Die neue Gier nach Neuem


Angesprochen habe ich's immer wieder mal, versucht, es anzutippen in der Hoffnung, das Denkdackelchen in der Hutablage des Kopfes würde lächelnd oder sonst irgendwie zu nicken beginnen. Die Begriffsgegenüberstellung habe ich auch bereits ausprobiert, nach Neu- und altgierig kam tatsächlich einige Bewegung hinein. Aber die Welt habe ich sozusagen natürlich wieder nicht bewegt damit — immer wieder vergesse ich, was ich seit einigen Jahrzehntchen weiß und woraus ich eigentlich beruflich die Konsequenz gezogen hatte: der Welten Lauf läßt sich durch Mahnen und Warnen nicht verändern. Die Kugel zieht unaufhörlich ihre Bahn, wie die Deutsche ihre auf dem Weg in die Zukunft, wenn die Störungen letzterer möglicherweise genau dadurch bestimmt sind. Es wird nur noch nach vorn geblickt. Deshalb heißt das, was früher mal Wißbegier genannt wurde, heutzutage unverbrüchlich Neugier. Letztere Bezeichnung habe ich als eindeutige Negativbewertung gelernt. Nach Neuem gierte beispielsweise der heimlich durch die vorhanglosen Fenster starrende Nachbar, vermutlich, weil er diese Transparenz als ein Zeichen religiöser Reformation deutete und hoffte, dahinter vielleicht doch ein wenig Sünde zu entdecken, was ihm selten gelang, da es hinter dreckigen Gedanken nicht allzuviel Unmoral zu erblicken gibt. Neugier, das brachten mir meine Deutschlehrer bei, ist die unterste Stufe, Neues sehen zu wollen. Die Wißbegier(de) hingegen sei an keine Aktualitäten gebunden, im Gegenteil, das sei der Blick in eine Vergangenheit, die auf Erfahrung basiere. Nun ja, es ist die Erfahrung anderer, und die scheint zusehends mehr zu langweilen. Geschichte, wen interessiert denn dieser verstaubte Kram?

Ende der neunziger Jahren sprach eine nicht unbedingt alte Dame aus dem Vorstand eines zu dieser Zeit mit führenden deutschen Kunstvereins einmal von der «eingeschränkten Halbwertzeit». Es ging um die Planung einer Ausstellung über das Informel, auch über die Situationistische Internationale. In diesem Zusammenhang erwähnte sie einen Künstler, der dabei maßgeblich mitgewirkt hatte, im deutschsprachigen Bereich sogar zu dessen geistigen Vätern zählte (Mütter hatten damals noch hinterm Herd zu stehen). Der als Kapazität geltende und deshalb eigens aus dem Ausland geholte künstlerische Leiter dieser Institution kannte diesen Mann nicht, dem auch als Publizist zumindest unter kunstbewegten Menschen ein Ruf, im besten Wortsinn, wie Donnerhall vorauseilte. Er hatte sich allerdings nicht nur aus dem Kunstmarkt herausgehalten, er hatte sogar mit brillanten, teilsweise streitschriftartigen Essays kräftig dagegengehalten. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, daß der immer nach vorne blickende Direktor dieses Kunstvereins diesen Namen noch nie gehört hatte. Der andere Grund ließe sich in der «eingeschränkten Halbwertzeit» erblicken, denn zu dieser Zeit setzte der unwiderstehliche Drang ein, die neuere Kunstgeschichte ab dem marktgewordenen Andy Warhol neu schreiben zu wollen oder überhaupt erst beginnen zu lassen. Das postmoderne anything goes oder auch Alles ist machbar, Herr Nachbar spülte alles davorliegende Moderne in die Abwasserkanäle der Vergangenheit.

