Ob es so etwas gibt?


jean stubenzweig   (23.08.09, 11:02)   (link)  
Seltsam ist das,
vor allem, nachdem Sie mich darauf stoßen – eigentlich sollte ich das ja wissen, aber so sehr ich auch in meiner Erinnerung krame, zur Zeit will mir partout keine (Kultur-)Geschichte einfallen; die des gleichnamigen Blatts habe ich getilgt. Vielleicht, weil die Zeit als solche mich nicht (mehr) interessiert. Und dann der Widerspruch: Ich gehöre wohl zu den pünktlichsten Menschen überhaupt, vermutlich wurde mir das – als Höflichkeit, der Zivilisation gegenüber? – anerzogen; ich erinnere mich nicht so genau daran, möglicherweise habe ich es verdrängt. Vielleicht hatte ich deshalb eine Zeit, in der ich sie quasi gesammelt habe, in (wohlgestalteter) Form von Uhren, allesamt einer Marke. Im Rückblick stelle ich jedoch fest, daß ich sie zwar nach wie vor trage, sogar nachts, weil ich mich ohne Uhr wie nackt fühle, aber so gut wie überhaupt nicht mehr daraufschaue. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein und mein Blick hängt aus Gewohnheit an den Zeigern. Auf jeden Fall hat sich meine Beziehung zur Zeit (in jeder Hinsicht) völlig verändert, seit ich auch geistig Südeuropäer wurde (was allerdings auch mit diesen Geschehnissen vor mittlerweile elf Jahren zusammenhängen dürfte). Machte mich das früher schier wahnsinnig, auf jemanden warten zu müssen, so harre ich heute gelassen dessen, der da kommt oder auch nicht. Allerdings gilt das nur für den Süden, im Norden bricht sich die mit Ungeduld erwartete Pünktlichkeit immer wieder mal Bahn. Vermutlich liegt das an geoklimatischen Lage, in der sich Gene sowie Sozialisation immer wieder durchsetzen.

Insgesamt fühle ich mich bedeutend wohler, seit ich keinerlei Termine mehr mache, machen muß. Glücklicherweise war ich auch früher, also etwa seit Mitte der achtziger Jahre, nahezu immer in der Lage, mir die Zeit einteilen zu können (siehe oben). Und wenn's denn doch geschieht, daß ich verabredet bin, dann fahre ich so früh los, daß es zu keiner Verspätung kommen kann; auch Bahn, Bus und Fluzeug warten nicht auf mich. Auf jeden Fall genieße ich es sehr, von nichts und niemandem mehr zu bestimmten Zeiten gedrängt zu sein. Zwar gilt für mich keine Hellig- oder Dunkelheit, aber ich gehe schlafen, wenn's meinem Körper nach Dunkelheit ist. Dem – man nennt es wohl Biorhythmus – hat sich meine Produktivität unterzuordnen.

«Der Mond, sagt Jörg Rüpke, ist ein sehr demokratischer Zeitgeber. Jeder kann sehen, wo der Mond steht, und die Zeit überprüfen. ‹Wir treffen uns bei Vollmond›, so lautet eine alte Verabredung für Feste – und niemand ist davon abhängig, darüber informiert zu werden, wann dieser Vollmond wohl stattfindet. Anders mit der Sonne: Es ist viel schwieriger, den genauen Zeitpunkt von Sonnenauf- und -untergang zu bestimmen, hier sind Spezialisten gefordert – und Spezialisten verfügen immer über eine besondere Macht innerhalb einer Gesellschaft.»


terra40   (14.02.11, 18:54)   (link)  
Zeitig zeitlos
Wie Sie vermuten, teile ich ihre Ansichten über die Zeit im allgemeinen und die Zeitzwänge ins besondere. Und gewiß, es kommt noch soweit, daß sogar der neue Staubsäuger und der Zigarettenanzünder nicht ohne Digitaluhr auskommen.
Verzichten auf Zeitangaben bedeutet in der Tat nicht daß man auf Pünktlichkeit verzichtet. Genau wie Sie bin ich bei Absprachen und Terminen (immerhin etwas) pünktlicher wie früher da ich noch eine Armbanduhr trug.


edition csc   (15.02.11, 17:48)   (link)  
Die Sonnenuhr
sollte wieder eingeführt werden. Das wäre doch hochmoderne, quasi nachhaltige Technik und würde die Ausbeutung wichtiger Ressourcen zum Beispiel in der Schweiz reduzieren.


jean stubenzweig   (16.02.11, 08:01)   (link)  
Aus dieser Quelle
habe auch ich schonmal geschöpft. Im Rahmen meines Zeit-Sammel-Wahns mußte es selbstverständlich auch eine dieser Armbanduhren sein, die Herr Hayek in den Achtzigern, es mögen auch die Neunziger gewesen sein, der documenta-Geschäftsführung für ihren Devotionalienmarkt andrehte. Auch ich meinte seinerzeit, auf diese Weise unbedingt zum Wirtschaftswachstum beitragen zu müssen. Da ich mittlerweile so zeitvergessen bin, weiß ich nicht, in welcher Schublade meines Fundus' die Uhr ruht. Es war allerdings ohnehin eines der Nebenprodukte meines Uhrenticks – dem dieser kleine Altar gewidmet ist:




frau braggelmann   (16.04.11, 01:12)   (link)  
lug und trug ist das doch alles ! mich mit einer ihren atomuhren beglücken, die dann mit den meilern abgeschaltet wird ! die zeigt keine sommerzeit an !!! da wird man ja zeit-los. in meinem alter !!!


jean stubenzweig   (16.04.11, 22:38)   (link)  
Handarbeit! Selber heizen.
Das ist noch eine mit diesem braunschen Diesel betriebenen Uhren. In solchen Kraftwerken gibt es keine Sommerzeit, die sich von Atomen gelenkt quasi autark justiert. Denen muß man noch sagen, wo die Zeit hingeht.















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