Gestern abend wurde in Kulturzeit von 3sat über eine Trauerfeier zu einem in jüngster Vergangenheit schlimmen Ereignis berichtet. Nein, das Gedenken zum Einjährigen war nur der Aufhänger — wenn ich auch zu beobachten meine, der Boulevard spiele sich auch in diesem Fernsehfeuilleton zusehends in den Vordergrund — für ein Buch. Ich habe es nicht gelesen und kann deshalb nicht beurteilen, inwieweit die Autorin neue — also auf Altem basierende — Erkenntnisse eingebracht hat. Doch darauf dürfte es auch nicht ankommen, handelt es sich dabei doch in erster Linie um Trauerarbeit. (Dabei fällt mir der Begriff Erinnerungsarbeit ein, nach meinem Wissen geprägt in den Anfängen der Achtziger von Wolfgang Ruppert, der auf diese Weise die Menschen aufforderte, auf ihre Dachböden der Vergangenheit zu steigen, um der Gegenwart näher zu kommen.) Die Verfasserin hatte das Buch zum Anlaß genommen, über den Tod ihrer vor einem Jahr ermordeten Tochter hinwegzukommen, die als Referendarin an dieser Realschule tätig war, also angetreten war, Kindern das dringend benötigte Wissen zu vermitteln. Im begleitenden filmischen Beitrag wurde deutlich, worauf sie die Ursachen für Gewaltausbrüche wie die sich allüberall häufenden zurückführt. An offenbar vorderster Stelle steht für sie dabei der ungeheuerliche Druck, dem die Kinder bereits vom Kleinstkindalter an ausgesetzt sind. (Selbstverständlich wurde einmal mehr zur Bestätigung dieser Erkenntnis ein Experte ins Bild gesetzt, vermutlich, weil einem das sonst niemand glaubt oder weil wir uns alle so an die Fachleute gewöhnt haben und es deshalb nicht mehr ohne sie geht.) Alle Welt hat nach vorne zu schauen, als ob die Kugel sich immer schneller drehte. Das Glück dieser Erde liegt in der Zukunft — oder in der Hoffnung, mittels dem, was heutzutage Bildung genannt wird, es doch noch zu schaffen an den Zenit des beruflichen Spezialisiertseins (von dem Arnold Gehlen vor vielen langen, eben zurückliegenden Jahren noch schreiben durfte, er sei spezialisiert auf das Nichtspezialisiertsein).

Neugierig leben, wird seit einiger Zeit verführer- oder auch aufforderisch hineingeblendet in mein heiß- und manchmal auch haßgeliebtes Blütensternengärtchen, in diesen überwiegend von mehr oder minder tänzelnden Damen moderierten «Fernsehanstalt gewordenen Zen-Buddhismus». Glücklicherweise tut man dort meistens nur vordergründig so, als ob es nur hinter gelifteten oder gar keinen Vorhängen auf der Alm koa Sünd' gäb'; gleichwohl dem neugierigen Affen tatsächlich seit langem auch dort vermehrt ordentlich Zucker gegeben wird. Aber wer wißbegierig ist, bekommt dort, mehr als anderswo auch im Sinn von Sendezeit, seinen Teil ab vom großen Erfahrungskuchen, da häufig tiefschürfend zurückgeblickt wird in eine Vergangenheit, die Zusammenhänge erfassen, die eine Entstehungsgeschichte namens Gegenwart und damit auch Zukunft erkennen läßt. Es müssen wahrlich nicht immer nur hundert Jahre alte Bücher sein, aus denen Wissen zu beziehen ist; das mit der Wahrheit ist ohnehin eine Sache für sich. Ein bißchen was ist schließlich auch in der Wirklichkeit danach passiert, was sich im einen oder anderen später erschienenen Druckwerk spiegelt. Aber mit Neugier hat das, nach meinem Verständnis, eher weniger zu tun. Wie will ich beispielsweise eine digitale Revolution* verstehen, wenn ich von der industriellen nichts weiß? Manchmal ist es durchaus von Vorteil, auf den Dachboden der Erinnerung zu steigen. Auf meinem liegt sozusagen nur Altgier herum, mit der ein neugieriger Nachbar seine Lust nicht befriedigt bekommt. Aber ich kann damit lustvoll in Erkenntnisse eintauchen, weil jeder Blick sie erneuert.
 
Fr, 12.03.2010 |  link | (3210) | 11 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten


jean stubenzweig   (12.03.10, 13:23)   (link)  
*Fußnote für mich
und die Welt: Was soll daran eigentlich revolutionär gewesen sein? Die industrielle hat doch einige Zeit gebraucht, war also keine schnelle Umwälzung in dem Sinne, wenn auch mächtig gewalzt wurde, und mit der digitalen ging es auch nicht von heute auf morgen. Andererseits sind bei beiden Köpfe gerollt. Wenn auch in der Regel die der anderen. Was so auch wieder nicht stimmt. Die Elektroniker haben sich teilweise selbst enthauptet nach ihrem Tanz um die goldene Blase.


kid37   (13.03.10, 01:07)   (link)  
Halb-OT, vielleicht: In der Kunstzeitung gab es gerade einen hübschen, bösen Veriss von Klaus Honnef über die "Kulturzeit". Über den Boulevard, die elenden unpassenden Kameraeinstellungen, den Hang zum Politisieren, statt eines Auftrags zur Kunstvermittlung. Zur Betrachtung. Stattdessen, Sex & Crime. Erst war ich pikiert, ich schaue diese Sendung gern. Aber es stimmt, es fehlt häufig eine gewisse Tiefe, ein Anerkennen für das, was wirklich wichtig wäre, jenseits von Markt- und Zirkusattraktionen. Neugierde z.B.


jean stubenzweig   (13.03.10, 12:45)   (link)  
Am gedruckten Feuilleton
der besseren Sorte mag's liegen, dem man sich möglicherweise annähert. Denn das ist ja nach wie vor sozusagen vorbildlich. Dort wird ja seit längerer Zeit immer mehr politisiert. Seit langem habe ich den Eindruck, da würden zunehmend Texte hineinversenkt, die auf der Politikseite als ungebührlich oder ungeeignet erachtet werden. So gesehen wäre auch die oben erwähnte «Buchbesprechung» in Kulturzeit vom Mittwoch zu bewerten, in der es nicht um Literatur ging, sondern um das gesellschaftliche Phänomen zunehmender Gewalt, hier durch Jugendliche. Bei genauerer Betrachtung, also im Sinn von nicht nur Hochkultur, gehört aber gerade das dort hinein. Da gehen die Meinungen auseinander.

Aber auch ohne Honnefs Artikel gelesen zu haben (ich werde es nachholen), möchte ich ihm zumindest teilweise zustimmen, nicht zuletzt im Wissen um seine Intentionen, die ich seit bald dreißig Jahren kenne. Ihm fehlt der eigentliche Anlaß, der früher deutlich mehr Beachtung fand: die Künste selbst, die Einzelheit als solche sowie die Beschäftigung mit ihr. Er hat das immer wieder mal formuliert, unter anderem in dem 1999 innerhalb der aica-Schriftenreihe erschienenen Bändchen Wege zur Kunstkritik. Ihm – wie mir – sind diese Nebenkriegsschauplätze ein Greuel, auf denen die eigentliche Sache, die Kunst und deren kritische Vermittlung im Sinn von Auseinandersetzung mit ihr, immer kürzer treten muß. Dazu trägt eben auch dieses Fernsehgeschlendere auf dem Boulevard bei. Dieser Tage erst haben wir im kleinen Kreis erörtert, daß es beispielsweise zur Berlinale in diesen ganzen Kultursendungen fast ausnahmlos Schönheiten auf roten Teppichen zu sehen gab, unter die die Informationen gekehrt worden waren. Wollte man mehr wissen, war man gezwungen, auf Sondersendungen auszuweichen – in denen es zunächst auch wieder erstmal Geflitter und Geglitter gab, bevor es zur Sache ging, die dann oft genug in Interviews mit Stars und Sternchen mündete, die Moderatorin vorne gerne hochkulturell züchtig, andererseits aber auch schonmal mit Maurerdécolleté, damit's nicht ganz so fade wird (für mich).

Angefangen hat das meines Erachtens mit dem TV-Feuilleton Capriccio des Bayerischen Fernsehens, wenn ich mich recht erinnere etwa seit Beginn des Jahrtausends. Nun gut, der Begriff als solcher bezeichnet ja die Abweichung von der akademischen Norm, die gleichwohl in gewisser Weise auch abgedankt wurde. Aber ich halte ihn dennoch für ein Deckmäntelchen. Denn die Tendenz ist, jedenfalls für mich, unverkennbar – auch bei arte-Kultur oder in den regionalen Magazinen der Dritten Art wird's immer eventiger. Womit ich dann wieder bei der bildenden Kunst als Parallele angelangt wäre.

Die Entwicklung zur schnieken abendlichen Galavorstellung, bis hinein in die Museen, ist unverkennbar, und nicht erst seit gestern. Inhalte, um die es Klaus Honnef gehen dürfte, werden kaum noch erörtert. Kunst oder das, was vielen als solche vorgebetet wird, ist – das muß nun nicht dessen Meinung sein, aber ich sehe das seit langem so – zum Ersatz von Religion verkommen. Oder die erlebt auf diese Weise ihre Renaissance. Irgendwas geglaubt wird immer. Der Fetisch hat in diesem Brimborium ja Tradition. Na gut, auch der kann Kunst sein. Wie der schöne Schein bei den fehlgeleiteten Winckelmann-Adepten: innen alle hohl.

Ich will ja nun dem Feuilleton wirklich nicht den Hahn zudrehen, zumal ich es recht gerne mag, wenn auch mal etwas aus anderer Perspektive ausgeleuchtet wird, und da gehören die politischen Aspekte nunmal dazu. Aber in einem muß ich Honnef zustimmen: Der Verlust der Sache an sich in den Kulturmagazinen zugunsten des Drumherums, hier bei Kulturzeit, ist unübersehbar geworden.


kid37   (17.03.10, 14:49)   (link)  
Capriccio (was ich nicht kenne) wird sogar als eine auf eigentümliche Weise "rühmliche" Ausnahme gelobt. ("...ausgerechnet ein Magazin mit bekennendem Hang zum Boulevard"). In derselben Februarausgabe der Kunstzeitung gibt es auch eine bissig-böse Polemik von Bazon Brock gegen die "Kunsthostessen" genannten "ahnungslosen" "Feuilleton-Damen" von SZ und FAZ. Möglicherweise kommt es sogar mal wieder zu Debatten, wie schön.


jean stubenzweig   (18.03.10, 14:57)   (link)  
Bazon Brock nimmt,
wie immer wieder mal ganz gerne, die breitstreuende Schrotflinte; eines dieser Kügelchen trifft eben immer.

Ja, die Eventberichtsverwaltung hat zugenommen, auch ließe sich sagen, die neuen Journalisten breiten sich auch in der Kultur zusehends aus, also diejenigen, die von den Journalistenschulen kommen, die immer häufiger erst gar kein akademisches Studium mehr absolvieren, also kein spezielles Fach mehr wählen, nicht zu vergessen die von der Ausbildung ähnlich geprägten sogenannten Kunstwissenschaftlerinnen, deren doch eher bescheidenere Nachschulung im Sinn von Wissenschaft eine Mischung aus allem möglichen, verstärkt mit BWL darstellt. Das könnten jene «Kunsthostessen» sein, die jung, agil und uniformartig gewandet auch auf den anderen Kulturveranstaltungen tanzen. Nicht nur vom Äußeren her gab es die allerdings auch schon in den Neunzigern, als die neunundneunzig Luftballons des Kunstmarktes gen Himmel stiegen, zu dieser Zeit eher als Kunsthistorikerinnen, wenn auch mit Promotion über einen Feld-, Wald- und Wiesenmaler, aber oft genug in der Nähe des schönen Bazon, als er noch nicht über siebzig war. Heute sind es eben diese überall, auch auf PR-Veranstaltungen einsetzbaren Kunstwissenschaftlerinnen (die Uni Lüneburg hat damit angefangen) oder Bachelors, und sie sind preiswerter zu haben, für die Verlage, mit ihrem vor einiger Zeit entwickelten Faible für Praktikantinnen. Allzuviel hat sich nicht geändert, bis auf die früher eher akademisch geschulte Bereitschaft vielleicht, sich intensiver mit einzelnen Themata zu beschäftigen, entgegen der heutigen Tendenz, sich mehr dem Allgemeinen zu widmen. So häufen sich die Fehler, zumindest die Ungenauigkeiten. Vor allem in den Redaktionen.

Andererseits waren auch früher, damit meine ich die letzten beiden Jahrzehnte, auch in den Redaktionen nicht immer nur die Experten am Werk, wenn die großen Blätter sich auch immer ausreichend Personal geleistet haben, was dem Ende entgegen zu gehen scheint. Ohnehin hat man sich dort – im öffentlich-rechtlichen Bereich auch heute noch – immer wieder mal die Autoren von außen geholt, und seien es ehemalige Redakteure, die sonstwohin abgewandert sind. Aber selbst dann war das nicht immer die Wahrheit, die veröffentlicht wurde, und an der Wirklichkeit schrammte es auch so manches Mal vorbei. Auch Bazon hat daran nichts geändert, der «Schwätzer», der seinen Schimpfnamen kultivierte, dem auch nicht alle Zeiten ungeteilte Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, obwohl er grundsätzlich davon ausging, rechtzuhaben (Ludwig Seyfahrt hat ihn mal in einem Vergleich mit Clement Greenberg beachtenswert portraitiert). Sicher, immer wieder mal mußte ich ihm zustimmen, durchaus gegen die Meinung anderer. — Zum Streiten war er allerdings immer aufgelegt. So würde auch dieses Mal sein, könnte man meinen. Schließlich ist es ruhiger geworden um ihn, seit er überall in Rente geschickt worden ist. Was man bedauern kann. Weil mit ihm immer wesentlich mehr los war.

Hier aber geht es wohl um anderes. Die beiden Damen, auf die Bazon Brock losgeht, gehören nicht gerade zu dem Kreis der Generation Praktikum, der über keine sonderlich weitreichenden Interessen und Perspektiven verfügt. Catrin Lorch und Julia Voss haben als Kunstkritikerinnen durchaus bereits einiges auf den Weg gebracht. Sie sind lediglich anderer Meinung als er, und das durchaus fundiert, hier in Sachen Markus Lüpertz, kürzlich retrospektiert in der Bonner Bundeskunsthalle, als dessen Apologet der rhetorisch überqualifizierte Brock einer Art Stahlhelm-Fraktion vorsteht, die sich nach wie vor als Avantgarde sieht, obwohl der Blick in jeder Hinsicht nach hinten gerichtet zu sein scheint. Man darf über «Malerfürst» Lüpertz denken, wie man mag, auch über dessen Kunst. Aber andere deshalb mit ziemlich unfeinen Begriffen einzuschroten, das läßt unter Umständen nicht nur auf Prostatabeschwerden schließen.


g.   (13.03.10, 08:00)   (link)  
Wenn man Revolution definiert als Umwälzung der Verhältnisse, Werte und Vorstellungen, gab es weder eine industrielle noch eine digitale Revolution (höchstens eine Französische), sondern lediglich technische Entwicklungen über deren Beschleunigung und Geschwindigkeit sich trefflich streiten ließe. Die industrielle Revolution vollzieht sich seit ca. 150 Jahren und ist bisher zu keinem Ende gekommen, könnte man mit guten Argumenten ausführen und die digitale wird sich auch noch einige Zeit hinziehen. Woher kommt nur dieses wahnhafte Bedürfnis alle Nase lang ein neues Zeitalter auszurufen? Ein klein wenig Unaufgeregtheit täte Not. Ich werde mich, glaube ich zumindest, künftig nur noch bei der Arrièregarde einreihen. Da kommt man auch nicht in die Versuchung einem Pfingsterlebnis zum Opfer zu fallen, wenn man an der Bushaltestelle gesehen wird.


jean stubenzweig   (13.03.10, 11:42)   (link)  
Arrière-garde !
Genau. Das ist es. Hinterhertippeln. Besser noch: hintanstellen. Gelöst, ohne Befehl, stillzustehen. Da erwischt es einen nicht so schnell, wenn's rummst beim nicht nur digitalen Revolutionieren der anderen. Und schon gar nicht am Tête. Jedenfalls nicht, wenn man ohnehin nicht zu den Größten gehört.

Dachte ich mir's doch. Einer würde da schon den Überblick behalten. Sie haben mir den Tag gerettet. Oder vielleicht gar die Zukunft. Denn warten müssen wir ohnehin. Nicht nur an der Bushaltestelle auf ein Pfingsterlebnis. Sondern auch auf bessere Zeiten.


nnier   (13.03.10, 14:56)   (link)  
Interessant finde ich es, wenn aus der Beschäftigung mit dem Alten dann etwas ganz Neues entsteht. Ich muss da mal wieder Robert Crumb nennen: Der kannte seine alten Meister, zunächst die aus der Comicwelt - weshalb die Leser seiner frühen Zap-Comix auch ganz irritiert waren, weil sie hier auf geradezu archaische Comic-Elemente stießen, allerdings in einem völlig neuen Kontext. Aber je mehr man sich mit ihm und seinem Werk beschäftigt, umso mehr sieht man, wie intensiv er sich dann auch z.B. mit Schraffurmeistern wie Thomas Nast beschäftigt hat. Und so weltflüchtig und nostalgisch seine Liebe zum "Alten" (womit auch Produktverpackungen der 30er, Schellackplatten aus dem frühen 20. Jahrhundert und so weiter gemeint sind - also eher die weniger "hohe" Kultur) auf manche wirken mag: Ich kann ihm nur aus vollem Herzen zustimmen, wenn er von seiner Begeisterung über diese kulturelle Vielfalt und seiner Trauer über deren Verlust spricht. Da gibt es diesen (mal wieder autobiographischen) Comic, in dem man ihn selber sieht, mit der Lupe vor den Augen über ein altes College-Jahrbuch(?) gebeugt, mit der Denkblase: "Die Leute sahen damals anders aus - aber wie? Warum?"


jean stubenzweig   (15.03.10, 17:04)   (link)  
Wenn Crumb die Vergangenheit
durchforstet, bilden sich, da er, wie von Ihnen beschrieben, nicht rein rückwärtsgewandt operiert, dank neuer Perspektiven immer neue Erkenntnisse heraus. «Etwas ganz Neues»? Meines Erachtens gibt es das nicht. Wobei das vielleicht tatsächlich zunächst einmal definiert werden müßte. Ich gehe davon aus, daß es dabei deutlich unterschiedliche Meinungen gibt. Möglicherweise werden der naturwissenschaftlich Orientierte oder der eher der Technik Zugewandte – die nicht unbedingt Akademiker sein müssen – eine gänzlich andere Auffassung von Neuem vertreten als diejenigen, die in allem eine historische Basis beziehen. Denen wird eine Revolution rasch zur Evolution. Da mögen noch so viele Köpfe gerollt sein, die Geschichte holt sie, nicht nur in Frankreich, alle wieder ein. Aber eben mit neuen Erkenntnissen – auf die aufgebaut werden kann. (Neues, dem Innovationenmagazin von 3sat, entnahm ich, daß es mittlerweile ein Computerspiel gibt, mit dem man mittels Nachspielung napoleonischer Schlachten die Entwicklung von Gesellschaften, und das sogar als «empehlenswert» deklariert, besser nachvollziehen oder gar lernen kann. Meinem Verständnis von Welt entspricht das nicht [mehr?]).

Also, dabei an das von Ihnen geschilderte Vorgehen Crumbs denkend: ohne Wissen um das bereits Geschehene keinen fundierten Blick nach vorn. Demzufolge wird ohne die Beschäftigung mit dem Alten Neues gar nicht entstehen. Jedenfalls keines, das durchdacht ist. Wobei nicht zu vergessen ist, daß viele Menschen nur deshalb meinen, etwas sei neu, weil sie nicht wissen, daß es längst dagewesen ist. Und damit meine ich nicht nur den Herrn Kunstzirkusdirektor, der seine Hausaufgaben nicht gemacht oder schlicht in der Schule nicht aufgepaßt hat und deshalb nicht weiß, daß das, was er als «revolutionär» Neues attestiert, gerade mal wenige Jahrzehnte zuvor die Geschichte der Kunst vorangetrieben hat.

Um nicht allzusehr im Unverständlichen herumzuschwurbeln: Ende der Achtziger haben tatsächlich jüngere Künstler das Urinal titels Fontain oder den Weinflaschentrockner von Marcel Duchamp als Kunstwerk insofern neu erdacht und nachgebaut, als sie meinten, daraus ein sogenanntes Multiple machen zu können; das kam damals unter diesem Begriff auch gerade neu in Mode. Daß es den Intentionen und auch vielleicht auch Intensionen dieses Vorläufers der concept art nicht unbedingt entsprach, berührte die jungen Leute eher weniger. Sag ich's mal so, nach meinen Gesprächen mit ihnen: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Seitdem wundere ich mich in der Kunst und ihrer ganz neuen Geschichte über nichts mehr. Bereits in den Achtzigern begann es, daß an bislang eher altverknarzten Kunstakademien die Neuerung damit einsetzte, Drittsemestern das Verhalten am Kunstmarkt zu lehren.

Heute ist das Hochkultur. Als es entstand, war es, dafür nehme ich jetzt einen nach wie vor aktuellen Begriff: Subkultur. Der war mal negativ besetzt. Das ist er schon lange nicht mehr. Genauer: Es dürfte ihn eigentlich nicht mehr geben, seit es keine Hoch- oder Niederkultur mehr gibt. Das ist zu verstehen unter dem Aspekt Hoch- bzw. Niederwild. Das hohe Wild durfte nur jagen, wer der gehobene Klasse, dem hohen Adel angehörte. Das Kleinvieh gehörte dem niederen Adel, also dem, der nicht eingeladen war, bei den rauschenden Festen bei Hofe anwesend zu sein. Was blieb, war die Klasse, welche auch immer, weshalb es immer eine geben mußte, die darunter lag. Also wurde noch eine darunter gesubt. Daß die sich selbst(bewußt) durch sich selber definierte, wurde jeweils ein Stufe weiter oben gerne ignoriert. Bis sie vom Konsumismus in Beschlag genommen wurde. Von da an wurde sie von allen Klassen akzeptiert.

Aber daß Crumb und andere weder Hoch noch Nieder, sondern einfach Kultur sind, das zu wissen, habe ich eine Weile gebraucht. Irgendwann habe auch ich die schlichte Formel von Herrn Brockhaus anno 1905 oder später noch begriffen: Kultur ist die Gesamtheit der Lebensäußerungen (eines Volkes). Vermutlich wußten Sie's vor mir. Das hat keine Klasse, das ist. Daß der und andere einem wie mir Lichter aufgehen lassen, das ist Kultur. Aber in jedem Fall hat sie Geschichte.

Sollte ich Sie, bester Nnier, mißinterpretiert haben, dann bleibt das dennoch Kultur.


nnier   (16.03.10, 10:03)   (link)  
"Ganz neu" - das schreibt sich so dahin, da haben Sie recht. Natürlich meine ich das nicht in dem Sinne, dass da etwas vom Himmel oder sonstwoher gefallen ist. Und je eingehender man sich mit etwas beschäftigt, umso mehr bemerkt man, wo dessen Wurzeln und Quellen sind. In der Kunstwelt kenne ich mich nicht so gut aus, aber ähnlich wie in dem von Ihnen verlinkten Wikipedia-Beitrag über Duchamp von der "Geburtsstunde" der Konzeptkunst die rede ist, gibt es ja doch immer mal Künstler und Werke, die etwas in gewisser (aber nicht beliebiger) Weise "Neues" markieren, auch wenn sie alle aus dem Vorhandenen schöpfen. "Neu" war bei Crumb (und anderen frühen 'Underground'-Zeichnern) ja verschiedenes: Nicht nur die Inhalte, sagen wir: politisch, sexuell, subversiv, subjektiv, sondern auch Produktion (Zeichner nicht mehr anonymer Teil einer industriellen Serienproduktion - sondern ein Selbstverständnis als Autor und eben auch Künstler), Vertrieb, schließlich auch die Adressierung an ein erwachsenes, eher intellektuelles Publikum. Der Witz an der Sache: All diese frühen Undergroundler, deren Sachen als so radikal neu empfunden wurden, waren echte Kenner und hatten oft schon als Kinder und Jugendliche in kopierten "Fanzines" nicht nur eigene Comics veröffentlicht, sondern sich auch ausgiebig gegenseitig informiert und weitergebildet - z.B. darüber, wer der "gute Zeichner" bei Disney ist (der damals noch anonyme Carl Barks) usw. usw.; ich fürchte, lieber Herr Stubenzweig, wir sind uns schon wieder einig.


jean stubenzweig   (16.03.10, 14:03)   (link)  
Diese Befürchtung
teile ich, durchaus auf angenehme Weise. Das Schöne, den Begriff jetzt nicht unbedingt im Sinn von formalem Glanz verwendend, sondern, das ist ja das Schöne daran, durchaus in dem seiner Neubewertung nach Baumgarten, demzufolge später dann auch etwas (sogenannt) Häßliches als schön empfunden werden durfte, der Comic zum Beispiel, das Schöne also ist, daß aus dieser Einigkeit dann doch wieder so eine Art Neues entstehen kann. Sie beispielsweise haben dazu beigetragen, bei Crumb und all den anderen schließlich doch etwas genauer hinzuschauen. Zwar war mir seit langer Zeit bekannt, welchen Stellenwert diese Art Zeichnung in Frankreich hat, dennoch wäre es mir früher nie in den Sinn gekommen, mich ins Café oder an die Kaimauer zu setzen und in einem eigens dafür gekauften Comic – Asterix und Titeuf waren die berühmten Regeln von der Ausnahme – zu blättern und darin auch noch zu lesen. Sicher werde ich jetzt nicht zum Fan, aber ich bin ohnehin kein Fan von irgendwas, aber ich habe verstanden, welche Geschichten damit transporiert werden können. Das ist eben eine Sprache, der ich mich früher verweigert habe, deren Klänge ich mittlerweile ein wenig besser wahr- und auch aufzunehmen glaube. Alter hat wahrhaftig auch sein Gutes.

Die Kunst, die habe ich auch nur hergenommen, weil mir nichts anderes einfällt. Aber das Prinzip unseres Einigseins ist schließlich allüberall anwendbar. In Chemie und Physik vielleicht nicht, aber davon verstehe ich noch weniger.















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